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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tonio Hölscher über den Taucher von Paestum
Jeder, der schon einmal aus größerer Höhe ins Becken gesprungen ist, kennt das Gefühl: wie es ist, mutterseelenallein auf dem Brett zu stehen, dann den Boden unter den Füßen zu verlieren, sekundenlang den freien Fall zu spüren und schließlich ins Wasser zu tauchen. Den Moment des Sprungs hat ein namenloser Künstler im antiken Poseidonia, dem römischen Paestum in Kampanien, für die Ewigkeit festgehalten. Das Bild aus der Tomba del Tuffatore, das auf Deutsch etwas unpräzise "Der Taucher" heißt und vor gut fünfzig Jahren in Paestum gefunden wurde, ist nicht nur einer der Glanzpunkte des dortigen Museums, sondern auch der antiken Malerei überhaupt.
Tonio Hölscher hat dem bekanntesten Turmspringer der Antike ein kleines Büchlein gewidmet. Der Klassische Archäologe aus Heidelberg hat uns nicht nur das visuelle Erbe des griechisch-römischen Altertums mit völlig neuen Augen sehen gelehrt, er hat auch den Begriff von der antiken "Kunst" gleichsam vom Kopf auf die Füße gestellt und einer Gegenwart, der das autonome Kunstwerk zum vermeintlich selbstverständlichen Inventar der Moderne geworden ist, die Erdung von Bildern in sozialen Räumen, sozialen Situationen und sozialem Handeln vor Augen geführt, wie sie für Griechen und Römer selbstverständlich war.
Jetzt wendet sich Hölscher einem einzigen Bild aus der griechischen Frühklassik zu und zeigt daran, was Kunst den Menschen vor 2500 Jahren bedeutete und wie fremd uns heute ihr Bezug zu Bildern vorkommt. Doch macht er hier nicht halt: Der Archäologe entführt uns in eine ferne Welt, in der, wie er formuliert, "sinnerfüllte Diesseitigkeit" herrscht. Fremd ist den Heutigen nicht die Diesseitigkeit, wohl aber der Sinn.
Mit dem Sinn des Bildes vom Eintauchenden beginnt auch Hölscher seine Wanderung. Was will uns das Bild sagen? Haben wir einen begeisterten Wassersportler vor uns, der mit kühnem Sprung seinen Mut beweist? Oder ist das Bild eine Metapher für die größte aller Transitionen: den Sprung vom Leben ins Schattenreich des Todes? Die meisten Forscher plädieren für eine allegorische Deutung des Bildes. Nicht so Hölscher: Für ihn repräsentiert der Taucher im Grab das pralle Leben.
Um dieser Interpretation Plausibilität zu geben, nimmt uns das Buch mit auf eine Reise durch die frühe Mittelmeerwelt: zu Bildern, die Heranwachsende, Epheben, am und im Wasser zeigen und die deutlich machen, dass der Taucher nicht so einzigartig dasteht, wie man denken möchte. Hölscher führt uns an Orte wie die Felsen von Kalami auf der Insel Thasos, an denen junge Männer - und vielleicht auch junge Frauen - sich dem Genuss des Wassers hingaben. Wir besuchen die Wildnis am Rand der Zivilisation, die für Heranwachsende ein Bewährungsraum war, in dem sie ihre keimende Männlichkeit unter Beweis stellen konnten: So wie Theseus, der sich vom Schiff in die Fluten stürzt, um aus Poseidons Unterwasserpalast den Beweis göttlicher Abstammung emporzubringen. Wildnis und damit eine Herausforderung für Helden ist also auch das Meer.
Deshalb deutet auch Hölscher das Bild von Paestum als eine Darstellung von Initiation, aber nicht in den Tod, sondern in das Leben als erwachsener Mann. Die Angehörigen des jungen Mannes, der sicher der lokalen Oberschicht angehörte, gaben ihrem Toten den Blick auf die Mutprobe seines Lebens mit auf seine letzte Reise. Die aristokratische Lebenswelt repräsentiert das Symposion, das auf den Seiten dargestellt war. Die Bilder waren nur für ihn bestimmt. Nach der Bestattung schloss sich das Grab, kein Lebender sah vor 1968, dem Jahr seiner Entdeckung, je wieder das Bild vom Taucher.
Hölscher erweist sich in der Welt des Tauchers als fesselnder Cicerone. Aber man soll sich nicht täuschen lassen. Er mutet den von ihm Geführten intellektuell einiges zu. Wer sich auf manche Abstraktion und Hölschers stete Lust am scharfsinnigen Deuten einlässt, wird mit einzigartiger Aussicht auf die nur scheinbar vertraute Antike belohnt: Das Bild des Tauchers entpuppt sich als Fenster in die soziale Wirklichkeit junger griechischer Aristokraten, in, wie Hölscher es nennt, "eine glanzvoll schöne Lebenskultur". Bar jeder Oberflächlichkeit habe diese Kultur Tiefe aus dem Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit empfangen.
Als Sohn des Philologen Uvo Hölscher buchstabiert Tonio Hölscher mit diesem grandiosen Buch eine schon klassische Sentenz seines Vaters aus. Die Diesseitigkeit des Tauchers erscheint uns auf frappierende Weise gegenwärtig, aber sein Sinn ist Generationen von Forschern einfach entglitten. Die Antike ist eben, wenn überhaupt, "das nächste Fremde". MICHAEL SOMMER
Tonio Hölscher: "Der Taucher von Paestum". Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 160 S., geb., 25,- Euro.
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