Der Schlaf: seit Jahrtausenden Gegenstand von Mythen, Erzählungen und Bildern. Der Mensch verschläft ein gutes Drittel seines Lebens. Die Zeit, die wir im Schlaf verbringen, ist eine unbewusste, unproduktive und untätige, aber auch eine lebensnotwendige und herbeigesehnte Zeit. Wie geht nun eine Gesellschaft, in der wissenschaftliches Verstehen, Rationalität und Effizienz eine zentrale Rolle spielen, mit einem so widerspenstigen Phänomen wie dem Schlaf um? Hannah Ahlheims Studie über die Entwicklung des »Schlafwissens« in Deutschland und den USA seit dem späten 19. Jahrhundert verbindet konsequent die Geschichte einer Wissenschaft mit der Geschichte der modernen Gesellschaft. Sie zeigt, dass nicht nur das Bild vom schlafenden Körper, der träumenden Seele bzw. dem träumenden Gehirn ein anderes geworden ist. Die Arbeit mit dauerwachen Maschinen, aufgeweichte Grenzen zwischen Tag und Nacht, Fortschritte der Wissenschaft, die Entwicklung von synthetischen Schlafmitteln und die Erfahrungen des Krieges stellten neue Anforderungen an die alltägliche Organisation des Schlafens und beförderten die Angst vor dem Verlust des Schlafs.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2018Träume als Schäume
Hannah Ahlheim widmet sich der Schlafforschung
Ein Drittel seiner Lebenszeit verbringt der Mensch im Schlaf. Wenn auch die biologische Notwendigkeit dieser Auszeit vom tätigen Leben außer Frage steht, ist doch bis heute nicht sicher geklärt, warum wir schlafen müssen und welche Funktion der Schlaf eigentlich hat. Seit mehr als zweihundert Jahren haben Wissenschaftler Schlafzustände bei Mensch und Tier untersucht, doch hat sich keine der Theorien durchsetzen können. Nichtsdestotrotz existiert seit geraumer Zeit eine Vielzahl von Ratgebern, die den Schlaflosen Theorien und Ratschläge an die Hand gibt.
Das anhaltende Interesse an einer wissenschaftlichen Lösung des Schlafproblems sei vor allem politischen und ökonomischen Faktoren geschuldet, so lautet die die These, die die Historikerin Hannah Ahlheim zu belegen sucht. Ihr Buch, das sich der Karriere eines das zwanzigste Jahrhundert durchziehenden "Schlafdiskurses" und einer neuen "Schlafindustrie" im Deutschen Reich, in der BRD und den Vereinigten Staaten widmet, erweitert damit die Perspektive der bereits durch den kanadischen Historiker Kenton Kroker gut erforschten amerikanischen Schlafforschung. Ahlheim widmet sich dabei ausführlich den populären Vorstellungen, wie sie in der Ratgeberliteratur verbreitet waren, und rekonstruiert auch Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Industrie und Militär. Dabei geht es vor allem um die zunehmende gesellschaftliche Anerkennung eines Wissens von Schlafexperten, die sich der Autorin zufolge als ein "Deutungskampf zwischen naturwissenschaftlichen und humanwissenschaftlichen Ansätzen" ausnimmt.
Zentrale Vorstellungen der Wissenschaft waren die eines Schlafsteuerungszentrums im Gehirn, wie es dem Neurologen Constantin von Economo in den zwanziger Jahren vorschwebte, oder die einer inneren biologischen Uhr, denen die Zyklen von Schlaf und Wachen gehorchten. Dass die deutsche Schlafforschung der bis heute führenden amerikanischen lange Zeit hinterherhinkte, hatte Ahlheim zufolge vor allem politische Gründe. So dominierte auf der diskursiven Ebene in Deutschland noch bis in die sechziger Jahre die Idee von einem allumfassenden Lebensrhythmus, der menschliche Lebensvorgänge einer kosmischen Ordnung unterworfen sah und der sich auch bestens in die nationalsozialistische Weltanschauung einpassen ließ. Nach dem Ende des Hitler-Regimes hat die Auseinandersetzung mit der Schlaflosigkeit für Ahlheim vor allem dazu gedient, ein "Unwohlsein" zu formulieren, letztlich als eine Form der Abwehr und des Verdrängens psychischer Erschütterungen und sozialer Konflikte.
Die Autorin sucht nach einer Verknüpfung von Wissenschafts- und Sozialgeschichte, die allerdings nicht in allen Teilen überzeugend ausfällt. Dieser Eindruck stellt sich vor allem im sehr langen ersten Teil ein, der mit großem Aufwand die Lebenswissenschaften in einem "nervösen Zeitalter" zu verorten sucht und deren primäre Funktion darin sieht, die "Leistungsfähigkeit" des mit Reizen überfluteten Individuums zu erhalten. Allzu oft erscheint die wissenschaftliche Praxis als Spiegelung der sozialen oder politischen Realität. So werden die Suche nach der Steuerung des Schlafs im Gehirn und auch die wissenschaftlichen Modelle der Schlafforschung generell als "geprägt von den Gesellschaftsbildern der Zeit" angesehen.
Die zweite Hälfte des Buchs, die die Jahre des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit behandelt, zeichnet ein nuancierteres und aus den Quellen gearbeitetes Bild der bisher kaum historisch bearbeiteten westdeutschen Schlafforschung. Angesichts der Fülle des hier verarbeiteten Materials hätte man sich ein Register gewünscht, auf das der Verlag leider verzichtet hat.
Wenn das Projekt einer physiologischen Erforschung des Schlafs vor allem aus den Imperativen einer Leistungsgesellschaft resultiert, die Schlafmangel zugunsten eines immer Fit-sein-Müssens ausschalten will, wie auch eine Reihe von anderen Autoren (etwa Jonathan Crary) jüngst beklagt hat, so erweist sich der wissenschaftliche "Traum vom Schlaf" weitgehend als ideologisch versetzter Schaum. Dass die Schlafforschung - wie auch andere Wissenschaften - mit Optimierungsphantasien des Menschen einherging, die an der Realität des Schlafens selbst vorbeigehen - so lautet das zivilisationskritische Fazit einer Geschichte der "Verwissenschaftlichung" des Menschen, die nicht gelingt und sogar scheitern muss.
Denn für Ahlheim gilt der Vorgang des Schlafens selbst vorweg als ambivalent oder sogar als ein "revolutionärer Akt" in der Gesellschaft des Spätkapitalismus. Die konkreten Formen der im Untertitel beschworenen "Widerständigkeit" bleiben dabei unscharf. Wie sich der Schlaf innerhalb der Forschungspraxis als ein schwer zu fassendes Objekt erwiesen hat und wie die Versuchspersonen im Schlaflabor auf die mit ihnen angestellten Experimente reagiert haben, wird hier nicht erzählt.
ANDREAS MAYER
Hannah Ahlheim: "Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert". Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2018.
695 S., Abb., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hannah Ahlheim widmet sich der Schlafforschung
Ein Drittel seiner Lebenszeit verbringt der Mensch im Schlaf. Wenn auch die biologische Notwendigkeit dieser Auszeit vom tätigen Leben außer Frage steht, ist doch bis heute nicht sicher geklärt, warum wir schlafen müssen und welche Funktion der Schlaf eigentlich hat. Seit mehr als zweihundert Jahren haben Wissenschaftler Schlafzustände bei Mensch und Tier untersucht, doch hat sich keine der Theorien durchsetzen können. Nichtsdestotrotz existiert seit geraumer Zeit eine Vielzahl von Ratgebern, die den Schlaflosen Theorien und Ratschläge an die Hand gibt.
Das anhaltende Interesse an einer wissenschaftlichen Lösung des Schlafproblems sei vor allem politischen und ökonomischen Faktoren geschuldet, so lautet die die These, die die Historikerin Hannah Ahlheim zu belegen sucht. Ihr Buch, das sich der Karriere eines das zwanzigste Jahrhundert durchziehenden "Schlafdiskurses" und einer neuen "Schlafindustrie" im Deutschen Reich, in der BRD und den Vereinigten Staaten widmet, erweitert damit die Perspektive der bereits durch den kanadischen Historiker Kenton Kroker gut erforschten amerikanischen Schlafforschung. Ahlheim widmet sich dabei ausführlich den populären Vorstellungen, wie sie in der Ratgeberliteratur verbreitet waren, und rekonstruiert auch Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Industrie und Militär. Dabei geht es vor allem um die zunehmende gesellschaftliche Anerkennung eines Wissens von Schlafexperten, die sich der Autorin zufolge als ein "Deutungskampf zwischen naturwissenschaftlichen und humanwissenschaftlichen Ansätzen" ausnimmt.
Zentrale Vorstellungen der Wissenschaft waren die eines Schlafsteuerungszentrums im Gehirn, wie es dem Neurologen Constantin von Economo in den zwanziger Jahren vorschwebte, oder die einer inneren biologischen Uhr, denen die Zyklen von Schlaf und Wachen gehorchten. Dass die deutsche Schlafforschung der bis heute führenden amerikanischen lange Zeit hinterherhinkte, hatte Ahlheim zufolge vor allem politische Gründe. So dominierte auf der diskursiven Ebene in Deutschland noch bis in die sechziger Jahre die Idee von einem allumfassenden Lebensrhythmus, der menschliche Lebensvorgänge einer kosmischen Ordnung unterworfen sah und der sich auch bestens in die nationalsozialistische Weltanschauung einpassen ließ. Nach dem Ende des Hitler-Regimes hat die Auseinandersetzung mit der Schlaflosigkeit für Ahlheim vor allem dazu gedient, ein "Unwohlsein" zu formulieren, letztlich als eine Form der Abwehr und des Verdrängens psychischer Erschütterungen und sozialer Konflikte.
Die Autorin sucht nach einer Verknüpfung von Wissenschafts- und Sozialgeschichte, die allerdings nicht in allen Teilen überzeugend ausfällt. Dieser Eindruck stellt sich vor allem im sehr langen ersten Teil ein, der mit großem Aufwand die Lebenswissenschaften in einem "nervösen Zeitalter" zu verorten sucht und deren primäre Funktion darin sieht, die "Leistungsfähigkeit" des mit Reizen überfluteten Individuums zu erhalten. Allzu oft erscheint die wissenschaftliche Praxis als Spiegelung der sozialen oder politischen Realität. So werden die Suche nach der Steuerung des Schlafs im Gehirn und auch die wissenschaftlichen Modelle der Schlafforschung generell als "geprägt von den Gesellschaftsbildern der Zeit" angesehen.
Die zweite Hälfte des Buchs, die die Jahre des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit behandelt, zeichnet ein nuancierteres und aus den Quellen gearbeitetes Bild der bisher kaum historisch bearbeiteten westdeutschen Schlafforschung. Angesichts der Fülle des hier verarbeiteten Materials hätte man sich ein Register gewünscht, auf das der Verlag leider verzichtet hat.
Wenn das Projekt einer physiologischen Erforschung des Schlafs vor allem aus den Imperativen einer Leistungsgesellschaft resultiert, die Schlafmangel zugunsten eines immer Fit-sein-Müssens ausschalten will, wie auch eine Reihe von anderen Autoren (etwa Jonathan Crary) jüngst beklagt hat, so erweist sich der wissenschaftliche "Traum vom Schlaf" weitgehend als ideologisch versetzter Schaum. Dass die Schlafforschung - wie auch andere Wissenschaften - mit Optimierungsphantasien des Menschen einherging, die an der Realität des Schlafens selbst vorbeigehen - so lautet das zivilisationskritische Fazit einer Geschichte der "Verwissenschaftlichung" des Menschen, die nicht gelingt und sogar scheitern muss.
Denn für Ahlheim gilt der Vorgang des Schlafens selbst vorweg als ambivalent oder sogar als ein "revolutionärer Akt" in der Gesellschaft des Spätkapitalismus. Die konkreten Formen der im Untertitel beschworenen "Widerständigkeit" bleiben dabei unscharf. Wie sich der Schlaf innerhalb der Forschungspraxis als ein schwer zu fassendes Objekt erwiesen hat und wie die Versuchspersonen im Schlaflabor auf die mit ihnen angestellten Experimente reagiert haben, wird hier nicht erzählt.
ANDREAS MAYER
Hannah Ahlheim: "Der Traum vom Schlaf im 20. Jahrhundert". Wissen, Optimierungsphantasien und Widerständigkeit.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2018.
695 S., Abb., geb., 39,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die zweite Hälfte des Buches (...) zeichnet ein nuanciertes und aus den Quellen gearbeitetes Bild der bisher kaum historisch bearbeiteten westdeutschen Schlafforschung.« (Andreas Mayer, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.10.2018) »Wer es (liest), wird seine ureigensten Schlafgewohnheiten nicht nur kulturgeschichtlich einordnen, sondern auch kritisch hinterfragen können.« (Martin Hubert, WDR3 Mosaik, 22.06.2018) »ein sehr lesenswertes und spannendes Sachbuch« (Ellen Schweda, MDR Kultur, Sachbuch der Woche, 22.08.2018) »Das Buch ist eine Gesamtdarstellung im besten Sinne, auf der Höhe des aktuellen Forschungsstands, klar und spannend geschrieben (...).« (Philipp Osten, Gesnerus 76 (2019))