Notizen eines großen Schriftstellers und Flaneurs - ein einzigartiger Einblick in Wilhelm Genazinos Sprach- und Romanwerkstatt Seine Wohnung verließ Wilhelm Genazino nie ohne Stift und Papier. Alles, was sich in Worte fassen ließ, schrieb er auf. Jahrzehntelang tippte er seine Beobachtungen von unterwegs akribisch ab, aus Furcht, eines Tages könnte ihn das Schreiben selbst verlassen. So entstand ein "Materialcontainer", in dem sich Leben und Fiktion, Ideen und Träume unauflöslich vermischen. Die bislang unbekannten Notizen sind ein Schlüssel zu seinem Werk und lesen sich wie ein unendlicher Genazino-Roman. Sie zeigen den Autor als verzweifelten Glückssucher, als hochsensiblen Zeitzeugen und funkelnden Aphoristiker. "Es ist ein großes Erlebnis, wenn das Vergnügen bis in die Details geht."
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, D, L ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Edo Reents weiß das Schaffen des 2018 gestorbenen Wilhelm Genazino durchaus zu schätzen, doch er muss zugeben, dass er sich mit diesen aus dem Nachlass veröffentlichten Aufzeichnungen ganz schön gelangweilt hat. Allerdings ging ihm das auch bei Thomas Manns Tagebücher so, der den Rezensenten nicht einmal mit einem Eintrag wie "Nachts geschlechtlicher Anfall" belustigen konnte. Genazino ist eben kein Erzähler, meint Reents, sondern ein Beobachter und Grübler, und so schlägt er aus seinem Leben mit dem späten Abitur und dem noch späteren Studium keine erzählerischen Funken, sondern Aphorismen. Auch hier entdeckt Reents viel Banales, aber dann doch auch das, was Genazino so groß gemacht hat: die Fähigkeit sich selbst als "willentlich aus der Zeit gefallen" zu erkennen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Wie viele seiner Romanfiguren ist Genazino ein Stadtspaziergänger, ein Flaneur, der sein Augenmerk auf alles richtet, was ihm unter die Augen gerät. ... In der Kunst, dem Auffälligen eine verborgene Nuance abzugewinnen und sie zu benennen, hat er eine nie auftrumpfende Virtuosität entwickelt. ... Wilhelm Genazinos 'Der Traum des Beobachters' sind permanente Selbstwortversuche, sprachliche Auseinandersetzungen mit dem Gesehenen, dem körperlich Empfundenen. Vor allem aber geht es darum, wie aus diesem 'Material' Prosa wird, denn das Beobachten ist nicht mehr als der Anfang der Schriftstellerarbeit." Rainer Moritz, Neue Züricher Zeitung, 30.03.23
"Wer diese Notizen liest, glaubt wahrhaftig in einen neuen Roman Wilhelm Genazinos einzutauchen." Herbert Wiesner, Literarische Welt, 05.02.23
"Dieses Buch funktioniert wie eine Pralinenpackung. Man schlägt es auf und findet Köstlichkeiten, und man will immer noch mehr davon." Philipp Holstein, Rheinische Post, 02.02.23
"Der Schlüssel zu einem großen Werk." Kristof Magnusson, rbb radioneins, 22.01.23
"Dieses Werktagebuch nicht zur Kenntnis zu nehmen wäre freilich ein Fehler. Es ist nicht nur ein großes Lesevergnügen, sondern auch eine wunderbare Schule des Sehens. Und eine ebenso freudvolle wie schmerzliche Erinnerung daran, welch einzigartiger Autor da vor fünf Jahren von uns gegangen ist." Andreas Wirthensohn, WDR3, 22.01.23
"Kein Autor verstand es so genau, den seelischen Widersprüchen des modernen Stadtbewohners nachzuspüren, für jene zwischen Scham, Schmerz und Schauder oszillierenden Gefühle Bilder in unserer Alltagswelt zu finden. ... Mit 'Der Traum des Beobachters' kann man einen Blick in die Werkstatt dieses bedeutenden Autors werfen. Und in seinem 'Materialcontainer' selbst große Kunst entdecken." Ulrich Rüdenauer, SWR2, 22.01.23
"Ein einzigartiges Zeugnis gesteigerter Empfindungsfähigkeit ist der Band." Thomas Groß, Mannheimer Morgen, 21.01.23
"Wer diese Notizen liest, glaubt wahrhaftig in einen neuen Roman Wilhelm Genazinos einzutauchen." Herbert Wiesner, Literarische Welt, 05.02.23
"Dieses Buch funktioniert wie eine Pralinenpackung. Man schlägt es auf und findet Köstlichkeiten, und man will immer noch mehr davon." Philipp Holstein, Rheinische Post, 02.02.23
"Der Schlüssel zu einem großen Werk." Kristof Magnusson, rbb radioneins, 22.01.23
"Dieses Werktagebuch nicht zur Kenntnis zu nehmen wäre freilich ein Fehler. Es ist nicht nur ein großes Lesevergnügen, sondern auch eine wunderbare Schule des Sehens. Und eine ebenso freudvolle wie schmerzliche Erinnerung daran, welch einzigartiger Autor da vor fünf Jahren von uns gegangen ist." Andreas Wirthensohn, WDR3, 22.01.23
"Kein Autor verstand es so genau, den seelischen Widersprüchen des modernen Stadtbewohners nachzuspüren, für jene zwischen Scham, Schmerz und Schauder oszillierenden Gefühle Bilder in unserer Alltagswelt zu finden. ... Mit 'Der Traum des Beobachters' kann man einen Blick in die Werkstatt dieses bedeutenden Autors werfen. Und in seinem 'Materialcontainer' selbst große Kunst entdecken." Ulrich Rüdenauer, SWR2, 22.01.23
"Ein einzigartiges Zeugnis gesteigerter Empfindungsfähigkeit ist der Band." Thomas Groß, Mannheimer Morgen, 21.01.23
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.06.2023Die Außenwelt seines Innenlebens
So nah wollte er sich
mit dem Alltag nicht
einlassen: Wilhelm
Genazinos Nachlass
erlaubt einen ersten Blick aufs Werktagebuch.
Der Schriftsteller", meinte Wilhelm Genazino, "richtet sein Leben so ein, daß es nach seinem Tod unerforschlich sein wird." Manche richten auch ihr Werk so ein, dass es nach ihrem Tod unerforschlich ist. Bei Genazinos Leben, das 75 Jahre währte, gibt es nämlich nicht viel zu forschen. Dafür war es wahrscheinlich nicht spektakulär genug, zu sehr der Schriftstellerei gewidmet; das wenige, das er über seinen Alltag, über Ereignisse festhielt, ist Teil seines so genannten Werktagebuchs, das in Gestalt von 38 Aktenordnern im Marbacher Literaturarchiv lagert. Ein erster Extrakt daraus liegt nun vor unter dem etwas nichtssagenden, jedenfalls nicht sonderlich einprägsamen Titel "Der Traum des Beobachters".
Werktagebuch: Schon der Begriff garantiert, dass man, anders als zum Beispiel bei Thomas Manns Tagebüchern, nicht mit Belanglosigkeiten nach Art von "morgens rasiert" oder "nachts geschlechtlicher Anfall" behelligt wird. In aller Regel hielt Genazino nur fest, wovon er glaubte, es für seine Romane gebrauchen zu können. Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, dass darunter gleichwohl auch Banalitäten fallen, denn von deren Beobachtung und aber eben vor allem von deren immerwährender gedanklicher Einsortierung leben seine Bücher ja. Doch über sein Leben geben sie kaum Aufschluss, nur über sein Denken, auf das es schließlich ankommt. Der Biograph, der sich dermaleinst hoffentlich finden wird, kann sich jedenfalls auf eine mühsame Arbeit gefasst machen.
Ein Detail kann er sich schon mal vormerken: "Ein merkwürdiger Tag im Leben eines Fünfzigjährigen: Am Morgen (11.00 Uhr) mündliche Nebenfach-Prüfung (Soziologie) bei Prof. Keller". Und dann kommt ausnahmsweise doch noch eine zwar nicht alltägliche, aber älteren Menschen geläufige Verrichtung: "am Nachmittag (16.00) Krebs-Vorsorgeuntersuchung". Das war am 18. Februar 1993. Von hier war es dann gar nicht mehr so weit bis zum Büchnerpreis, den Genazino 2004 bekam. Das Ergebnis der Prüfung war übrigens positiv, das der Untersuchung negativ, zum Glück nicht umgekehrt.
Begreiflicherweise hat ihn die Tatsache, dass er das Abitur nachmachen musste und er erst spät studierte, beschäftigt; und es ehrt einen Autor wie ihn, dessen Intellektualität dem Werk auf so unaufdringliche, ohne einen prätentiösen Begriffsapparat auskommende und trotzdem intensiv spürbare Art eingeprägt ist, dass er mit dem eigentlichen Antrieb, der hinter dieser nachgeholten Aus-Bildung steht, nicht hinterm Berg hält: "Erinnerung an das Externen-Abitur in Marburg. In der Mittagspause fragte ich Prof. Dr. Burkhard Dedner (der mich über Büchner prüfte), ob ich ihm peinlich sei, und er antwortete: Ja. Seiner Meinung nach hätte ich Abitur und Studium nicht nötig. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, daß es nicht nur um Wissen geht, sondern um Biografie und Anerkennung." Fast meint man hier die armen Eltern schemenhaft auftauchen zu sehen, wie sie das in den Romanen häufiger tun - die bescheidene, durchweg als lähmend empfundene Nachkriegskindheit inmitten der Mannheimer Trümmer ließ ihm zeit seines Lebens keine Ruhe und wird hier als wahrscheinlich mitentscheidendes Motiv für seine Aus- und Aufstiegsanstrengungen kenntlich.
Er formuliert eingängig und tief, oft abgründig und allemal originell
Es ist bezeichnend, dass die Uni-Prüfung (die, ein Schreibfehler, von Burghard Dedner abgenommen wurde) in der Ereignisrangliste schon einen vorderen Platz einnimmt; aufregender wird es nicht mehr, zumindest ist nichts davon notiert. Der Rezensent hat es, einmal neben Genazino sitzend, erlebt, dass eine etwas unverständige Zuhörerfrage in aller Selbstverständlichkeit so quittiert wurde: "Nun, ich habe ein reiches Innenleben." Die beste Voraussetzung also dafür, dass sich das Reflexive prächtig entfalten kann. Genazino formuliert seine Gedanken eingängig und tief, oft abgründig und allemal originell.
Wer mit seiner Prosa vertraut ist, wird sich nicht darüber wundern, dass sich der Stil dieser Aufzeichnungen von dem seiner Romane nicht nennenswert unterscheidet. Es ist, wiederum, ganz anders als bei Thomas Mann: Bei ihm zeigt das Stichworthaft-Lakonische das Bedürfnis nach Festhalten (des Lebens), nach Rechenschaft an und steht im Kontrast zur sprachlichen Elaboriertheit seines erzählerischen Werks. Von Genazino ist dagegen nicht anzunehmen, dass er Ereignisse schon deswegen für erwähnenswert hielte, weil sie mit seinem Leben zu tun haben. Sie stehen also nicht für sich, sondern müssen das Nachdenken und die belletristische Verwertung in Gang setzen. Er verrichtet seine Arbeit, hier wie dort, ohne Verzierungen. Die charakteristische Schmucklosigkeit seines Stils, die den Willen zum Aphoristischen durchaus einschließt, verrät ihn als jemanden, der im Grunde gar nicht "erzählen", sondern die Begebenheiten von vorne bis hinten und immer wieder durchdringen will.
Nicht jeder Gedanke ist dabei zwingend; bei manchem von dem unter "Sinnstiftung" zu Verbuchenden zuckt man bloß mit den Achseln: Ja, und weiter? "Man kann sich nicht erinnern, ohne sich gleichzeitig dem Tod zu nähern." Genauso gut könnte man behaupten: Man kann nicht aufs Klo gehen, ohne sich gleichzeitig dem Tod zu nähern - ganz einfach, weil man sich ihm noch in der kleinsten Zeiteinheit, egal, was man gerade tut, nähert. Aber die Herausgeber Jan Bürger (Marbach) und Friedhelm Marx (Bamberg) werden sich gedacht haben, dass der Bedarf der Leserschaft an solchen apodiktischen, lebensphilosophischen Sprüchen, die sich immer gut auf Buchdeckeln machen, groß genug dafür ist. Es kommt ohnehin auf anderes an als auf effekthascherische Sätze, mit denen man ein an vermeintlichem Tiefsinn interessiertes Publikum mühelos blenden kann, was aber freilich und mit Sicherheit nie Genazinos Absicht war. In der Unabschließbarkeit seines Denkens, auf die der Hang oder wohl eher der Zwang zur Grübelei hinausläuft, steht er, natürlich, direkt neben Franz Kafka, seinem wahrscheinlich stärksten literarischen Erlebnis.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die wenigstens zeitliche Nachbarschaft einer längeren Passage vom August 1974 zum "Abschaffel"-Projekt zu Überlegungen zur "Verwandlung" - für künftige Genazino-Philologen vielleicht ein gefundenes Fressen. Man wird sich aber auch gegenwärtig halten müssen, was ihn von Kafka trennt: Neben den quasireligiösen Anklängen, Untertönen ist es der Verzicht auf Verrätselung, auf Geheimniskrämerei. Nur gelegentlich, zum Beispiel mit einem abgefallenen Ohr in "Mittelmäßiges Heimweh" (2007), setzt er Phantastik ein, jedoch eher beiläufig.
Mit der "Abschaffel"-Trilogie (1977/79), deren erster Teil als sein eigentliches Debüt gelten darf, gab Genazino sich auf Anhieb als Schriftsteller von außergewöhnlichem Rang zu erkennen; sie etablierte seine Existenz, um deren Unwägbarkeiten das Werktagebuch kreist. Längere Romane als diese drei aus dem für ihn seither prägenden Angestellten-Milieu mit dem bald fast sprichwörtlich gewordenen, sein Bummelantentum skeptisch-skrupulös, in Momenten aber auch abgründig-entschlossen praktizierenden Titelhelden hat Genazino nie wieder geschrieben; bedeutendere auch nicht, aber viele gleichbedeutende, wie vor allem "Die Liebe zur Einfalt" (1990), "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" (2003) oder "Außer uns spricht niemand über uns" (2016).
Ohne Zweifel eignet dem Abschaffel etwas Prototypisches. Man kann fast eine beliebige Begebenheit herausgreifen, um zu sehen, wie sich die prinzipielle Lebensferne auch aller noch folgenden Helden bei diesem Autor, der im Mai 1995 während einer Coventry-Reise direkt von der "Schönheit der nicht weggeräumten Dinge" spricht, eben oft an unauffälliger Stelle zeigt: Abschaffel betrachtet einen auf seinem Balkon liegenden, vom Wetter längst eingeweichten Karton und überlegt, ob er ihn nicht langsam mal wegschmeißen sollte. Er verzichtet: "So nah wollte er sich mit seinem Alltag nicht einlassen."
Seine eigenständige aphoristische Qualität
Genazino selbst wurde, wie seine in der Regel alleinstehenden Helden mittleren Alters, ein "Flaneur" genannt. Das ist aber nur eine recht oberflächliche Konsequenz, die der unverbrüchliche Adornorianer aus der Diagnose des entfremdeten Lebens und der Tatsache, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, gezogen hat. Sein Widerwille gegen die Zumutungen des Erwerbslebens ist überdeutlich, viel gearbeitet wird bei ihm nicht.
Wenn man auf die Frage, was eigentlich das Besondere an diesem Autor ist, eine Antwort geben könnte, dann vielleicht, dass bei ihm, mehr als bei den allermeisten anderen, Beschreibung und Nachdenken, Deskription und Reflexion nicht nur unmittelbar aufeinanderfolgen, sondern meistens schon unauflösbar miteinander amalgamiert sind. Wie Genazino das immer wieder fertiggebracht hat, wird man so schnell nicht herausfinden. Daher wird wahrscheinlich die formale und stoffliche Homogenität seiner Romane rühren, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen und deren Titel, so sonderbar sie auch sind, in der Lesererinnerung schon nach kurzer Zeit verblassen. Es wäre indes ein Missverständnis, wollte man deswegen von "Eintönigkeit" sprechen; ein gewisser Grad an Wiedererkennbarkeit, an Wiederholung auch weist manchmal den Autor von Rang aus.
Erwartungsgemäß stößt man auf vieles, was einem aus den Romanen irgendwie bekannt vorkommt. Man sollte sich dabei Folgendes aus dem instruktiven Herausgeber-Nachwort einprägen: "Sehr viele Aufzeichnungen gingen in stark bearbeiteter Form in Genazinos für die Veröffentlichung bestimmte Werke ein. Wenn er ein Notat verwendet hatte, markierte er es normalerweise, aber nicht immer zuverlässig mit einem ,v'. Für die vorliegende Auswahl wurde nicht zwischen verwendeten und nicht verwendeten Einträgen unterschieden. Vielmehr folgten die Herausgeber der Überzeugung, dass Genazinos Notate unabhängig von den Kontexten, in die er sie schließlich einbettete, eine eigenständige aphoristische Qualität besitzen."
Eleganter hätte man den sich hier gleichwohl aufdrängenden Verdacht, dass die Herausgeber nicht nur ihrer Überzeugung, sondern auch einem begreiflichen Hang zur Arbeitsersparnis gefolgt sind, nicht zerstreuen können. Denn eine V-Kennzeichnung der Notizen hätte an deren Eigenständigkeit ja nichts geändert, es dann allerdings erfordert, den jeweiligen konkreten Niederschlag der Verwendung nachzuweisen. Nun, die Philologie soll schließlich auch noch etwas zu tun haben.
Immer wieder freut man sich an diesen typischen Sätzen, deren Gehalt nicht leicht auszuschöpfen ist: "Meine Verhaltensweisen altern mir voraus." (Oktober 2003). Tatsächlich ist dieser stille, zurückhaltende Mann, der Schuhe so mochte, als junger Mensch schwer vorstellbar. Dass er aber imstande war, dies hier von sich preiszugeben: "Eine kleine Angst treibt mich um; niemand darf merken, auf welch niedrigem, kindischen Niveau ich von unserer Zeit nichts wissen will" (November 1995), erlaubt es, ihn als alterslos zu begreifen - Wilhelm Genazino, irgendwann willentlich aus der Zeit gefallen, war, den Zerstreuungsgefahren seiner Grübeleien die Denkerstirn bietend, immer ganz er selbst und bei sich. EDO REENTS
Wilhelm Genazino: "Der Traum des Beobachters".
Aufzeichnungen 1972-2018.
Hrsg. und mit einem
Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx.
Hanser Verlag, München 2023. 464 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
So nah wollte er sich
mit dem Alltag nicht
einlassen: Wilhelm
Genazinos Nachlass
erlaubt einen ersten Blick aufs Werktagebuch.
Der Schriftsteller", meinte Wilhelm Genazino, "richtet sein Leben so ein, daß es nach seinem Tod unerforschlich sein wird." Manche richten auch ihr Werk so ein, dass es nach ihrem Tod unerforschlich ist. Bei Genazinos Leben, das 75 Jahre währte, gibt es nämlich nicht viel zu forschen. Dafür war es wahrscheinlich nicht spektakulär genug, zu sehr der Schriftstellerei gewidmet; das wenige, das er über seinen Alltag, über Ereignisse festhielt, ist Teil seines so genannten Werktagebuchs, das in Gestalt von 38 Aktenordnern im Marbacher Literaturarchiv lagert. Ein erster Extrakt daraus liegt nun vor unter dem etwas nichtssagenden, jedenfalls nicht sonderlich einprägsamen Titel "Der Traum des Beobachters".
Werktagebuch: Schon der Begriff garantiert, dass man, anders als zum Beispiel bei Thomas Manns Tagebüchern, nicht mit Belanglosigkeiten nach Art von "morgens rasiert" oder "nachts geschlechtlicher Anfall" behelligt wird. In aller Regel hielt Genazino nur fest, wovon er glaubte, es für seine Romane gebrauchen zu können. Es versteht sich bei diesem Autor von selbst, dass darunter gleichwohl auch Banalitäten fallen, denn von deren Beobachtung und aber eben vor allem von deren immerwährender gedanklicher Einsortierung leben seine Bücher ja. Doch über sein Leben geben sie kaum Aufschluss, nur über sein Denken, auf das es schließlich ankommt. Der Biograph, der sich dermaleinst hoffentlich finden wird, kann sich jedenfalls auf eine mühsame Arbeit gefasst machen.
Ein Detail kann er sich schon mal vormerken: "Ein merkwürdiger Tag im Leben eines Fünfzigjährigen: Am Morgen (11.00 Uhr) mündliche Nebenfach-Prüfung (Soziologie) bei Prof. Keller". Und dann kommt ausnahmsweise doch noch eine zwar nicht alltägliche, aber älteren Menschen geläufige Verrichtung: "am Nachmittag (16.00) Krebs-Vorsorgeuntersuchung". Das war am 18. Februar 1993. Von hier war es dann gar nicht mehr so weit bis zum Büchnerpreis, den Genazino 2004 bekam. Das Ergebnis der Prüfung war übrigens positiv, das der Untersuchung negativ, zum Glück nicht umgekehrt.
Begreiflicherweise hat ihn die Tatsache, dass er das Abitur nachmachen musste und er erst spät studierte, beschäftigt; und es ehrt einen Autor wie ihn, dessen Intellektualität dem Werk auf so unaufdringliche, ohne einen prätentiösen Begriffsapparat auskommende und trotzdem intensiv spürbare Art eingeprägt ist, dass er mit dem eigentlichen Antrieb, der hinter dieser nachgeholten Aus-Bildung steht, nicht hinterm Berg hält: "Erinnerung an das Externen-Abitur in Marburg. In der Mittagspause fragte ich Prof. Dr. Burkhard Dedner (der mich über Büchner prüfte), ob ich ihm peinlich sei, und er antwortete: Ja. Seiner Meinung nach hätte ich Abitur und Studium nicht nötig. Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, daß es nicht nur um Wissen geht, sondern um Biografie und Anerkennung." Fast meint man hier die armen Eltern schemenhaft auftauchen zu sehen, wie sie das in den Romanen häufiger tun - die bescheidene, durchweg als lähmend empfundene Nachkriegskindheit inmitten der Mannheimer Trümmer ließ ihm zeit seines Lebens keine Ruhe und wird hier als wahrscheinlich mitentscheidendes Motiv für seine Aus- und Aufstiegsanstrengungen kenntlich.
Er formuliert eingängig und tief, oft abgründig und allemal originell
Es ist bezeichnend, dass die Uni-Prüfung (die, ein Schreibfehler, von Burghard Dedner abgenommen wurde) in der Ereignisrangliste schon einen vorderen Platz einnimmt; aufregender wird es nicht mehr, zumindest ist nichts davon notiert. Der Rezensent hat es, einmal neben Genazino sitzend, erlebt, dass eine etwas unverständige Zuhörerfrage in aller Selbstverständlichkeit so quittiert wurde: "Nun, ich habe ein reiches Innenleben." Die beste Voraussetzung also dafür, dass sich das Reflexive prächtig entfalten kann. Genazino formuliert seine Gedanken eingängig und tief, oft abgründig und allemal originell.
Wer mit seiner Prosa vertraut ist, wird sich nicht darüber wundern, dass sich der Stil dieser Aufzeichnungen von dem seiner Romane nicht nennenswert unterscheidet. Es ist, wiederum, ganz anders als bei Thomas Mann: Bei ihm zeigt das Stichworthaft-Lakonische das Bedürfnis nach Festhalten (des Lebens), nach Rechenschaft an und steht im Kontrast zur sprachlichen Elaboriertheit seines erzählerischen Werks. Von Genazino ist dagegen nicht anzunehmen, dass er Ereignisse schon deswegen für erwähnenswert hielte, weil sie mit seinem Leben zu tun haben. Sie stehen also nicht für sich, sondern müssen das Nachdenken und die belletristische Verwertung in Gang setzen. Er verrichtet seine Arbeit, hier wie dort, ohne Verzierungen. Die charakteristische Schmucklosigkeit seines Stils, die den Willen zum Aphoristischen durchaus einschließt, verrät ihn als jemanden, der im Grunde gar nicht "erzählen", sondern die Begebenheiten von vorne bis hinten und immer wieder durchdringen will.
Nicht jeder Gedanke ist dabei zwingend; bei manchem von dem unter "Sinnstiftung" zu Verbuchenden zuckt man bloß mit den Achseln: Ja, und weiter? "Man kann sich nicht erinnern, ohne sich gleichzeitig dem Tod zu nähern." Genauso gut könnte man behaupten: Man kann nicht aufs Klo gehen, ohne sich gleichzeitig dem Tod zu nähern - ganz einfach, weil man sich ihm noch in der kleinsten Zeiteinheit, egal, was man gerade tut, nähert. Aber die Herausgeber Jan Bürger (Marbach) und Friedhelm Marx (Bamberg) werden sich gedacht haben, dass der Bedarf der Leserschaft an solchen apodiktischen, lebensphilosophischen Sprüchen, die sich immer gut auf Buchdeckeln machen, groß genug dafür ist. Es kommt ohnehin auf anderes an als auf effekthascherische Sätze, mit denen man ein an vermeintlichem Tiefsinn interessiertes Publikum mühelos blenden kann, was aber freilich und mit Sicherheit nie Genazinos Absicht war. In der Unabschließbarkeit seines Denkens, auf die der Hang oder wohl eher der Zwang zur Grübelei hinausläuft, steht er, natürlich, direkt neben Franz Kafka, seinem wahrscheinlich stärksten literarischen Erlebnis.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die wenigstens zeitliche Nachbarschaft einer längeren Passage vom August 1974 zum "Abschaffel"-Projekt zu Überlegungen zur "Verwandlung" - für künftige Genazino-Philologen vielleicht ein gefundenes Fressen. Man wird sich aber auch gegenwärtig halten müssen, was ihn von Kafka trennt: Neben den quasireligiösen Anklängen, Untertönen ist es der Verzicht auf Verrätselung, auf Geheimniskrämerei. Nur gelegentlich, zum Beispiel mit einem abgefallenen Ohr in "Mittelmäßiges Heimweh" (2007), setzt er Phantastik ein, jedoch eher beiläufig.
Mit der "Abschaffel"-Trilogie (1977/79), deren erster Teil als sein eigentliches Debüt gelten darf, gab Genazino sich auf Anhieb als Schriftsteller von außergewöhnlichem Rang zu erkennen; sie etablierte seine Existenz, um deren Unwägbarkeiten das Werktagebuch kreist. Längere Romane als diese drei aus dem für ihn seither prägenden Angestellten-Milieu mit dem bald fast sprichwörtlich gewordenen, sein Bummelantentum skeptisch-skrupulös, in Momenten aber auch abgründig-entschlossen praktizierenden Titelhelden hat Genazino nie wieder geschrieben; bedeutendere auch nicht, aber viele gleichbedeutende, wie vor allem "Die Liebe zur Einfalt" (1990), "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" (2003) oder "Außer uns spricht niemand über uns" (2016).
Ohne Zweifel eignet dem Abschaffel etwas Prototypisches. Man kann fast eine beliebige Begebenheit herausgreifen, um zu sehen, wie sich die prinzipielle Lebensferne auch aller noch folgenden Helden bei diesem Autor, der im Mai 1995 während einer Coventry-Reise direkt von der "Schönheit der nicht weggeräumten Dinge" spricht, eben oft an unauffälliger Stelle zeigt: Abschaffel betrachtet einen auf seinem Balkon liegenden, vom Wetter längst eingeweichten Karton und überlegt, ob er ihn nicht langsam mal wegschmeißen sollte. Er verzichtet: "So nah wollte er sich mit seinem Alltag nicht einlassen."
Seine eigenständige aphoristische Qualität
Genazino selbst wurde, wie seine in der Regel alleinstehenden Helden mittleren Alters, ein "Flaneur" genannt. Das ist aber nur eine recht oberflächliche Konsequenz, die der unverbrüchliche Adornorianer aus der Diagnose des entfremdeten Lebens und der Tatsache, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, gezogen hat. Sein Widerwille gegen die Zumutungen des Erwerbslebens ist überdeutlich, viel gearbeitet wird bei ihm nicht.
Wenn man auf die Frage, was eigentlich das Besondere an diesem Autor ist, eine Antwort geben könnte, dann vielleicht, dass bei ihm, mehr als bei den allermeisten anderen, Beschreibung und Nachdenken, Deskription und Reflexion nicht nur unmittelbar aufeinanderfolgen, sondern meistens schon unauflösbar miteinander amalgamiert sind. Wie Genazino das immer wieder fertiggebracht hat, wird man so schnell nicht herausfinden. Daher wird wahrscheinlich die formale und stoffliche Homogenität seiner Romane rühren, die einander gleichen wie ein Ei dem anderen und deren Titel, so sonderbar sie auch sind, in der Lesererinnerung schon nach kurzer Zeit verblassen. Es wäre indes ein Missverständnis, wollte man deswegen von "Eintönigkeit" sprechen; ein gewisser Grad an Wiedererkennbarkeit, an Wiederholung auch weist manchmal den Autor von Rang aus.
Erwartungsgemäß stößt man auf vieles, was einem aus den Romanen irgendwie bekannt vorkommt. Man sollte sich dabei Folgendes aus dem instruktiven Herausgeber-Nachwort einprägen: "Sehr viele Aufzeichnungen gingen in stark bearbeiteter Form in Genazinos für die Veröffentlichung bestimmte Werke ein. Wenn er ein Notat verwendet hatte, markierte er es normalerweise, aber nicht immer zuverlässig mit einem ,v'. Für die vorliegende Auswahl wurde nicht zwischen verwendeten und nicht verwendeten Einträgen unterschieden. Vielmehr folgten die Herausgeber der Überzeugung, dass Genazinos Notate unabhängig von den Kontexten, in die er sie schließlich einbettete, eine eigenständige aphoristische Qualität besitzen."
Eleganter hätte man den sich hier gleichwohl aufdrängenden Verdacht, dass die Herausgeber nicht nur ihrer Überzeugung, sondern auch einem begreiflichen Hang zur Arbeitsersparnis gefolgt sind, nicht zerstreuen können. Denn eine V-Kennzeichnung der Notizen hätte an deren Eigenständigkeit ja nichts geändert, es dann allerdings erfordert, den jeweiligen konkreten Niederschlag der Verwendung nachzuweisen. Nun, die Philologie soll schließlich auch noch etwas zu tun haben.
Immer wieder freut man sich an diesen typischen Sätzen, deren Gehalt nicht leicht auszuschöpfen ist: "Meine Verhaltensweisen altern mir voraus." (Oktober 2003). Tatsächlich ist dieser stille, zurückhaltende Mann, der Schuhe so mochte, als junger Mensch schwer vorstellbar. Dass er aber imstande war, dies hier von sich preiszugeben: "Eine kleine Angst treibt mich um; niemand darf merken, auf welch niedrigem, kindischen Niveau ich von unserer Zeit nichts wissen will" (November 1995), erlaubt es, ihn als alterslos zu begreifen - Wilhelm Genazino, irgendwann willentlich aus der Zeit gefallen, war, den Zerstreuungsgefahren seiner Grübeleien die Denkerstirn bietend, immer ganz er selbst und bei sich. EDO REENTS
Wilhelm Genazino: "Der Traum des Beobachters".
Aufzeichnungen 1972-2018.
Hrsg. und mit einem
Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx.
Hanser Verlag, München 2023. 464 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main