Wie schon in «Töchter Haitis» besticht Vieux-Chauvets Erzählkunst durch die lebensnahe Figurenzeichnung. Zudem ist «Tanz auf dem Vulkan» eine historische Tiefenlotung, die uns Geschichte und Gegenwart des Karibikstaates erschließt.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Marie Vieux-Chauvets Haiti-Roman "Der Tanz auf dem Vulkan" räumt mit postkolonialen Lebenslügen auf
"Ach, immer dieses moralische Geschwätz. Die Sklavinnen schlafen mit ihrem Herrn, wer auch immer er sein mag, und wir zahlen den Preis dafür." Der Sklavenhalter Jean-Baptiste Lapointe hasst Weiße und Schwarze gleichermaßen: Die einen verachten und die anderen erniedrigen ihn, weil er, Sohn einer "ungebildeten, abergläubischen Afrikanerin und eines degenerierten Mulatten", einen hellbraunen Teint hat. In Marie Vieux-Chauvets Roman "Der Tanz auf dem Vulkan" (kurz nach ihrem "Töchter Haitis", F.A.Z. vom 3. Dezember 2022, wieder bei Manesse erschienen) repräsentiert Lapointe die Kaste der "affranchis". Es sind Abkömmlinge freigelassener Sklaven, die sich dank europäischer Bildung und ethnisch segregierter Gesellschaftsordnung selbst vortrefflich im kolonialen System von Ausbeutung, Unterdrückung und Rassismus einrichteten. Als die Wogen der Französischen Revolution an den Küsten der damals reichsten französischen Kolonie, Saint Domingue (heute Haiti), anbrandeten, ging unter weißen Kolonisten und schwarzen "affranchis" die Angst um, wer welche Privilegien in die neue "Gleichheit" hinüberretten kann. Revolution, Sklavenaufstand und fünfzehnjähriger Bürgerkrieg führten zwar zur Abolition und 1804 zur Unabhängigkeit, änderten aber (bis heute) nichts an der tiefen ethnischen Spaltung des Landes.
Die Ironie der Geschichte will, dass Marie Vieux-Chauvet, 1916 als Tochter der Bourgeoise in Port-au-Prince geboren, ihren radikal-kritischen Roman 1957 veröffentlichte, dem Jahr des Machtantritts des schwarzen Diktators François Duvalier. Duvalier ließ im Namen seiner rassistischen Ideologie des "noirisme" Tausende "Mulatten" massakrieren, die ihm mit ihrem helleren Teint und ihren historisch gewachsenen Privilegien als "rassisches Grundübel" Haitis galten. Niemand hatte vor Vieux-Chauvet gewagt, Haitis Sklavenrevolution literarisch nachzuerzählen; die historische Verwobenheit sozialer Abhängigkeiten, rassistischer Machtstrukturen und wechselnder Allianzen galt als politischer und gesellschaftlicher Sprengstoff. Vieux-Chauvets jetzt unter weitgehender Beibehaltung der einst gängigen Bezeichnungen und ausgestattet mit einem kenntnisreichen Kommentarapparat vorbildhaft ins Deutsche übertragene Roman wurde zur Blaupause kritischer zeitgenössischer Literatur aus Haiti.
"Der Tanz auf dem Vulkan" erzählt die Vorgeschichte der ersten "schwarzen Republik" der Weltgeschichte am Schicksal der Schwestern Minette und Lise. Ihre Mutter Jasmine versucht, um nicht wie viele andere freie Sklavinnen betteln oder sich prostituieren zu müssen, das Familienauskommen mit einem Straßenverkaufsstand zu sichern. Der "Code Noir", der ihrer Familie dieselben Rechte wie allen freien Franzosen zubilligen soll, ist das Papier nicht wert, auf dem er ein Jahrhundert zuvor gedruckt wurde. Wegen ihres bezaubernden Gesangs gelten Jasmins Töchter immerhin als die "kleinen Nachtigallen". Madame Acquaire, eine weiße Schauspielerin in Geldnöten, hat einen ebenso verwegenen wie beiderseits einträglichen Vorschlag: Sie macht die Mädchen als erste schwarze Sängerinnen zur Attraktion des Schauspielhauses von Port-au-Prince und rettet so das Ensemble vor dem endgültigen Aus. Minette und Madame Acquaire hat es so wie alle tragenden Figuren dieses Romans tatsächlich gegeben. Marie Vieux-Chauvet inszeniert aus dieser realhistorischen Konstellation ein sinnliches und analytisch dicht gewebtes Panorama einer heuchlerischen Kolonialgesellschaft vor der Eruption.
Minette sorgt zwar für volle Theaterränge, erhält aber weder Gage noch Vertrag und entwickelt so ein Bewusstsein für ihre eigene Position als Schwarze und als Frau. Im komplexen Gefüge der Ethnien und sozialen Schichten dient der Frauenkörper als Verfügungsmasse gegenseitiger Abhängigkeiten. Die gärenden Spannungen und opportunistischen Allianzen zwischen freien Sklaven, Kolonisten, landlosen Weißen, privilegierten "Mulatten", schwarzen Frauen und weißen Männern bildet Vieux-Chauvet in plastischen Gesellschaftsszenen ab. An feinsten Nuancen in Kleidung, Sprache und Umgang beschreibt sie die widersprüchlichen Abläufe bis zu den furchtbaren Gewaltexzessen der Sklavenrebellion 1791.
Die Protagonistin kämpft in dieser Revolution aller gegen alle so wie auch der schwarze Sklavenhalter Jean-Baptiste Lapointe für den Umsturz, wenn auch aus gegenläufiger Motivation. Marie Vieux-Chauvet unterläuft durch ihre differenzierte Schilderung der Figuren und ihrer jeweiligen Lebens- und Gedankenwelten beständig eindimensionale Erwartungshaltungen. Ihr Roman ist deswegen heute ebenso brillant und auch provokant wie bei seinem Erscheinen unter Haitis schwarzem Diktator "Papa Doc". CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Marie Vieux-Chauvet:
"Der Tanz auf dem
Vulkan". Roman.
Aus dem Französischen von Nathalie Lemmens, Nachwort von Kaiama L. Glover. Manesse Verlag, München 2023. 486 S., geb., 28,- Euro.
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