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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie ist es, wenn man nur in den Geschichten anderer Leute lebt? Matthias Nawrats eindrucksvoller Episodenroman "Der traurige Gast" führt es vor.
Der Anfang klingt ziemlich unspektakulär: Der Ich-Erzähler, ein junger Berliner Pole, fährt an einem Wintersonntag ans andere Ende der Stadt. In einem Restaurant, das sich in der Nähe einer polnischen Kirche befindet, möchte er eine Portion Pierogi, also leicht klebrige Maultaschen, die zum eisernen Repertoire jedes polnischen Lokals gehören, und die Nähe seiner Landsleute genießen. Seine Eskapade scheint sich wenig gelohnt zu haben. Das Restaurant hat außer dem Namen, "Der kleine Prinz", nichts Sympathisches an sich, das Essen schmeckt durchschnittlich, das Gespräch, das er mit seinem Tischnachbarn, einem ehemaligen Klavierstimmer, führt, ist ebenso banal wie der Inhalt seines Tellers. Und da in der Kirche die Messe zu Ende gegangen ist und das Restaurant sich langsam füllt, zahlt er und tritt wieder in die kühle Berliner Winterluft hinaus, "für einen Moment geblendet von dem grellen Himmel, der sich über die Kirche und den Friedhof auf der anderen Straßenseite und über die ganze Stadt" spannt.
Trotz der Verheißung einer Erweiterung der Perspektive, die in diesem Nebensatz steckt, verlässt einen der Eindruck der Banalität, die womöglich erzählerisch in eine Sackgasse führen könnte, auch über die nächsten Seiten nicht. Denn der namenlose Erzähler, ein angehender Schriftsteller, der "über verschiedene Dinge, zuletzt über meine Familie und Leute, die ich kenne", schreibt, nimmt sich viel Zeit, um über seinen Alltag zu berichten. Über einen Spaziergang, bei dem er sich "von der Stimmung der Leute treiben" lässt, den Gang zum Friseur, die Umbaupläne, die er und seine Frau in Bezug auf ihre Wohnung schmieden. Allerdings wird dem Leser schnell klar, dass dies von Matthias Nawrat durchaus beabsichtigt ist, dass er von seinem sorgfältig komponierten, dreiteiligen Roman keine in sich geschlossene Geschichte erwarten, sondern sich eben auf viele kleine Episoden einstellen soll. Und er merkt auch recht bald, wie sehr ihn diese Geschichten zu faszinieren beginnen.
Dieses Gefühl kommt spätestens dann auf, als der Erzähler eine ältere polnische Architektin namens Dorota kennenlernt, die zwar immer noch Aufträge annimmt, sich aber dabei weigert, ihr Viertel zu verlassen. Er hat sie im Zusammenhang mit seinen Umbauplänen kontaktiert und ist seitdem häufiger Gast in ihrer Schöneberger Wohnung, in der sie ihm einen ungenießbaren Kuchen vorsetzt und aus ihrem Leben erzählt. Oder auch aus dem Leben eines anderen. Etwa dem des polnisch-jüdischen Dichters Arnold Slucki, der, einst glühender Kommunist, infolge der antisemitischen Hetze von 1968 seine Privilegien und seine Heimat verlor, nach Israel emigrierte und sich schließlich in West-Berlin niederließ, wo er mit 52 Jahren starb.
Dorotas Schilderungen haben für den Erzähler eine ebenso starke Anziehungskraft wie ihre Ansichten über Kunst und Architektur oder ihre exzentrische Art. Trotzdem hat er manchmal beim Verlassen ihrer Wohnung das Gefühl, "entkommen, gerettet worden zu sein", was sich auch bei seinem letzten Besuch gewissermaßen bestätigt: Er erfährt, dass die Architektin sich in ihrem Schlafzimmer erhängt hat.
Seine Unruhe und Verwirrung werden bald durch weitere Begegnungen gesteigert - etwa mit Karsten, seinem früheren Studienfreund, der bei der Charité als Molekularbiologe arbeitet und dabei von einer Sinnkrise geplagt wird. Und vor allem mit Dariusz, einem ebenfalls polnischen Ex-Chirurgen, der mal an einer Tankstelle, mal in billigen Kneipen jobbt und sich abends in seiner schäbigen Souterrainwohnung besäuft, um dadurch leichter mit dem Tod seines Sohnes, der nach Südamerika ausgewandert und dort ertrunken ist, fertig zu werden.
Die meisten der Geschichten, die der Erzähler zu hören bekommt, bieten wenig Trost oder Grund zur Hoffnung. Teils, weil sie im Schatten der historischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts stehen; aber auch die der Gegenwart sorgen immer öfter für Angst und Verunsicherung. Die winterliche Kulisse der Handlung führt es den Protagonisten besonders scharf vor Augen: Es ist der Winter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche, und der Schock, in den er die Stadt versetzt hat, wirkt in den Alltag jedes Einzelnen hinein.
Auch der seelische Frieden des Erzählers gerät also zunehmend aus den Fugen, und die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich ihm immer klarer. Er ist zwar in all den fremden Geschichten nur "der traurige Gast", dadurch aber, dass sie ihm sehr real erscheinen, bieten sie eine große Projektionsfläche für seine eigenen Erinnerungen, Assoziationen und Reflexionen. Das vermutet man zumindest aufgrund der Neugier, die er seinen Gesprächspartnern entgegenbringt, denn ein anregender Zuhörer ist er weiß Gott nicht. Er stellt kaum Fragen, mit polemischen Kommentaren hält er sich auch zurück, und als er sich endlich zu einer energischeren Reaktion durchringt, ist es die deprimierende Feststellung, dass alles auf nichts "als auf die Leere, auf die totale Abwesenheit von Sinn" hinausläuft.
Dieses fast durchgehende Verschwinden des Erzählers hinter seinen Gesprächspartnern irritiert ein wenig. Zum einen, weil er dadurch merkwürdig farblos und meinungsschwach wirkt. Zum zweiten, weil die Ich-Form, in der sowohl seine Narration als auch ihre Monologe gehalten sind, und der zum Verwechseln ähnliche Redestil aller Beteiligten die Übergänge zwischen den einzelnen Romanteilen nahezu aufhebt. Und zum dritten, weil die Äußerungen, die der Autor wegen der besagten Blässe seines Erzählers anderen Figuren in den Mund legt, manchmal zu geschliffen und gelehrt wirken.
Diese kleinen Schwächen ändern aber nichts an der Tatsache, dass Matthias Nawrat ein Roman von großer literarischer Kraft und philosophischer Tiefe gelungen ist. Sein Erzählton ist angenehm ruhig und präzise, die Leichtigkeit, mit der er, von der Alltagsbanalität eines Berliner Mikrokosmos ausgehend, eine ganze Bandbreite an universellen Gedanken und Beobachtungen zum Zustand der heutigen Welt und unserer eigenen Befindlichkeit entfaltet, zutiefst beeindruckend. Und darüber hinaus ist es ein schönes Porträt jenes Berlins, über dem der Himmel etwas weniger grell, dafür umso einladender leuchtet.
MARTA KIJOWSKA.
Matthias Nawrat: "Der traurige Gast".
Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019. 304 S., 22,- [Euro].
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