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Im Roman "Der Tanzende" erzählt Victor Jestin die Geschichte eines Mannes, der die Liebe in der Disco sucht
Jeder kennt ihn, jedes Nachtlokal hat ihn - ja, meist ist es ein Mann, der immer da ist. Er ist allein, nimmt den Stammplatz an der Theke ein oder zieht auf der Tanzfläche seine Kreise. Denen, die häufiger herkommen, fällt er gar nicht mehr auf. Man hat sich an ihn gewöhnt wie an die klebrige Theke oder die dreckige Toilette. Niemand kann sich vorstellen, was er tagsüber treibt. Er existiert nur im Kosmos des Lokals, nur in der Nacht, nur für die Nacht.
Solch ein Mann ist Arthur. Im Roman "Der Tanzende" des französischen Autors Victor Jestin erzählt Arthur seine Geschichte. Nachdem er zunächst Probleme mit dem Tanzen gehabt hat, wird ihm der Discobesuch nicht nur zur Routine, sondern zur Lebensaufgabe. Als Tanzender berichtet er über ein Leben voller Einsamkeit, über die Probleme eines Außenseiters und über die Suche nach Zärtlichkeit.
Als Kind gehört Arthur zu jener Sorte Schüler, die im Sportunterricht als letzte gewählt werden. Er ist schmächtig, zurückhaltend und zögerlich, einer, der nur zu Kindergeburtstagen eingeladen wird, wenn andere absagen. So auch 1990, im Alter von zehn Jahren, als ein Mitschüler im Lokal seines Onkels Geburtstag feiert: Das "La Plage" ist die einzige Disco seiner namenlosen Heimatkleinstadt an der Loire. Das Problem: Arthur tanzt nicht. "Niemand hatte es mir gezeigt. Mir fehlte der Impuls, um anzufangen."
Auch sein nächster Versuch mit achtzehn scheitert. Arthur, immer noch "eine Option, ein Anhängsel", fragt sich: "Wie tanzt man los, wie macht man die erste Bewegung?" Seine Freunde wollen im "La Plage" Frauen "aufreißen", Arthur hat kein Interesse an Körperlichkeit.
Ihm fehlt "etwas, um in einem Raum wahrgenommen zu werden", weshalb er mit Krafttraining beginnt. Mit den Muskeln wächst auch das Selbstvertrauen: "Ich hatte das Gefühl, die Dinge hier anders angehen, mich neu erfinden zu können, stärker und gelassener zu sein, mein langweiliges Ich wie eine abgestorbene Haut abwerfen zu können." Im "La Plage" funktioniert "alles ohne Worte, Vertraulichkeiten, Humor oder Intelligenz", sondern mit Aussehen und Bewegung: "Es war ein Feld, das man beackerte, ein Jagdrevier, eine Angelstelle, ein Markt ohne Regeln und Mitleid. Niemand schmort aus reiner Lust am Tanzen fünf Stunden lang im eigenen Saft. Man kommt her, um jemanden mit nach Hause zu nehmen."
Arthur leidet darunter, mit Anfang zwanzig noch keine Frau geküsst, geschweige denn mit einer geschlafen zu haben. Er denkt, wenn er an Muskeln zulegt und tanzen kann, regelte sich das von selbst. Deshalb belegt er einen Tanzkurs und geht jedes Wochenende aus, bald sogar jeden Tag. Mit einer Teilnehmerin, ebenfalls vom Typ Außenseiter, hat er "aus Mangel an Alternativen" erstmals Sex.
Es folgen weitere One-Night-Stands, aber der Wunsch nach einer Beziehung bleibt: "Jemand im Arm zu halten, war alles, was ich wollte." Er überlegt, dass er sich im Ort irren könne, kommt aber zu dem Ergebnis: "Wie sollte man, ohne zu tanzen, in Kontakt treten, wie abseits der Tanzfläche die Glut entfachen?" Der Leser weiß nicht, ob er Mitleid mit der sozialen Unbeholfenheit Arthurs empfinden soll, dieses armen Außenseiters, für den die Welt zu schnell und zu brutal ist; oder Abscheu gegenüber seinem Stumpfsinn und seiner Trägheit.
Als das "La Plage" für drei Wochen schließt, installiert er sich Tinder. Über die Dating-App lernt er seine erste Partnerin kennen. Dass Arthur die Nächte in einer Disco verbringt, findet diese "mal was anderes". Zur Wiedereröffnung des "La Plage" trennt sie sich von ihm. Sie merkt, dass die Nächte in der Disco Arthur komplett ausfüllen, und das reicht ihr nicht. An dieser Stelle möchte man ihn schütteln und anschreien: "Du hattest doch alles, was du wolltest! Wieso entscheidest du dich für die Disco?", wäre er nicht so unsympathisch.
Der Erzähler zieht sich mehr und mehr aus dem Tag in die Nacht zurück, kündigt seinen Job und lebt nur noch für das "La Plage". Arthur verwahrlost und mit ihm seine Wohnung und sein Sozialleben. "Das Draußen hat drinnen keinen Platz", die Disco als Versteck vor der Welt, vor dem eigenen Leben. Aber als er sich bei einer Studentenparty wie ein Fremdkörper im eigenen Kosmos fühlt und der Discobesitzer ihm vom Klubsterben erzählt, merkt auch Arthur: Nichts ist von Dauer.
Jestin erzählt seinen Roman mittels vieler Metaphern, von denen manche gelungen, manche auch erzwungen wirken, wie das Fitnessstudio als Mikrowelle. Arthur macht den Eindruck, der jugendlichen Naivität und der Phase der Kleinstadtdiscobesuche nicht entwachsen zu sein. Er steckt als Zehnjähriger fest und kann nicht tanzen, lernt es und steckt fortan im Tanzen fest. Ein Leben in Endlosschleife. Die Frage, was einen nach außen hyperheterosexuell wirkenden, nach innen aber zerbrechlichen, naiven und fast kindlichen Disco-Pumper antreibt, wird hier beantwortet: nicht viel. Und das stimmt genauso wütend wie ratlos. JULIA BAUMANN
Victor Jestin: "Der Tanzende". Roman.
Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Verlag Kein & Aber, Zürich 2023. 224 S., geb., 23,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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