J. M. Coetzee unternimmt in seiner »Jesus-Trilogie« eine Reise an das Ende erzählerischer Gewissheiten. Seine Figuren sind ans Land gespülte Menschen. Sie alle sind auf der Suche nach einer Bedeutung, die über sie hinausreicht, sie mit etwas verknüpft, das ihrem Leben »Sinn« verleiht, so fragil er auch sei. »Der Tod Jesu« hat unvergleichliche Sogkraft: David, das Kind, wendet sich von der improvisierten Familie ab, die Simon ihm geschaffen hat. Er will ins Waisenhaus, vor allem will er dort in das Fußballteam. Aber es geht nicht lange gut und David liegt im Spital, in das Kinder und Erwachsene pilgern, um seine Geschichten zu hören. Mit jeder Geschichte, die er erzählt, zieht er sich langsam aus dem Leben zurück. Mit einem Stil, so »scharfsichtig, unsentimental und gnadenlos präzise« (Deutschlandfunk), untersucht der Nobelpreisträger den Abglanz einer Hoffnung, das sanfte Leuchten einer verlorenen Illusion. Die ersten beiden Bände der Trilogie »Die Kindheit Jesu« (2013) und »Die Schulzeit Jesu« (2018) sind ebenfalls bei S. FISCHER erschienen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.02.2020Das eigensinnige Kind
Mit seinem Roman „Der Tod Jesu“ beendet der Literaturnobelpreisträger John M. Coetzee
die Trilogie, in der er dem Neuen Testament seinen Helden entführt
VON NICOLAS FREUND
Im vergangenen September schrieb J. M. Coetzee in The New York Review of Books einen Artikel über ein Buch des Iraners Behrouz Boochani. Boochani wurde in Iran wegen seines Einsatzes für die Unabhängigkeit der Kurden politisch verfolgt, 2013 versuchte er, auf dem Seeweg nach Australien zu fliehen. Er wurde aufgegriffen und, wie es zu diesem Zeitpunkt üblich war, in ein Auffanglager für Flüchtlinge auf der Insel Manus gebracht, 650 Meilen vom australischen Festland entfernt.
Kein Flüchtling sollte über den Seeweg Australien erreichen können, so die damalige politische Prämisse. Die Lager wurden 2016 für illegal erklärt und geschlossen. Viele Flüchtlinge, darunter auch Boochani, sitzen bis heute auf der Insel fest. Das neue Leben, das sie gesucht haben, wurde ihnen verwehrt. Die Flüchtenden gelten nicht als Schutzsuchende, sondern als Wirtschaftsflüchtlinge. „Als seien die Flucht vor Verfolgung und die Suche nach einem besseren Leben einander ausschließende Motive“, schreibt Coetzee.
Der in Südafrika geborene J. M. Coetzee ist seit 2006 australischer Staatsbürger. Seine jüngsten Romane – die von 2013 an, teilweise zuerst auf Spanisch erschienene Jesu-Trilogie – lassen sich leicht als literarischer Kommentar auf die globale Flüchtlingskrise lesen. Es geht in ihnen um den Neuanfang in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, ohne jegliche Verbindungen zu dem, was vorher war. Die Romane sind aber zugleich so stark stilisiert, zeit- und raumlos, dass sie sich gerade nicht auf eine solche Eindeutigkeit reduzieren ließen. Sie sind ein großes Rätsel, und manchmal wurde ihnen die formale Strenge vorgeworfen, mit denen philosophische, theologische und gesellschaftliche Diskurse aufgegriffen, gedreht, gewendet und gegeneinander ausgespielt werden.
Im Zentrum dieser Romane steht der Junge David – nicht nur als Hauptfigur der Erzählung, sondern auch als das größte der vielen Rätsel, die in diesen Texten gestellt werden. David ist in dem dritten und abschließenden Teil, „Der Tod Jesu“, inzwischen zehn Jahre alt und verbringt seine Zeit am liebsten mit Fußballspielen oder damit, immer und immer wieder eine Kinderversion des Romanklassikers „Don Quixote“ zu lesen. Die Abenteuer des Ritters von der traurigen Gestalt, wie er oft genannt wird, nimmt er sehr ernst und erzählt sie gerne anderen Kindern nach, wenn auch in seinen eigenen Fassungen, die manchmal mitten in der Geschichte abbrechen. David ist ein sehr eigensinniges und schwieriges Kind. Er besucht noch immer die Tanzakademie, in die er im zweiten Teil, „Die Schulzeit Jesu“, aufgenommen wurde, da sie für den oft in Rätseln sprechenden und sich den meisten formalen Bildungsanforderungen verweigernden Jungen die einzig angemessene Ausbildung zu sein schien.
Wie seine Adoptiveltern Inés und Simón kam David mit einem Schiff über das Meer in dieses Land, in dem die Menschen Spanisch sprechen, und es gehört zu den vielen, manchmal offensichtlichen, manchmal versteckten Eigentümlichkeiten dieser Romantrilogie, dass alle, die den Weg über das Meer in diese neue Welt angetreten haben, keine Erinnerungen mehr an ihr vorangegangenes Leben haben.
Einmal erinnert sich David an einen auch im englischen Original deutschsprachigen Liedtext aus den „Kindertotenliedern“ Gustav Mahlers, und dieses rätselhafte Zitat steht so da wie viele andere Unauflösbarkeiten, die der Roman anführt, die er aber nicht zu beantworten bereit ist. Ist diese neue Welt der Romane, die so ohne Vergangenheit und Zukunft zu sein scheint, auch eine Art Totenreich, eine Vorhölle, ein Nachleben? Wird nicht auf eine gewisse Art wiedergeboren, wer sich mit einem Schiff über das Meer wagt, um in einem neuen Land ein neues Leben zu beginnen, erklären manche der Figuren. Aber ist das nicht schon eine zu allegorische und damit einschränkende Lesart? Auch wenn der Text sie selbst vorschlägt?
Man merkt als Leser, dass es so einfach nicht sein kann. Diese neuen Existenzen stehen losgelöst und doch zugleich immer in Bezug zu diesem vergangenen Leben, das natürlich auch in seiner völligen Abwesenheit nicht aufhört zu wirken. Dieser scheinbare Widerspruch ist unauflösbar, und es ist die große Kunst dieser Romantrilogie, wie sie den Leser immer wieder in solche Widersprüche verstrickt, ohne dabei aber zu frustrieren, sondern immer zu einem Perspektivwechsel, zu einem Überdenken dessen zu bringen, was für gegeben angenommen wird.
Dieses neue Leben verhält sich zu dem alten etwa so, wie die drei Romantexte zu ihren Titeln, die alleine die biblische Referenz aufrufen, die sonst keine direkte Erwähnung findet und nur indirekt zitiert wird, durch Motive wie das geopferte Lamm, die Wiedergeburt oder die heilige Familie. Das Kind, das praktisch unbefleckt zu seinen Eltern gekommen ist. David, Inés und Simón sind Jesus, Maria und Josef und sie sind es zugleich auch nicht. Man könnte sie so sehen, man sollte sie aber nicht darauf reduzieren. „Du willst, dass ich bin, wer ich deiner Meinung nach bin. Du willst nicht, dass ich bin, wer ich meiner Meinung nach bin“, sagt David einmal zu Simón. Das ist eine der Kernthesen dieser Romantrilogie.
Dem biblischen Jesus der Evangelien wird in Coetzees Erzählung mit dem jungen David nicht nur eine gegenwärtige Spiegelfigur zur Seite gestellt, er wird auch überhaupt mit einer Erzählung seiner Jugend ausgestattet, die sich sonst nur in apokryphen Texten finden lässt. Dieser Heilige Coetzees, der im letzten Band nun seine Apotheose erfahren wird, ersetzt aber nicht nur die fehlende Jugend des biblischen Jesu, sondern auch dessen Person, die sich aus den Überlieferungen der Evangelien nur erahnen lässt. Denn Jesu selbst ist schon nur als eine Reihe sich teilweise widersprechender Erzählungen überliefert. Er ist die Summe dessen, was über ihn geschrieben wurde. Von Jesus selbst ist nichts überliefert.
Coetzee geht es in seinem Jesus-Projekt auch darum, den Status von Erzählungen, selbst wenn sie so mächtig sind wie die Evangelien, infrage zu stellen. Eine seiner narrativen Maßnahmen ist die leicht modernistische und kolonialistische, ansonsten aber glatte Welt dieser Trilogie. Diese Welt, die so karg erscheint wie die Prosa, in der von ihr berichtet wird, ist gerade das, was sich so schwer fassen lässt, ohne es gleich einer Interpretation, einer bestimmten Deutung zu unterwerfen. Sie ist das reine Leben in aller Schönheit und auch Gewöhnlichkeit, ohne alles Bemerkenswerte.
Zur dieser neuen Welt gehört es, dass es keine Gewissheiten gibt, auch wenn sie ständig versuchen, sich zu manifestieren, sich anbieten und den Text in die eine oder die andere Richtung biegen. In vielfachen Variationen zeichnet der Text diese Gravitationskräfte der Identität, der Einordnung, des Sinnstiftens nach. Wie schon in der ersten Szene, in der Kinder, unter ihnen David, auf der Wiese hinter ihrem Wohnblock Fußball spielen. „Bei diesen Spielen unter der Woche gibt es keine richtigen Mannschaften. Die Jungen teilen sich auf, wie es gerade kommt, steigen ein, steigen aus. Manchmal sind dreißig auf dem Rasen, manchmal nur ein halbes Dutzend.“ Das Spiel funktioniert trotzdem, eben nach seinen eigenen, sich natürlich entwickelnden Regeln, nicht nach denen aus einem Buch oder gar denen der Fifa.
Bald taucht aber ein Mann auf, der für die Ordnung der Verhältnisse steht. Er leitet ein Waisenhaus und möchte aus den Kindern eine ordentliche Mannschaft bilden, die im Wettkampf gegen die Kinder aus seinem Heim antreten soll. Dem freien Spiel soll eine Ordnung, ein Sinn übergestülpt werden. David gefällt diese neue Ordnung zunächst, obwohl er sonst ein ganz eigenes Verhältnis zu allem hat, das mit Zahlen zu tun hat. Er tanzt die Zahlen und sieht sie in den Sternen. „Dunkle Sterne sind Sterne, die keine Zahlen sind. Die Sterne, die Zahlen sind, leuchten. Die dunklen Sterne möchten Zahlen sein, können es aber nicht. Sie kriechen wie Ameisen über den ganzen Himmel, aber man kann sie nicht sehen, weil sie dunkel sind“, erklärt er Simón und Inés einmal. Was meint er damit? Dass Zahlen, wie sie von seinen Lehrern verstanden werden, nur einen Bruchteil des Himmels erfassen können?
Natürlich gibt es verschiedene Lesarten der Sterne. Aber warum müssen sie einander ausschließen, wie die Motive der Flüchtenden in den Augen der australischen Politiker? Aber auch das wäre wieder nur eine mögliche Lesart. Die neue Welt, in der die kleine Familie lebt, versucht ständig, alles und jeden in Zahlen zu bannen. Die verschiedenen Zahlen- und Weltdeutungssysteme sind nicht immer miteinander vereinbar. Sie funktionieren jedes für sich auf seine eigene Art und erheben aber jedes einen universellen Anspruch. Und sind sie nicht am Ende alle Konstrukte, limitierte Vorstellungen der jeweils selben Sache? Wie ein Fußballspiel zu sein hat? Oder ein Mensch? Oder ein Roman?
Der Tanz ist für den jungen David eine so wichtige Ausdrucksform, weil er, wie die Musik, von allen Künsten am wenigsten bedeuten muss, am wenigsten repräsentiert. Musik und Tanz können nachahmen, sie müssen aber nicht. Sie können eine rein ästhetische Erfahrung sein, frei von Deutung, Einordnungen und Interpretationen. Coetzee, der am 9. Februar 80 Jahre alt wird, hat mit „Der Tod Jesu“ nicht nur seinen womöglich, aber hoffentlich nicht letzten Roman geschrieben, sondern mit ihm auch ein zentrales Thema seiner Arbeit als Schriftsteller radikalisiert, das sich schon in seinen ersten Romanen fand: Die Allegorie, eigentlich auch ein Verfahren aus der Bibelauslegung, als literarische Technik anzuwenden und sie gleichzeitig zu problematisieren.
Auch der Frauenmörder Dmitri aus dem zweiten Band taucht in dem neuen Roman wieder auf. Eine Gestalt, die den zerrissenen Figuren Dostojewskis ähnelt, über den Coetzee auch schon einen Roman geschrieben hat. Dmitri stellt immer wieder seine ganz eigenen Interpretationen der Ereignisse dar, und ausgerechnet er wird es am Ende sein, der maßgeblich dazu beiträgt, dass David, wie dem titelgebenden Jesus, nach seinem Tod, ob er will oder nicht, ein Heiligenstatus aufgezwungen wird.
Am Ende findet Simón Davids Ausgabe von „Don Quixote“, in der die jungen Leser aufgefordert werden, ihre Meinung über das Buch abzugeben. Zwei sind dem bisher nachgekommen. „Keiner der Kommentare ist in Davids Handschrift. Wie schade. Nun wird man nie wissen, was die Botschaft des Buches in Davids Augen gewesen ist oder an was daraus er sich am meisten erinnerte.“ Wenn die Ansichten zweier Kinder über einen Gegenstand nebeneinander Platz haben, warum dann nicht auch andere Ansichten zu anderen Themen? Zu Romanen oder Menschen und ihren Motiven. Davids Botschaft ist gerade, dass er keine eindeutige Botschaft hinterlassen hat. Aber es wird andere geben, die von seinem Leben und seinen Taten berichten werden.
J. M. Coetzee: Der Tod Jesu. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 224 Seiten, 24 Euro.
„Du willst nicht, dass ich bin, wer
ich meiner Meinung nach bin“,
sagt David einmal zu Simón
Wie dem titelgebenden Jesus
wird David am Ende ein
Heiligenstatus aufgezwungen
„Über das Meer“ kommen in Coetzees Roman die Figuren, wie die Flüchtlinge der Gegenwart. Gewissheiten über sie gibt es nicht.
Foto: AP
J. M. Coetzee, 1940 in Kapstadt geboren, lebt seit 2002 in Adelaide und wurde 2006 australischer Staatsbürger. 2003 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Foto: VIA BLOOMBERG NEWS
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Mit seinem Roman „Der Tod Jesu“ beendet der Literaturnobelpreisträger John M. Coetzee
die Trilogie, in der er dem Neuen Testament seinen Helden entführt
VON NICOLAS FREUND
Im vergangenen September schrieb J. M. Coetzee in The New York Review of Books einen Artikel über ein Buch des Iraners Behrouz Boochani. Boochani wurde in Iran wegen seines Einsatzes für die Unabhängigkeit der Kurden politisch verfolgt, 2013 versuchte er, auf dem Seeweg nach Australien zu fliehen. Er wurde aufgegriffen und, wie es zu diesem Zeitpunkt üblich war, in ein Auffanglager für Flüchtlinge auf der Insel Manus gebracht, 650 Meilen vom australischen Festland entfernt.
Kein Flüchtling sollte über den Seeweg Australien erreichen können, so die damalige politische Prämisse. Die Lager wurden 2016 für illegal erklärt und geschlossen. Viele Flüchtlinge, darunter auch Boochani, sitzen bis heute auf der Insel fest. Das neue Leben, das sie gesucht haben, wurde ihnen verwehrt. Die Flüchtenden gelten nicht als Schutzsuchende, sondern als Wirtschaftsflüchtlinge. „Als seien die Flucht vor Verfolgung und die Suche nach einem besseren Leben einander ausschließende Motive“, schreibt Coetzee.
Der in Südafrika geborene J. M. Coetzee ist seit 2006 australischer Staatsbürger. Seine jüngsten Romane – die von 2013 an, teilweise zuerst auf Spanisch erschienene Jesu-Trilogie – lassen sich leicht als literarischer Kommentar auf die globale Flüchtlingskrise lesen. Es geht in ihnen um den Neuanfang in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, ohne jegliche Verbindungen zu dem, was vorher war. Die Romane sind aber zugleich so stark stilisiert, zeit- und raumlos, dass sie sich gerade nicht auf eine solche Eindeutigkeit reduzieren ließen. Sie sind ein großes Rätsel, und manchmal wurde ihnen die formale Strenge vorgeworfen, mit denen philosophische, theologische und gesellschaftliche Diskurse aufgegriffen, gedreht, gewendet und gegeneinander ausgespielt werden.
Im Zentrum dieser Romane steht der Junge David – nicht nur als Hauptfigur der Erzählung, sondern auch als das größte der vielen Rätsel, die in diesen Texten gestellt werden. David ist in dem dritten und abschließenden Teil, „Der Tod Jesu“, inzwischen zehn Jahre alt und verbringt seine Zeit am liebsten mit Fußballspielen oder damit, immer und immer wieder eine Kinderversion des Romanklassikers „Don Quixote“ zu lesen. Die Abenteuer des Ritters von der traurigen Gestalt, wie er oft genannt wird, nimmt er sehr ernst und erzählt sie gerne anderen Kindern nach, wenn auch in seinen eigenen Fassungen, die manchmal mitten in der Geschichte abbrechen. David ist ein sehr eigensinniges und schwieriges Kind. Er besucht noch immer die Tanzakademie, in die er im zweiten Teil, „Die Schulzeit Jesu“, aufgenommen wurde, da sie für den oft in Rätseln sprechenden und sich den meisten formalen Bildungsanforderungen verweigernden Jungen die einzig angemessene Ausbildung zu sein schien.
Wie seine Adoptiveltern Inés und Simón kam David mit einem Schiff über das Meer in dieses Land, in dem die Menschen Spanisch sprechen, und es gehört zu den vielen, manchmal offensichtlichen, manchmal versteckten Eigentümlichkeiten dieser Romantrilogie, dass alle, die den Weg über das Meer in diese neue Welt angetreten haben, keine Erinnerungen mehr an ihr vorangegangenes Leben haben.
Einmal erinnert sich David an einen auch im englischen Original deutschsprachigen Liedtext aus den „Kindertotenliedern“ Gustav Mahlers, und dieses rätselhafte Zitat steht so da wie viele andere Unauflösbarkeiten, die der Roman anführt, die er aber nicht zu beantworten bereit ist. Ist diese neue Welt der Romane, die so ohne Vergangenheit und Zukunft zu sein scheint, auch eine Art Totenreich, eine Vorhölle, ein Nachleben? Wird nicht auf eine gewisse Art wiedergeboren, wer sich mit einem Schiff über das Meer wagt, um in einem neuen Land ein neues Leben zu beginnen, erklären manche der Figuren. Aber ist das nicht schon eine zu allegorische und damit einschränkende Lesart? Auch wenn der Text sie selbst vorschlägt?
Man merkt als Leser, dass es so einfach nicht sein kann. Diese neuen Existenzen stehen losgelöst und doch zugleich immer in Bezug zu diesem vergangenen Leben, das natürlich auch in seiner völligen Abwesenheit nicht aufhört zu wirken. Dieser scheinbare Widerspruch ist unauflösbar, und es ist die große Kunst dieser Romantrilogie, wie sie den Leser immer wieder in solche Widersprüche verstrickt, ohne dabei aber zu frustrieren, sondern immer zu einem Perspektivwechsel, zu einem Überdenken dessen zu bringen, was für gegeben angenommen wird.
Dieses neue Leben verhält sich zu dem alten etwa so, wie die drei Romantexte zu ihren Titeln, die alleine die biblische Referenz aufrufen, die sonst keine direkte Erwähnung findet und nur indirekt zitiert wird, durch Motive wie das geopferte Lamm, die Wiedergeburt oder die heilige Familie. Das Kind, das praktisch unbefleckt zu seinen Eltern gekommen ist. David, Inés und Simón sind Jesus, Maria und Josef und sie sind es zugleich auch nicht. Man könnte sie so sehen, man sollte sie aber nicht darauf reduzieren. „Du willst, dass ich bin, wer ich deiner Meinung nach bin. Du willst nicht, dass ich bin, wer ich meiner Meinung nach bin“, sagt David einmal zu Simón. Das ist eine der Kernthesen dieser Romantrilogie.
Dem biblischen Jesus der Evangelien wird in Coetzees Erzählung mit dem jungen David nicht nur eine gegenwärtige Spiegelfigur zur Seite gestellt, er wird auch überhaupt mit einer Erzählung seiner Jugend ausgestattet, die sich sonst nur in apokryphen Texten finden lässt. Dieser Heilige Coetzees, der im letzten Band nun seine Apotheose erfahren wird, ersetzt aber nicht nur die fehlende Jugend des biblischen Jesu, sondern auch dessen Person, die sich aus den Überlieferungen der Evangelien nur erahnen lässt. Denn Jesu selbst ist schon nur als eine Reihe sich teilweise widersprechender Erzählungen überliefert. Er ist die Summe dessen, was über ihn geschrieben wurde. Von Jesus selbst ist nichts überliefert.
Coetzee geht es in seinem Jesus-Projekt auch darum, den Status von Erzählungen, selbst wenn sie so mächtig sind wie die Evangelien, infrage zu stellen. Eine seiner narrativen Maßnahmen ist die leicht modernistische und kolonialistische, ansonsten aber glatte Welt dieser Trilogie. Diese Welt, die so karg erscheint wie die Prosa, in der von ihr berichtet wird, ist gerade das, was sich so schwer fassen lässt, ohne es gleich einer Interpretation, einer bestimmten Deutung zu unterwerfen. Sie ist das reine Leben in aller Schönheit und auch Gewöhnlichkeit, ohne alles Bemerkenswerte.
Zur dieser neuen Welt gehört es, dass es keine Gewissheiten gibt, auch wenn sie ständig versuchen, sich zu manifestieren, sich anbieten und den Text in die eine oder die andere Richtung biegen. In vielfachen Variationen zeichnet der Text diese Gravitationskräfte der Identität, der Einordnung, des Sinnstiftens nach. Wie schon in der ersten Szene, in der Kinder, unter ihnen David, auf der Wiese hinter ihrem Wohnblock Fußball spielen. „Bei diesen Spielen unter der Woche gibt es keine richtigen Mannschaften. Die Jungen teilen sich auf, wie es gerade kommt, steigen ein, steigen aus. Manchmal sind dreißig auf dem Rasen, manchmal nur ein halbes Dutzend.“ Das Spiel funktioniert trotzdem, eben nach seinen eigenen, sich natürlich entwickelnden Regeln, nicht nach denen aus einem Buch oder gar denen der Fifa.
Bald taucht aber ein Mann auf, der für die Ordnung der Verhältnisse steht. Er leitet ein Waisenhaus und möchte aus den Kindern eine ordentliche Mannschaft bilden, die im Wettkampf gegen die Kinder aus seinem Heim antreten soll. Dem freien Spiel soll eine Ordnung, ein Sinn übergestülpt werden. David gefällt diese neue Ordnung zunächst, obwohl er sonst ein ganz eigenes Verhältnis zu allem hat, das mit Zahlen zu tun hat. Er tanzt die Zahlen und sieht sie in den Sternen. „Dunkle Sterne sind Sterne, die keine Zahlen sind. Die Sterne, die Zahlen sind, leuchten. Die dunklen Sterne möchten Zahlen sein, können es aber nicht. Sie kriechen wie Ameisen über den ganzen Himmel, aber man kann sie nicht sehen, weil sie dunkel sind“, erklärt er Simón und Inés einmal. Was meint er damit? Dass Zahlen, wie sie von seinen Lehrern verstanden werden, nur einen Bruchteil des Himmels erfassen können?
Natürlich gibt es verschiedene Lesarten der Sterne. Aber warum müssen sie einander ausschließen, wie die Motive der Flüchtenden in den Augen der australischen Politiker? Aber auch das wäre wieder nur eine mögliche Lesart. Die neue Welt, in der die kleine Familie lebt, versucht ständig, alles und jeden in Zahlen zu bannen. Die verschiedenen Zahlen- und Weltdeutungssysteme sind nicht immer miteinander vereinbar. Sie funktionieren jedes für sich auf seine eigene Art und erheben aber jedes einen universellen Anspruch. Und sind sie nicht am Ende alle Konstrukte, limitierte Vorstellungen der jeweils selben Sache? Wie ein Fußballspiel zu sein hat? Oder ein Mensch? Oder ein Roman?
Der Tanz ist für den jungen David eine so wichtige Ausdrucksform, weil er, wie die Musik, von allen Künsten am wenigsten bedeuten muss, am wenigsten repräsentiert. Musik und Tanz können nachahmen, sie müssen aber nicht. Sie können eine rein ästhetische Erfahrung sein, frei von Deutung, Einordnungen und Interpretationen. Coetzee, der am 9. Februar 80 Jahre alt wird, hat mit „Der Tod Jesu“ nicht nur seinen womöglich, aber hoffentlich nicht letzten Roman geschrieben, sondern mit ihm auch ein zentrales Thema seiner Arbeit als Schriftsteller radikalisiert, das sich schon in seinen ersten Romanen fand: Die Allegorie, eigentlich auch ein Verfahren aus der Bibelauslegung, als literarische Technik anzuwenden und sie gleichzeitig zu problematisieren.
Auch der Frauenmörder Dmitri aus dem zweiten Band taucht in dem neuen Roman wieder auf. Eine Gestalt, die den zerrissenen Figuren Dostojewskis ähnelt, über den Coetzee auch schon einen Roman geschrieben hat. Dmitri stellt immer wieder seine ganz eigenen Interpretationen der Ereignisse dar, und ausgerechnet er wird es am Ende sein, der maßgeblich dazu beiträgt, dass David, wie dem titelgebenden Jesus, nach seinem Tod, ob er will oder nicht, ein Heiligenstatus aufgezwungen wird.
Am Ende findet Simón Davids Ausgabe von „Don Quixote“, in der die jungen Leser aufgefordert werden, ihre Meinung über das Buch abzugeben. Zwei sind dem bisher nachgekommen. „Keiner der Kommentare ist in Davids Handschrift. Wie schade. Nun wird man nie wissen, was die Botschaft des Buches in Davids Augen gewesen ist oder an was daraus er sich am meisten erinnerte.“ Wenn die Ansichten zweier Kinder über einen Gegenstand nebeneinander Platz haben, warum dann nicht auch andere Ansichten zu anderen Themen? Zu Romanen oder Menschen und ihren Motiven. Davids Botschaft ist gerade, dass er keine eindeutige Botschaft hinterlassen hat. Aber es wird andere geben, die von seinem Leben und seinen Taten berichten werden.
J. M. Coetzee: Der Tod Jesu. Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 224 Seiten, 24 Euro.
„Du willst nicht, dass ich bin, wer
ich meiner Meinung nach bin“,
sagt David einmal zu Simón
Wie dem titelgebenden Jesus
wird David am Ende ein
Heiligenstatus aufgezwungen
„Über das Meer“ kommen in Coetzees Roman die Figuren, wie die Flüchtlinge der Gegenwart. Gewissheiten über sie gibt es nicht.
Foto: AP
J. M. Coetzee, 1940 in Kapstadt geboren, lebt seit 2002 in Adelaide und wurde 2006 australischer Staatsbürger. 2003 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.
Foto: VIA BLOOMBERG NEWS
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2020Verstreute Heilszeichen in einer Schattenwelt
Mit Lust an der Verrätselung: Der Nobelpreisträger J. M. Coetzee bringt seine "Jesus-Trilogie" zum Abschluss
Man hat schon davon gehört, dass Schriftsteller mit der Zuerkennung des Nobelpreises in die Krise geraten sind. Allein schon die Bürde der Repräsentanz mit ihren Umfragen, Vortragsangeboten und weiteren Ehrungen im Kielwasser der wichtigsten Auszeichnung von allen kann einen Menschen überfordern. Von alldem scheint der Südafrikaner J. M. Coetzee, der morgen seinen achtzigsten Geburtstag feiert, beneidenswert frei zu sein. Er war schon vorher ein Solitär und ist es störrisch geblieben. Interviews pflegt er zu verweigern, und wenn nicht, antwortet er schriftlich. Verschlägt es ihn tatsächlich einmal auf ein öffentliches Podium, hört er höflich zu, bis die Reihe an ihn kommt, zieht ein Papier aus der Tasche und liest ab, was er zu sagen hat. Dann verstummt er wieder, als säße er nicht im Raum.
Der Entschluss des Autors, nicht mehr als Universitätsprofessor in Kapstadt zu arbeiten, war, wenn die Jahreszahlen nicht trügen, schon vor der Verleihung des Literaturnobelpreises 2003 gefasst. Coetzees Umzug nach Australien, lange Aufenthalte in Buenos Aires und die enge Bindung an den argentinischen Verlag Hilo de Ariadna, für den er Vorwort-Essays zu Kleist, Defoe, Flaubert, Tolstoi und Beckett geschrieben hat, haben die südafrikanischen Herkunftsspuren des Autors noch weiter verwischt.
Auch wenn "Warten auf die Barbaren" (deutsch 1984), die Allegorie auf die Komplexität der Rassenbeziehungen, noch immer sein bekanntester Roman ist, hat sich der ältere Coetzee längst in ein kurioses Zwischenreich der Weltliteratur hineingeschrieben. Seine Figuren, Pappkameraden mit pochenden Herzen, sind so ortlos geworden wie er selbst, ihre Probleme sind nicht mehr als nationale Fragen erkennbar, sondern nur noch als existentiell aufwühlende Menschheitsbekümmernisse: Wer sind wir, wenn wir aus unseren Umständen herausgerissen werden und wurzellos von vorn beginnen müssen, etwa als Immigranten? Was können wir wissen, woran können wir uns halten? Und woran sollen wir glauben? Besonders in den letzten Romanen, der sogenannten "Jesus-Trilogie", deren dritter Band, "Der Tod Jesu", soeben auf Deutsch erschienen ist, zeigt sich der Altersstil in einer reizvollen Kombination aus extremer stilistischer Verknappung, philosophischer Spekulation und Lust an der Verrätselung.
Das hat beim Erscheinen der ersten beiden Bände - "Die Kindheit Jesu" (deutsch 2013) und "Die Schulzeit Jesu" (2018) - bisweilen für Irritation gesorgt. Allzu unbekümmert, so die Meinung mancher Kritiker, waren die Anspielungen und Kalauer ausgelegt, von der Hispanisierung Bachs über "Juan Sebastián Arroyo" bis zur Zahlenmystik und Platon-Exegese knapp über Volkshochschulniveau. Auch die Verneigungen des Autors vor Dostojewski - zwei der vier Karamasow-Brüder, Dmitri und Aljoscha, haben namensgleiche Wiedergänger in Coetzees Romantrilogie - wurden nicht als subtilste Form der Hommage empfunden.
Im dritten Band, den die bewährte Coetzee-Expertin Reinhild Böhnke in ein schlankes, nuancenreiches Deutsch gebracht hat, zeigt sich aber auch der Ertrag des Insistierens auf einer solchen Kunst- und Schattenwelt: Als Leser betritt man das Provinzstädtchen Estrella, in dem der Roman spielt, wie einen vertrauten, ganz speziellen Ort. Alle, die hier leben, haben die Erinnerung an ihre Vorgeschichte verloren und unter einer Art anästhesierender Linksdiktatur ein neues Leben begonnen. Reichtum ist unbekannt, sozialer Protest ebenso, denn die Behörden in diesem spanischsprachigen Einwandererland sind zahnlose Riesen, die den Hütten meist fernbleiben. Die größte Bedrohung, so vermutet man, dürfte von der Langeweile ausgehen.
Was der sechsundvierzigjährige Simón, der für sein Pflegekind David im ersten Band eine Leihmutter namens Inés ausgeguckt hat, an Widrigkeiten zu bestehen hat, spielt sich also allein an der Privatfront ab: dass er als Mann einsam bleibt, weil Inés ihn zurückweist, und dass sein außergewöhnliches Ziehkind, an das er sich gekettet hat, ihm allmählich entwunden wird. Zuerst weicht David in ein Waisenheim aus, dann entzieht er sich durch eine seltene Krankheit und einen von heilsgeschichtlichen Zeichen begleiteten Tod. "Er verging wie ein Komet", sagt der sanft gewordene Mörder Dmitri über seinen "jungen Meister". Dass David dabei zugleich ein leidendes, unverstandenes Kind bleibt, gehört zu den eindrücklichsten Momenten der Lektüre.
"Der Tod Jesu" ist kein realistischer Roman, doch in seiner seltsam lautlosen, gespensterhaft höflichen Kulissenwelt spricht er von realen Gefühlen und quälenden Gedanken. Die endlosen Warum-Fragen, die in den ersten beiden Bänden einen guten Teil der Dialoge zwischen David und Simón dominieren - wobei unentschieden bleibt, wer von den beiden die größere Nervensäge ist, der zähe kleine Frager oder der um keine Antwort verlegene Beschwichtiger -, treten in "Der Tod Jesu" merklich in den Hintergrund. Kunstvoll lässt Coetzee die Zweifel des Protagonisten an seiner Herkunft in der Schwebe. Spürbar ist er als Stachel und ungelöstes Rätsel, lesbar aber auch als Parallele zum Mysterium um die Herkunft des Gottessohns.
So könnte religiöser Glaube begonnen haben, suggeriert der Roman, mit trost- und sinnbedürftigen Menschen, die ihre karge Umwelt nach Heilszeichen absuchen und Geschichten hinterherrennen, an denen sich ihre Sehnsucht nach Transzendenz festklammern kann. Der historische Jesus dagegen ist bei Coetzee nur in Andeutungen und kleinen Symbolen erkennbar - in einem Lamm auf dem Arm oder in der eher zerlumpten Allegorie der Heiligen Familie, die im Roman dieselben Schwierigkeiten vor sich herwälzt wie der Patchwork-Standard von heute. Kein frommes Buch also, sondern ein eigensinniges, nachdenkliches, das nur in der Musik, dem Tanz und den Sternen Entlastung verspricht. Nennen wir es magischen Rationalismus.
PAUL INGENDAAY
J. M. Coetzee: "Der Tod Jesu". Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 220 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Lust an der Verrätselung: Der Nobelpreisträger J. M. Coetzee bringt seine "Jesus-Trilogie" zum Abschluss
Man hat schon davon gehört, dass Schriftsteller mit der Zuerkennung des Nobelpreises in die Krise geraten sind. Allein schon die Bürde der Repräsentanz mit ihren Umfragen, Vortragsangeboten und weiteren Ehrungen im Kielwasser der wichtigsten Auszeichnung von allen kann einen Menschen überfordern. Von alldem scheint der Südafrikaner J. M. Coetzee, der morgen seinen achtzigsten Geburtstag feiert, beneidenswert frei zu sein. Er war schon vorher ein Solitär und ist es störrisch geblieben. Interviews pflegt er zu verweigern, und wenn nicht, antwortet er schriftlich. Verschlägt es ihn tatsächlich einmal auf ein öffentliches Podium, hört er höflich zu, bis die Reihe an ihn kommt, zieht ein Papier aus der Tasche und liest ab, was er zu sagen hat. Dann verstummt er wieder, als säße er nicht im Raum.
Der Entschluss des Autors, nicht mehr als Universitätsprofessor in Kapstadt zu arbeiten, war, wenn die Jahreszahlen nicht trügen, schon vor der Verleihung des Literaturnobelpreises 2003 gefasst. Coetzees Umzug nach Australien, lange Aufenthalte in Buenos Aires und die enge Bindung an den argentinischen Verlag Hilo de Ariadna, für den er Vorwort-Essays zu Kleist, Defoe, Flaubert, Tolstoi und Beckett geschrieben hat, haben die südafrikanischen Herkunftsspuren des Autors noch weiter verwischt.
Auch wenn "Warten auf die Barbaren" (deutsch 1984), die Allegorie auf die Komplexität der Rassenbeziehungen, noch immer sein bekanntester Roman ist, hat sich der ältere Coetzee längst in ein kurioses Zwischenreich der Weltliteratur hineingeschrieben. Seine Figuren, Pappkameraden mit pochenden Herzen, sind so ortlos geworden wie er selbst, ihre Probleme sind nicht mehr als nationale Fragen erkennbar, sondern nur noch als existentiell aufwühlende Menschheitsbekümmernisse: Wer sind wir, wenn wir aus unseren Umständen herausgerissen werden und wurzellos von vorn beginnen müssen, etwa als Immigranten? Was können wir wissen, woran können wir uns halten? Und woran sollen wir glauben? Besonders in den letzten Romanen, der sogenannten "Jesus-Trilogie", deren dritter Band, "Der Tod Jesu", soeben auf Deutsch erschienen ist, zeigt sich der Altersstil in einer reizvollen Kombination aus extremer stilistischer Verknappung, philosophischer Spekulation und Lust an der Verrätselung.
Das hat beim Erscheinen der ersten beiden Bände - "Die Kindheit Jesu" (deutsch 2013) und "Die Schulzeit Jesu" (2018) - bisweilen für Irritation gesorgt. Allzu unbekümmert, so die Meinung mancher Kritiker, waren die Anspielungen und Kalauer ausgelegt, von der Hispanisierung Bachs über "Juan Sebastián Arroyo" bis zur Zahlenmystik und Platon-Exegese knapp über Volkshochschulniveau. Auch die Verneigungen des Autors vor Dostojewski - zwei der vier Karamasow-Brüder, Dmitri und Aljoscha, haben namensgleiche Wiedergänger in Coetzees Romantrilogie - wurden nicht als subtilste Form der Hommage empfunden.
Im dritten Band, den die bewährte Coetzee-Expertin Reinhild Böhnke in ein schlankes, nuancenreiches Deutsch gebracht hat, zeigt sich aber auch der Ertrag des Insistierens auf einer solchen Kunst- und Schattenwelt: Als Leser betritt man das Provinzstädtchen Estrella, in dem der Roman spielt, wie einen vertrauten, ganz speziellen Ort. Alle, die hier leben, haben die Erinnerung an ihre Vorgeschichte verloren und unter einer Art anästhesierender Linksdiktatur ein neues Leben begonnen. Reichtum ist unbekannt, sozialer Protest ebenso, denn die Behörden in diesem spanischsprachigen Einwandererland sind zahnlose Riesen, die den Hütten meist fernbleiben. Die größte Bedrohung, so vermutet man, dürfte von der Langeweile ausgehen.
Was der sechsundvierzigjährige Simón, der für sein Pflegekind David im ersten Band eine Leihmutter namens Inés ausgeguckt hat, an Widrigkeiten zu bestehen hat, spielt sich also allein an der Privatfront ab: dass er als Mann einsam bleibt, weil Inés ihn zurückweist, und dass sein außergewöhnliches Ziehkind, an das er sich gekettet hat, ihm allmählich entwunden wird. Zuerst weicht David in ein Waisenheim aus, dann entzieht er sich durch eine seltene Krankheit und einen von heilsgeschichtlichen Zeichen begleiteten Tod. "Er verging wie ein Komet", sagt der sanft gewordene Mörder Dmitri über seinen "jungen Meister". Dass David dabei zugleich ein leidendes, unverstandenes Kind bleibt, gehört zu den eindrücklichsten Momenten der Lektüre.
"Der Tod Jesu" ist kein realistischer Roman, doch in seiner seltsam lautlosen, gespensterhaft höflichen Kulissenwelt spricht er von realen Gefühlen und quälenden Gedanken. Die endlosen Warum-Fragen, die in den ersten beiden Bänden einen guten Teil der Dialoge zwischen David und Simón dominieren - wobei unentschieden bleibt, wer von den beiden die größere Nervensäge ist, der zähe kleine Frager oder der um keine Antwort verlegene Beschwichtiger -, treten in "Der Tod Jesu" merklich in den Hintergrund. Kunstvoll lässt Coetzee die Zweifel des Protagonisten an seiner Herkunft in der Schwebe. Spürbar ist er als Stachel und ungelöstes Rätsel, lesbar aber auch als Parallele zum Mysterium um die Herkunft des Gottessohns.
So könnte religiöser Glaube begonnen haben, suggeriert der Roman, mit trost- und sinnbedürftigen Menschen, die ihre karge Umwelt nach Heilszeichen absuchen und Geschichten hinterherrennen, an denen sich ihre Sehnsucht nach Transzendenz festklammern kann. Der historische Jesus dagegen ist bei Coetzee nur in Andeutungen und kleinen Symbolen erkennbar - in einem Lamm auf dem Arm oder in der eher zerlumpten Allegorie der Heiligen Familie, die im Roman dieselben Schwierigkeiten vor sich herwälzt wie der Patchwork-Standard von heute. Kein frommes Buch also, sondern ein eigensinniges, nachdenkliches, das nur in der Musik, dem Tanz und den Sternen Entlastung verspricht. Nennen wir es magischen Rationalismus.
PAUL INGENDAAY
J. M. Coetzee: "Der Tod Jesu". Roman. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020. 220 S., geb., 24,- [Euro].
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Coetzee fährt ein Finale auf, das der Trilogie einen würdigen Abschluss verpasst, gerade durch die Freude unterlaufener Fährten - und abermals neuer Fragen, die sich stellen. Stefan Hochgesand taz 20200409