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Warum soll man ein Buch lesen über einen, der mit 22 Torwart bei den Sportfreunden Neitersen war und mit 32 Büroartikel in Köln-Hürth verkauft? Weil in den zehn Jahren dazwischen eine gute Geschichte liegt; davon gibt es nie genug. "Der Traumhüter" ist nur vordergründig die Geschichte des Lars Leese, der drei Jahre Profi war und einen Tag lang der Held der Anfield Road; es ist eine über Fußball als Leidenschaft, als saftiges Stück Leben. Der Journalist Ronald Reng, der fünf Jahre lang über Englands Fußball berichtete, hat aus diesem Rohstoff eines der wenigen Bücher gemacht, die einen unverstellten Blick auf den Fußball werfen. Während die Biographien der Millionärskicker meist Banalitäten aus dem großen Big-Brother-Container der Medienwelt bieten, sind hier frisch und farbig Erlebnisse und Einblicke eines Grenzgängers zu lesen.
Eher durch Zufall wurde Lars Leese mit 27 Jahren noch Fußballprofi. Als Amateurtorwart war er 1996 Spähern von Bayer Leverkusen aufgefallen; Erich Ribbeck wollte ihn als dritten Torwart. Innerlich aufgewühlt von der einmaligen Chance, die Leidenschaft zum Beruf zu machen, saß Leese im Büro von Manager Reiner Calmund, und beide schrieben ihre Idee vom Gehalt des Neulings verdeckt auf einen Zettel. Leese pokerte nicht zu hoch - 14 000 Mark pro Monat. Er hatte den Vertrag, sein Ticket für die Traumwelt. "Leese fuhr 200 Meter vom Haberland-Stadion weg, hielt seinen Escort Cabrio an, stellte den Motor aus und brüllte: Jaaaaaaaaaaaaa! Jaaaaaaaaa!" Ein Jahr später war er zweiter Torhüter beim FC Barnsley, einem Kleinstadtklub, der gerade zum ersten Mal in 110 Jahren in die höchste englische Liga aufgestiegen war. Am vierten Spieltag erlitt Stammtorwart David Watson einen Niereneinriß, Leese kam ins Tor und hielt den Sieg gegen Bolton fest. Es folgten zwanzig Partien als Profi, darunter sein größtes Spiel, als er bei Rekordmeister FC Liverpool mit überragenden Paraden dem Aufsteiger einen 1:0-Sieg sicherte. Sechs Jahre nach der Kreisliga Westerwald war Lars Leese der Held des Tages in der Premier League, vor 40 000 Zuschauern an der Anfield Road, der vielleicht gewaltigsten Bühne, die der Fußball hat.
Ein Jahr später war Barnsley wieder in der zweiten Liga. Der Trainer ging, der neue wollte weniger Ausländer im Team, kein Platz mehr für den Deutschen. Neuer Chef, falsche Chemie, ein verdorbenes Hühnchen, ein großspuriger Manager, dumme Zufälle - Kleinigkeiten entscheiden im Fußball zwischen Erfolg und Mißerfolg. Im Falle des Grenzgängers Leese entschieden sie zwischen dem Platz in der Traumwelt und dem im Wartezimmer des Arbeitsamtes. Manager Tony Woodcock vermasselte ihm mit überhöhten Forderungen einen Wechsel nach Schottland. So kehrte Leese nach zwei Jahren auf der Insel zurück und fand sich vom deutschen Arbeitsamt eingeteilt in die Kategorie "künstlerische und ähnliche Tätigkeiten". Die Alternativjobs: Bauchredner, Clown, Fahnenschwenker.
Mit 30 war er wieder Zaungast der Traumwelt, als deren Teil er sich drei Jahre lang fühlen konnte. Mit großen Augen hatte er sie von innen erlebt, und weil man so mehr sieht als mit dem Tunnelblick des gelernten Profis, hat er mehr zu erzählen als andere nach zwanzig Jahren. Zum Beispiel vom ganz eigenartigen Konkurrenzkampf unter Torhütern, die eine Solidarität der Außenseiter im Team pflegen (derjenigen, die früher die Längsten waren und deshalb ins Tor mußten); die zugleich einander bekämpfen, so wie es der zweite mit dem ersten Torwart tut, wenn er beim Warmschießen vor dem Spiel immer auch ein paar "Unhaltbare" einstreut, um dann zu sagen: "Ich habe nicht daran gedacht, daß du nicht gut genug für solche Schüsse bist." Oder von der sentimentalen Beziehung zu den Handschuhen, die unter der Dusche penibel mit Shampoo gereinigt werden: "Allein das Geräusch, wenn die bespuckten Handschuhe den trockenen Ball greifen, macht den Torwart glücklich; das dumpfe Plopp! bringt ihn auf den Gedanken, unschlagbar zu sein."
Wie aufmerksame Völkerkundler berichten Reng und Leese auch von den Eigentümlichkeiten des englischen Fußballs, von dessen Ritualen kindischer Männlichkeit: dem Gruppenzwang, sich schlecht zu benehmen, mit Essen zu werfen, um die Wette zu furzen, endlos Bier zu trinken, unter den Kneipentisch zu pinkeln. Sozialer Höhepunkt von Barnsleys Jahr in der Premier League war die hemmungslose Weihnachtsfeier, auf der Profis sich als Hitler-Double oder BDM-Mädel verkleideten und aus der Mannschaftskasse bezahlte Strip-Tänzerinnen vernaschten.
Auch wenn der Verlag sich in der Liga vertut, wenn er das Buch mit einem anderen aus seinem Programm vergleicht, mit Nick Hornbys "Fever Pitch" - "Der Traumhüter" verdient seinen unerwarteten Erfolg. Eine ungewöhnliche Geschichte, die irgendwie jedem so oder ähnlich hätte passieren können, unprätentiös erzählt und vor allem: von Anfang bis Ende, nicht nur in den Schlaglichtern des Medien-Stroboskops, das jeden Tag eine andere Flüchtigkeit beleuchtet - das klingt nach nichts Besonderem, ist es aber in der deutschen Fußball-Literatur. Denn der Fußball hat eine epische Kraft, die durch seine dramatische Überhöhung in Bild und Wort immer mehr verschüttet wird. Er hat viele gute Geschichten. Er braucht nur gute Erzähler.
CHRISTIAN EICHLER
Besprochenes Buch: Ronald Reng: "Der Traumhüter. Die unglaubliche Geschichte eines Torwarts". Kiepenheuer & Witsch, Köln. 256 Seiten, 8,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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