Nobelpreis für Literatur 2013 Alice Munro ist die Meisterin der Ambivalenz. Komik und Tragik, scheinbar Alltägliches und Schicksalhaftes oszilliert in ihren Geschichten in immer neuer Intensität, die den Leser nie unberührt lässt. Ein >literarisches Wunder< nannte die New York Times die Erzählungen der kanadischen Autorin - Geschichten, so komplex wie Romane, Kammerspiele des Gefühls, Geschichten, die wie Idyllen beginnen und sich auf den Abgrund zu bewegen. »Bei Alice Munro gelangt man lesend wie Hand in Hand mit ihr zu der Erkenntnis eines Augenblicks; das ist eine merkwürdige und eher seltene Form von Gemeinsamkeit mit einem Autor. Ich lese - das bedeutet, ich lebe mich in das Leben eines anderen Menschen ein.« Judith Hermann
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.04.2002Orpheus ist unschuldig
Der unglückliche Traum vom Glück: Erzählungen von Alice Munro
"Die Szene hatte einen Fehler." Der Satz auf der ersten Seite dieses Buches könnte als Motto über den vier Erzählungen stehen, die zu der 1998 erschienenen, vom Fischer Verlag in zwei Erzählbände aufgeteilten Anthologie "The Love of a God Woman" gehören. Im Mittelpunkt dieser Auswahl stehen Frauen, die ihrer Rolle als Mutter nicht gerecht werden.
Die Titelgeschichte handelt von einer jungen Kriegerwitwe, die ihren Säugling, ein kleines Mädchen, der Schwägerin überläßt und sich lieber ihrer Geige widmet. Im Traum legt die Mutter das Kind, an das sie sich nur schwer gewöhnt, im Schnee ab, eine Szene, die sich dann fast fatal im Leben wiederholt. "Wir waren", sagt das Kind, dem die Geschichte in den Mund gelegt ist, "füreinander Ungeheuer." Die Erzählung mit ihrer komplexen Emotionalität und tiefenpsychologischen Dimension gewinnt Kontur und eine fast burleske Atmosphäre durch das kleinbürgerliche Milieu, in dem sie angesiedelt ist.
Eine Mutter-Tochter-Beziehung bestimmt auch die Erzählung "Stinkreich". Das am Rand der Pubertät stehende Kind will vor allem dem Liebhaber der Mutter gefallen. Doch die hat sich gerade von dem Mann getrennt, und er ist zu seiner Frau zurückgekehrt, der das frühreife Mädchen zugetan ist. Eigentlich liebt diese Karin alle Erwachsenen um sich herum, deren Beziehungswirrwarr sie altklug zu verstehen glaubt. Die Geschichte gipfelt in einer seltsamen Brandkatastrophe. Bei einem Abendessen der Dreieckspartner fängt der Schleier des Mädchens, das sich als Braut verkleidet hat, Feuer, das Kind steht in Flammen. Alice Munro läßt die mehrdeutige Geschichte mit einer bitteren Pointe enden. Die vom Brand gezeichnete Karin hat im Feuerbad die Liebe hinter sich gelassen. Trotzig schwelgt sie in dem siegreichen Gefühl, "auf sich allein gestellt" zu sein.
In "Die Kinder bleiben hier" verläßt eine Frau während eines scheinbar perfekten Urlaubs von jetzt auf gleich ihre Familie. Meisterhaft enthüllt Munro die kleinen Irritationen, denen die eigenwillige Pauline durch ihre Schwiegereltern und einen ewig witzelnden Gatten ausgesetzt ist. Freilich, nichts davon würde zur Katastrophe führen, wenn die junge Frau nicht den Hang zum Romanhaften hätte. Sie denkt sich in die Rolle der Eurydike hinein, die sie bei einer Amateurtruppe spielt und wo sie in ein Verhältnis mit dem hallodrihaften Theaterleiter hineingeschlittert ist. Mit besonderer Leidenschaft hängt sie an ihren zwei kleinen Töchtern. Dennoch will sie auch eine Frau sein, "die unbegreiflicher- und erschreckenderweise alles aufgab". Das Bewußtsein, von jetzt an mit dem chronischen Schmerz des Verlusts leben zu müssen, schreckt sie, hält sie aber von ihrem Tun nicht ab.
Die Geschichte wird im Rückblick erzählt, wie Munro es häufig tut. Der Vordergrund ist ohne Menschen, die Gegenwart leer. In der knappen Schlußszene, die viele Jahre später spielt, fragt eine der beiden erwachsenen Töchter die Mutter ironisch, ob der Mann, mit dem sie damals durchbrannte, Orpheus gewesen sei, wie der Vater ihnen erzählt habe. In die letzten Worte der Erzählung geht die Bitternis eines verfehlten Lebens ein, wird die Bilanz einer falschen Entscheidung gezogen. "Nein. Der bestimmt nicht."
Ein enttäuschender Partner ist auch "R." in der Erzählung "Vor dem Wandel", an den die Exfreundin einen langen Brief schreibt. Sie hat gerade ihr Studium beendet und ist in das Haus ihres Vaters, eines verwitweten Landarztes, zurückgekehrt. Der Mann - "Heuchler, Jammerlappen, Philosophielehrer", beschimpft sie ihn -, der Dozent an einem theologischen College ist, hat sie nicht geheiratet, weil sie schwanger war. Der Streit darüber, ob das Kind seiner Karriere schaden würde, erbitterte die Frau so sehr, daß sie es nicht abtrieb, wie der Vater es wünschte. Aber sie handelt nicht aus Liebe, sondern aus Trotz. Nach der Geburt gibt sie das Kind zur Adoption frei.
Die von vielfältigen Ironien getränkte Geschichte wird nach und nach enthüllt, während die Briefschreiberin in dem heruntergekommenen Haus mit dem knorrigen Tyrannen und einer vampirhaften, geistig wenig bemittelten Haushälterin zurechtzukommen versucht. Erst allmählich merkt die Tochter, daß der Vater seit Jahrzehnten illegale Abtreibungen vornimmt. Zahlt er der Haushälterin, die ihm dabei behilflich ist, ein Schweigegeld? Liebt er sie womöglich? Der Höhepunkt der Erzählung ist ein Eingriff, bei dem die Tochter assistieren muß. Dabei erlebt sie den sonst so harten Mann zum ersten Mal als einen ganz anderen. Das ermutigt sie, dem Vater ihre eigene Geschichte zu erzählen. Daß der Alte, der zusammengesunken am Tisch sitzt, kurz vor seinem Tod steht und sie nicht mehr hört, bemerkt sie nicht.
Alice Munros Erzählungen handeln vom kleinen Unglück, in das sich Menschen hineinmanövrieren, wenn sie vom Glück träumen. Ihre Heldinnen heiraten Hals über Kopf, empfinden die Ehe als einen "glitzernden Anbau in ihrem Leben", laufen abrupt davon. Das könnte banal sein, wäre da nicht die große erzählerische und sprachliche Kunst dieser kanadischen Schriftstellerin, die Zeit- und Handlungssprünge, die offenen schwebenden Enden, die Mehrdeutigkeit, welche das Leben ihrer Protagonisten mit einer Aura des Geheimnisses umgibt. Dabei erlaubt sie sich niemals eine vordergründige Symbolik, sondern ihr Ton ist von einer fast knochentrockenen Beiläufigkeit, welchem die Übersetzung von Heidi Zerning vortrefflich gerecht wird.
RENATE SCHOSTACK
Alice Munro: "Der Traum meiner Mutter". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 221 S., geb., 18,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der unglückliche Traum vom Glück: Erzählungen von Alice Munro
"Die Szene hatte einen Fehler." Der Satz auf der ersten Seite dieses Buches könnte als Motto über den vier Erzählungen stehen, die zu der 1998 erschienenen, vom Fischer Verlag in zwei Erzählbände aufgeteilten Anthologie "The Love of a God Woman" gehören. Im Mittelpunkt dieser Auswahl stehen Frauen, die ihrer Rolle als Mutter nicht gerecht werden.
Die Titelgeschichte handelt von einer jungen Kriegerwitwe, die ihren Säugling, ein kleines Mädchen, der Schwägerin überläßt und sich lieber ihrer Geige widmet. Im Traum legt die Mutter das Kind, an das sie sich nur schwer gewöhnt, im Schnee ab, eine Szene, die sich dann fast fatal im Leben wiederholt. "Wir waren", sagt das Kind, dem die Geschichte in den Mund gelegt ist, "füreinander Ungeheuer." Die Erzählung mit ihrer komplexen Emotionalität und tiefenpsychologischen Dimension gewinnt Kontur und eine fast burleske Atmosphäre durch das kleinbürgerliche Milieu, in dem sie angesiedelt ist.
Eine Mutter-Tochter-Beziehung bestimmt auch die Erzählung "Stinkreich". Das am Rand der Pubertät stehende Kind will vor allem dem Liebhaber der Mutter gefallen. Doch die hat sich gerade von dem Mann getrennt, und er ist zu seiner Frau zurückgekehrt, der das frühreife Mädchen zugetan ist. Eigentlich liebt diese Karin alle Erwachsenen um sich herum, deren Beziehungswirrwarr sie altklug zu verstehen glaubt. Die Geschichte gipfelt in einer seltsamen Brandkatastrophe. Bei einem Abendessen der Dreieckspartner fängt der Schleier des Mädchens, das sich als Braut verkleidet hat, Feuer, das Kind steht in Flammen. Alice Munro läßt die mehrdeutige Geschichte mit einer bitteren Pointe enden. Die vom Brand gezeichnete Karin hat im Feuerbad die Liebe hinter sich gelassen. Trotzig schwelgt sie in dem siegreichen Gefühl, "auf sich allein gestellt" zu sein.
In "Die Kinder bleiben hier" verläßt eine Frau während eines scheinbar perfekten Urlaubs von jetzt auf gleich ihre Familie. Meisterhaft enthüllt Munro die kleinen Irritationen, denen die eigenwillige Pauline durch ihre Schwiegereltern und einen ewig witzelnden Gatten ausgesetzt ist. Freilich, nichts davon würde zur Katastrophe führen, wenn die junge Frau nicht den Hang zum Romanhaften hätte. Sie denkt sich in die Rolle der Eurydike hinein, die sie bei einer Amateurtruppe spielt und wo sie in ein Verhältnis mit dem hallodrihaften Theaterleiter hineingeschlittert ist. Mit besonderer Leidenschaft hängt sie an ihren zwei kleinen Töchtern. Dennoch will sie auch eine Frau sein, "die unbegreiflicher- und erschreckenderweise alles aufgab". Das Bewußtsein, von jetzt an mit dem chronischen Schmerz des Verlusts leben zu müssen, schreckt sie, hält sie aber von ihrem Tun nicht ab.
Die Geschichte wird im Rückblick erzählt, wie Munro es häufig tut. Der Vordergrund ist ohne Menschen, die Gegenwart leer. In der knappen Schlußszene, die viele Jahre später spielt, fragt eine der beiden erwachsenen Töchter die Mutter ironisch, ob der Mann, mit dem sie damals durchbrannte, Orpheus gewesen sei, wie der Vater ihnen erzählt habe. In die letzten Worte der Erzählung geht die Bitternis eines verfehlten Lebens ein, wird die Bilanz einer falschen Entscheidung gezogen. "Nein. Der bestimmt nicht."
Ein enttäuschender Partner ist auch "R." in der Erzählung "Vor dem Wandel", an den die Exfreundin einen langen Brief schreibt. Sie hat gerade ihr Studium beendet und ist in das Haus ihres Vaters, eines verwitweten Landarztes, zurückgekehrt. Der Mann - "Heuchler, Jammerlappen, Philosophielehrer", beschimpft sie ihn -, der Dozent an einem theologischen College ist, hat sie nicht geheiratet, weil sie schwanger war. Der Streit darüber, ob das Kind seiner Karriere schaden würde, erbitterte die Frau so sehr, daß sie es nicht abtrieb, wie der Vater es wünschte. Aber sie handelt nicht aus Liebe, sondern aus Trotz. Nach der Geburt gibt sie das Kind zur Adoption frei.
Die von vielfältigen Ironien getränkte Geschichte wird nach und nach enthüllt, während die Briefschreiberin in dem heruntergekommenen Haus mit dem knorrigen Tyrannen und einer vampirhaften, geistig wenig bemittelten Haushälterin zurechtzukommen versucht. Erst allmählich merkt die Tochter, daß der Vater seit Jahrzehnten illegale Abtreibungen vornimmt. Zahlt er der Haushälterin, die ihm dabei behilflich ist, ein Schweigegeld? Liebt er sie womöglich? Der Höhepunkt der Erzählung ist ein Eingriff, bei dem die Tochter assistieren muß. Dabei erlebt sie den sonst so harten Mann zum ersten Mal als einen ganz anderen. Das ermutigt sie, dem Vater ihre eigene Geschichte zu erzählen. Daß der Alte, der zusammengesunken am Tisch sitzt, kurz vor seinem Tod steht und sie nicht mehr hört, bemerkt sie nicht.
Alice Munros Erzählungen handeln vom kleinen Unglück, in das sich Menschen hineinmanövrieren, wenn sie vom Glück träumen. Ihre Heldinnen heiraten Hals über Kopf, empfinden die Ehe als einen "glitzernden Anbau in ihrem Leben", laufen abrupt davon. Das könnte banal sein, wäre da nicht die große erzählerische und sprachliche Kunst dieser kanadischen Schriftstellerin, die Zeit- und Handlungssprünge, die offenen schwebenden Enden, die Mehrdeutigkeit, welche das Leben ihrer Protagonisten mit einer Aura des Geheimnisses umgibt. Dabei erlaubt sie sich niemals eine vordergründige Symbolik, sondern ihr Ton ist von einer fast knochentrockenen Beiläufigkeit, welchem die Übersetzung von Heidi Zerning vortrefflich gerecht wird.
RENATE SCHOSTACK
Alice Munro: "Der Traum meiner Mutter". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Heidi Zerning. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2002. 221 S., geb., 18,-
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