Tommy wächst in der kargen Landschaft Spitzbergens mit zwei Brüdern bei seiner geliebten Großmutter auf. Als wichtigste Lebensweisheit gibt sie ihm mit: In einer großflächig zerstörten Welt ist die Saatgutkammer ein Schatz, der mit allen Mitteln beschützt werden muss. Tommy soll diese Aufgabe später von seiner Großmutter übernehmen. In eindrucksvollen Bildern und mit viel Wärme erzählt Maja Lunde von der Bedeutung des Familienzusammenhalts und von unserem Umgang mit der Natur. Sie beschäftigt sich mit den drängenden Fragen unserer Zeit: Wie wurde der Mensch zu einer Spezies, die alles verändert hat? Und sind wir selbst eine bedrohte Art?
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Das Finale des "Klimaquartetts" von Maja Lunde führt zum Saatgut-Tresor auf Spitzbergen und warnt uns vor der eigenen Umwelt-Hybris
Die Norwegerin Maja Lunde wird seit Erscheinen ihres Artensterben-Wälzers "Die Geschichte der Bienen" 2017 herumgereicht wie die Schriftstellerin der Stunde. Wie genau sich der Kauf von vier Bänden Lunde auf die persönliche Klimabilanz anrechnen lässt, wird aktuell noch geprüft. Aber wer die auf drei Zeitebenen (1852 in England, 2007 in Ohio, 2098 in China) angesiedelten "Bienen" las, die nach Norwegen im Jahr 2017 und Frankreich im Jahr 2041 führende Ergänzung "Die Geschichte des Wassers", den Wildpferde-Band "Die Letzten ihrer Art" (Petersburg 1881, Mongolei 1992, Norwegen 2064) und nun das Finale "Der Traum von einem Baum" - der kann zumindest einen Beschwichtigungsversuch starten, wenn die Heizungspolizei auf die klappernde Gastherme klopft.
Und einige Leser schreiten nach der Lektüre ja wirklich zur Tat, wie es beim Investor Jens Ulltveit-Moe gewesen sein soll. Der strich ehedem im Ölboom Norwegens größere Gewinne ein, ist heute ein Grüner, und wenn es stimmt, was der Achtzigjährige in der salbungsvollen Arte-Doku "Das Phänomen Maja Lunde" erzählt, dann waren es neben dem nüchternen Bericht des Weltklimarats die emotionalen Bücher Maja Lundes, die ihn unlängst zur Finanzierung eines pädagogisch wertvollen "Klimahauses" in Oslo bewegten.
"Der Traum von einem Baum" ist wieder reizvoller als die etwas langatmigen zweiten und dritten Bände von Lundes alarmistischem "Klimaquartett": Einige Kinder und Jugendliche kämpfen in unwirklicher, unwirtlicher arktischer Landschaft ums Überleben wie die letzten Menschen auf Erden. Und kennen doch den Weg zu einem Schatz, der das Ende des menschlichen Zeitalters vielleicht noch eine Runde hinauszögern könnte.
Die Handlung hat Züge einer Robinsonade. Sie spielt überwiegend auf Spitzbergen Anfang des 22. Jahrhunderts. Allerdings springt sie gelegentlich auch in die Zeit von Stalin und Hitler, in welcher der Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow in Leningrad wirkte, und im Prinzip müsste man auch das Jahr 2008 noch hinzunehmen. Damals wurde auf Spitzbergen der "Svalbard Global Seed Vault" eröffnet, ein real existierender, mit einem Star-Wars-mäßigen Betonportal gesicherter Tresor für das Saatgut von Nutzpflanzen aus aller Welt. Von dieser "Arche Noah der Pflanzen", deren Innenräume auf minus achtzehn Grad heruntergekühlt werden, könnte im Zweifel, wenn alles im Eimer ist, die Zukunft der Menschheit abhängen.
2110 ist es so weit: Ein mit Segeln und Solarzellen betriebenes Schiff aus China steuert Spitzbergen an, um das dringend benötigte Saatgut zu holen, und als es wieder ablegt, hat es mehrere Kinder an Bord - nicht aber den erhofften Schatz und auch nicht die Hauptfigur des Romans, den achtzehnjährigen Tommy. Er ist der große Bruder der Kinder und nun, sieht man einmal von seiner verschollenen Freundin Rakel ab, allein auf der einstigen Bergbauinsel zwischen norwegischem Festland und Nordpol.
Der Aufbau des Romans orientiert sich an der Spannungsautomatik moderner Fernsehserien, wie der "Traum von einem Baum" überhaupt wie die Vorarbeit zur unvermeidlichen (hoffentlich besser als die Verfilmung von Schätzings "Schwarm" gelingenden) Verfilmung der Reihe erscheint. Auf die Abfahrt des Schiffes ohne Tommy, der in die verrostete Satellitenstation auf dem Berg eilt und die Besatzung verzweifelt per Funk zur Umkehr zu bewegen versucht ("Mayday, mayday"), folgen Rückblenden, mit denen die Vorgeschichte Puzzlestück um Puzzlestück erkennbar wird.
Über das Geschehen außerhalb Spitzbergens verliert Maja Lunde nicht zu viele Worte. Der "Kollaps" der Welt, der große Hunger, die vielen Jahrzehnte seit den Sechzigerjahren des 21. Jahrhunderts, als die letzten Flüchtlinge aus Norwegen, dem "Land der Gesetzlosen", auf Spitzbergen eintrafen, den Kontakt zur Außenwelt abbrachen und sicherheitshalber auch noch Landebahn und Häfen zerstörten - Lunde will es nur tupferartig skizzieren.
Das geht in Ordnung. Die anderen Bände, die man zum Verständnis nicht gelesen haben muss, enthalten ja weitere Stichworte. Die "Geschichte der Bienen" etwa endete zwölf Jahre vor den Szenen im "Traum von einem Baum" - in einem China, wo man zur mühsamen Einzelbestäubung der Blüten übergegangen ist.
Entscheidend ist: Die Not leidende Welt vergaß in den Jahrzehnten vor 2110 vor lauter Dramatik die Existenz des Saatgut-Tresors. Und auch die Situation auf dem denkbar abgeschiedenen, von schlimmen Erdrutschen heimgesuchten Spitzbergen wurde immer prekärer. "Es war nur eine Frage der Zeit . . . bis die Stürme die Windräder von den Dächern gefegt und zerstört hätten; bis die Solarzellen und die Batterien keinen Strom mehr produzierten und speicherten. Sie lebten auf der Müllhalde des modernen Menschen" und bereiteten sich auf "die Zeit danach", das Leben als "Jäger und Sammler" vor. Die düstersten Seiten des Romans beschreiben die Folgen eines Virus, das die letzten fünfhundert Insulaner dahinrafft.
Einzige Überlebende der Seuche sind Tommy und Rakel und ihre Geschwister. Sie nehmen Kontakt mit Tao auf (aus der "Geschichte der Bienen") und scheinen noch den Eingang zum Saatgut-Tresor zu kennen. Tommys Oma Louise (aus Band zwei und drei) war die letzte Hüterin dieses "wichtigsten Raumes der Welt". Sie schärfte Tommy ein, dass man die Samen nicht mal zum eigenen Überleben anrühren dürfe, und murmelte hintendrein, dass die Menschheit eine Rettung durch den Schatz eigentlich nicht mehr verdiene.
Je länger man darüber nachdenkt, um so richtiger und unheimlicher wird dieser Hinweis. Das Rätsel der Anfangsszene des Romans geht mit ihm über die Frage hinaus, ob das Saatgut noch existierte, als Tao in der Hoffnung auf den "wogende gelbe Kornfelder, Getreide, Mais, Reis, Soja" verheißenden Schatz in Spitzbergen eintraf. Es könnte sein, dass es existierte, aber einer Welt, die es doch bloß wieder zur Entfesslung ihrer Vernichtungskräfte verwenden würde, vorenthalten wurde.
"Der Traum von einem Baum" liest sich nicht von ungefähr wie ein apokalyptischer Jugendroman. Bevor sie 2015 die "Geschichte der Bienen" vorlegte, schrieb Lunde unter anderem den historischen Roman "Flucht über die Grenze" für Kinder und den ersten Band einer humorvollen Reihe namens "Die coolste Gang der Welt", die bis 2017 auf fünf Teile anwuchs, und sie hat auch parallel zum "Klimaquartett" weitere Jugendbücher verfasst. Sie weiß genau, was sie tut. Ihre Sprache ist schlicht und verständlich, das eingestreute Sachbuchwissen nicht zu komplex, wenn auch arg von ihrer Botschaft beseelt. In den Achtzigerjahren hätte sich das Finale ihrer Weltuntergangssaga gut neben Büchern wie "Z wie Zacharias" in der roten Reihe ("Lesen, nachdenken, mitreden") von dtv Junior gemacht.
Störend sind Ausflüge in den Kitsch. Man nehme nur das kurze Vorspiel, das Tommy als kleines Kind beim Umarmen eines angeschwemmten Baums zeigt. Oder das Glaubensbekenntnis, welches die Isolationisten in Longyearbyen beim "letzten normalen Weihnachtsabend" zwei Jahre vor Ankunft des Schiffes gemeinsam aufsagen: "Wir schwören / dass wir voller Respekt leben / vor jedem Tier / jeder Pflanze / vor jedem einzelnen Wesen / mit dem wir uns umgeben . . . Denn wir wollen die Fehler der Menschheit nicht wiederholen / sondern jeden Tag Liebe empfinden / zu allem, was lebt."
Aber Kitsch und Öko gehörten schon immer zusammen. Vielleicht braucht es auch einfach den Wärmestrahl als Ausgleich zu Szenen, in denen die Angst auf Spitzbergen umgeht und die Leichen von Virus-Opfern in Öfen geschoben werden, wie es zum Abschluss der Reihe auch Kinderglück und eine Handfläche braucht, aus der "etwas Pflanzliches" im Licht der Sonne in die Luft weht. Ohne einen Funken Hoffnung würden wir alle verrückt. MATTHIAS HANNEMANN
Maja Lunde: "Der Traum von einem Baum". Roman.
Aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein. Btb Verlag, München 2023. 560 S., geb., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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