Das Dresdner Villenviertel, vom real existierenden Sozialismus längst mit Verfallsgrau überzogen, schottet sich ab. Anne und Richard Hoffmann stehen im Konflikt zwischen Anpassung und Aufbegehren: Kann man sich vor den Zumutungen des Systems in die Dresdner Nostalgie flüchten? Oder ist der Zeitpunkt gekommen, die Ausreise zu wählen? Christian, ihr ältester Sohn, bekommt die Härte des Systems in der NVA zu spüren. Sein Onkel Meno Rohde steht zwischen den Welten: Er hat Zugang zum Bezirk »Ostrom«, wo die Nomenklatura residiert, die Lebensläufe der Menschen verwaltet werden und deutsches demokratisches Recht gesprochen wird. In epischer Sprache, in eingehend-liebevollen wie dramatischen Szenen beschreibt Uwe Tellkamp den Untergang eines Gesellschaftssystems. Ein monumentales Panorama der untergehenden DDR, in der Angehörige dreier Generationen teils gestaltend, teils ohnmächtig auf den Mahlstrom der Revolution von 1989 zutreiben. Kein anderes Buch hat in den letzten Jahren gleichermaßen Kritiker und Publikum derart begeistert.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.12.2008Untenrum nicht ganz reinlich
Vier Bestseller 2009, denen man es nicht zugetraut hätte
Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Roman
Erfolge haben viele Väter. Bei diesem Überraschungserfolg sind auch ein paar Mütter dabei. Eine der Mütter ist die Hygiene. Sie hat dafür gesorgt, dass das Kind sich nicht gern wäscht. Untenrum. Einer der Väter ist Comedian. Er hat dem Kind beigebracht, wie man das Prinzip Pleiten, Pech und Pannen durch alle Körperöffnungen dekliniert. Außerdem hat er eine Affäre mit der besten Freundin der Hygiene angefangen, der Peinlichkeit. Dadurch wurde das Kind ein altkluges Scheidungskind. Alles, was sein haltloses, schamloses Plappermaul über die Körperöffnungen, über das Peinliche, das Unhygienische und die Pannen beim Sex ausplauderte, diente nun nicht nur der Erheiterung des Publikums. Sondern auch seiner Erbauung. Es durfte nun über die Slapstick-Nummern der frühreifen Göre mit Duschköpfen und anderen Requisiten zugleich lachen und weinen, denn in allen diesen Verrenkungen und Pointen waren ja die Hilferufe eines traurigen Scheidungskindes nicht zu überhören, das keine Selbstverstümmelung scheuen würde, wenn es dadurch nur gelänge, die Eltern wieder zusammenzuführen. So gehört zu den Müttern des Erfolgs die Zweideutigkeit, ob in der heilen Familie, die hier ersehnt wird, der Comedian oder sein melodramatischer Rivale der rechtmäßige Vater ist. lmue
Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit.
Nicht gerade packend geschrieben, nicht sehr klar gegliedert und einen Ausweg aus der Misere weist es auch nicht. Michael Winterhoffs „Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit” schleppt einiges mit, was auf der Rennbahn der Bestseller hinderlich ist. Trotzdem gehört es mit 300 000 Exemplaren zu den meistverkauften und, wie man auch vermuten darf, meistgelesenen Büchern des Jahres. Es ist ein Buch der Schrecken des Alltags. Niklas, Max, Claudia und ihresgleichen sind Monster zwischen drei und vierzehn, fundamental unfähig, sich in ihrer Welt zurechtzufinden, mit anderen zu leben, Altersgenossen und Älteren ein Rätsel und eine Plage. Was wir so wenig verstehen, will Winterhoff aufklären: Die Ursache der Verwirrung sind wir, die Käufer, die Erwachsenen, die nicht mehr wissen, dass Kinder keine Erwachsenen sind, dass sie nicht nach Gründen und Argumenten handeln, sondern in persönlichen Beziehungen, den Eltern, Erzieherinnen, Lehrern zuliebe. Also heißt Erziehung, Autorität geltend zu machen. Michael Winterhoff will nicht reaktionär wirken, aber konservativ ist sein Ansatz doch: Kinder sind nicht Partner der Erziehung, sondern Wesen, die angeleitet werden müssen. In der Diskussion um Kinder und Erziehung macht Winterhoff den Helmut Schmidt. Das heißt aber nicht, dass alles falsch ist. stsp
Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land.
„Das verkauft sich nicht, mag das Feuilleton auch schreiben, was es will!” Vor einem halben Jahr wäre es schwer gefallen, dieser Behauptung zu widersprechen. Zu viele Gründe sprachen dafür, dass Uwe Tellkamps „Turm” nur ein kleines Publikum würde finden können. Das Buch glich mit knapp tausend Seiten einem echten Wälzer, schien ein schwerer Brocken; das Geschehen aber ließ sich in einem Satz zusammenfassen: Ein Junge wird erwachsen und ein Land geht unter – wobei die aufregenden Monate der Revolution und des Neubeginns nicht einmal geschildert werden. Dem Autor eilte überdies der Ruf voraus, ehrgeizig und schwierig zu sein, einer mit „Kunstwollen” und einer Vorliebe für Pathos und mäandernde Sätze. Dann las man den schwierigen Anfang, kursiv gesetzt: „Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht . . .” Dieser Erzähler schien viel Zeit zu haben, begleitete seine Figuren Seite um Seite beim Kaffeetrinken oder auf Spaziergängen durch ein Dresdner Villenviertel. Apart, gekonnt – aber wen sollte das interessieren? Das Buch war äußerst gebildet, nutzte verschiedenste Formen, stellte seinen einschüchternden Anspielungsreichtum immer wieder heraus . . . Nein, das konnte man nicht verkaufen. Es ist anders gekommen, und zwei Dinge – wenigstens – sind daraus zu lernen: Der Leser ist wie eh und je unbekanntes, rätselhaftes Wesen. Und diesmal erlag er hunderttausendfach dem Sog, der entsteht, wenn Zeitgeschichte und Romantik sich vermählen. jby
Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise.
Es gab nicht wenige, für die war Richard David Prechts Erfolg ein echtes Ärgernis. Populärphilosophie vom Allergruseligsten. Was kann das schon für ein Text sein, dem es gelingt, Hape Kerkelings Super-Bestseller „Ich bin dann mal weg” von der Spitze der Buch-Charts zu verdrängen? Tatsächlich lässt sich einiges bemängeln: fehlende Lektüre-Sorgfalt, unverhohlenes Bildungsgeprotze, gedankliche Unschärfen. Und dennoch: Am Ende ist „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?” eine schlau betitelte, aber ziemlich klassische Einführung in die Philosophie, die sich ernsthaft darum bemüht, zentrale philosophische Fragen so zugänglich wie möglich zu stellen. Wenn solche Bücher Massenerfolge werden, ist eigentlich doch alles gut. crab
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Vier Bestseller 2009, denen man es nicht zugetraut hätte
Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Roman
Erfolge haben viele Väter. Bei diesem Überraschungserfolg sind auch ein paar Mütter dabei. Eine der Mütter ist die Hygiene. Sie hat dafür gesorgt, dass das Kind sich nicht gern wäscht. Untenrum. Einer der Väter ist Comedian. Er hat dem Kind beigebracht, wie man das Prinzip Pleiten, Pech und Pannen durch alle Körperöffnungen dekliniert. Außerdem hat er eine Affäre mit der besten Freundin der Hygiene angefangen, der Peinlichkeit. Dadurch wurde das Kind ein altkluges Scheidungskind. Alles, was sein haltloses, schamloses Plappermaul über die Körperöffnungen, über das Peinliche, das Unhygienische und die Pannen beim Sex ausplauderte, diente nun nicht nur der Erheiterung des Publikums. Sondern auch seiner Erbauung. Es durfte nun über die Slapstick-Nummern der frühreifen Göre mit Duschköpfen und anderen Requisiten zugleich lachen und weinen, denn in allen diesen Verrenkungen und Pointen waren ja die Hilferufe eines traurigen Scheidungskindes nicht zu überhören, das keine Selbstverstümmelung scheuen würde, wenn es dadurch nur gelänge, die Eltern wieder zusammenzuführen. So gehört zu den Müttern des Erfolgs die Zweideutigkeit, ob in der heilen Familie, die hier ersehnt wird, der Comedian oder sein melodramatischer Rivale der rechtmäßige Vater ist. lmue
Michael Winterhoff: Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit.
Nicht gerade packend geschrieben, nicht sehr klar gegliedert und einen Ausweg aus der Misere weist es auch nicht. Michael Winterhoffs „Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit” schleppt einiges mit, was auf der Rennbahn der Bestseller hinderlich ist. Trotzdem gehört es mit 300 000 Exemplaren zu den meistverkauften und, wie man auch vermuten darf, meistgelesenen Büchern des Jahres. Es ist ein Buch der Schrecken des Alltags. Niklas, Max, Claudia und ihresgleichen sind Monster zwischen drei und vierzehn, fundamental unfähig, sich in ihrer Welt zurechtzufinden, mit anderen zu leben, Altersgenossen und Älteren ein Rätsel und eine Plage. Was wir so wenig verstehen, will Winterhoff aufklären: Die Ursache der Verwirrung sind wir, die Käufer, die Erwachsenen, die nicht mehr wissen, dass Kinder keine Erwachsenen sind, dass sie nicht nach Gründen und Argumenten handeln, sondern in persönlichen Beziehungen, den Eltern, Erzieherinnen, Lehrern zuliebe. Also heißt Erziehung, Autorität geltend zu machen. Michael Winterhoff will nicht reaktionär wirken, aber konservativ ist sein Ansatz doch: Kinder sind nicht Partner der Erziehung, sondern Wesen, die angeleitet werden müssen. In der Diskussion um Kinder und Erziehung macht Winterhoff den Helmut Schmidt. Das heißt aber nicht, dass alles falsch ist. stsp
Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land.
„Das verkauft sich nicht, mag das Feuilleton auch schreiben, was es will!” Vor einem halben Jahr wäre es schwer gefallen, dieser Behauptung zu widersprechen. Zu viele Gründe sprachen dafür, dass Uwe Tellkamps „Turm” nur ein kleines Publikum würde finden können. Das Buch glich mit knapp tausend Seiten einem echten Wälzer, schien ein schwerer Brocken; das Geschehen aber ließ sich in einem Satz zusammenfassen: Ein Junge wird erwachsen und ein Land geht unter – wobei die aufregenden Monate der Revolution und des Neubeginns nicht einmal geschildert werden. Dem Autor eilte überdies der Ruf voraus, ehrgeizig und schwierig zu sein, einer mit „Kunstwollen” und einer Vorliebe für Pathos und mäandernde Sätze. Dann las man den schwierigen Anfang, kursiv gesetzt: „Suchend, der Strom schien sich zu straffen in der beginnenden Nacht . . .” Dieser Erzähler schien viel Zeit zu haben, begleitete seine Figuren Seite um Seite beim Kaffeetrinken oder auf Spaziergängen durch ein Dresdner Villenviertel. Apart, gekonnt – aber wen sollte das interessieren? Das Buch war äußerst gebildet, nutzte verschiedenste Formen, stellte seinen einschüchternden Anspielungsreichtum immer wieder heraus . . . Nein, das konnte man nicht verkaufen. Es ist anders gekommen, und zwei Dinge – wenigstens – sind daraus zu lernen: Der Leser ist wie eh und je unbekanntes, rätselhaftes Wesen. Und diesmal erlag er hunderttausendfach dem Sog, der entsteht, wenn Zeitgeschichte und Romantik sich vermählen. jby
Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise.
Es gab nicht wenige, für die war Richard David Prechts Erfolg ein echtes Ärgernis. Populärphilosophie vom Allergruseligsten. Was kann das schon für ein Text sein, dem es gelingt, Hape Kerkelings Super-Bestseller „Ich bin dann mal weg” von der Spitze der Buch-Charts zu verdrängen? Tatsächlich lässt sich einiges bemängeln: fehlende Lektüre-Sorgfalt, unverhohlenes Bildungsgeprotze, gedankliche Unschärfen. Und dennoch: Am Ende ist „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?” eine schlau betitelte, aber ziemlich klassische Einführung in die Philosophie, die sich ernsthaft darum bemüht, zentrale philosophische Fragen so zugänglich wie möglich zu stellen. Wenn solche Bücher Massenerfolge werden, ist eigentlich doch alles gut. crab
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.09.2010Ein Bürgertum ohne Politik?
Uwe Tellkamps "Turm" soll lesen, wer wissen will, wie es war in der späten DDR, heißt es. So präzise ist die Vergegenwärtigung sogar der Gedanken der Romangesellschaft, dass ins Auge fällt, was fehlt.
Warum ich Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" nicht sofort nach Erscheinen gelesen habe, weiß ich nicht mehr. Jetzt hat mir ein literarisch gebildeter Freund die Lektüre dringend angeraten und mir gleich sein eigenes Taschenbuch-Exemplar in die Hand gedrückt. Also musste ich die nahezu tausend Seiten lesen. Aber nach einigen Seiten des Einlesens habe ich den Roman verschlungen. Ich bin kein Literaturexperte, wage aber doch zu sagen: erste deutsche Liga. Großes Thema, durchsichtig verschlungenes Handlungsnetz, spannende Geschichten und ein leichter, eleganter Stil, nicht so urtümlich kraftvoll-farbig wie der von Günter Grass, dafür rationaler. Tellkamp blättert die Möglichkeiten der Sprache auf wie ein geübter Skatspieler sein Blatt. Der Flügel eines Falters, heißt es an einer Stelle, ist nicht mittelgroß, sondern streichholzschachtelgroß. Tellkamp kennt die Prinzipien und weiß sie meisterlich zu handhaben. Die vielen Preise und positiven Rezensionen sind vollauf verdient.
Diese Zeilen wollen aber kein weiteres Stimmchen im Chor der Lobredner sein, sondern eine Anfrage. Auf dem Umschlag des Buches steht ein Satz aus einer Rezension von Jens Bisky, selbst ein Kind der DDR: "Wenn in Zukunft einer wissen will, wie es denn wirklich gewesen ist in der späten DDR, sollte man ihm rasch und entschlossen den neuen Roman von Uwe Tellkamp in die Hand drücken: ,Nimm und lies.'" Die Wahrheit über die DDR? Der Roman ist kein Geschichtswerk. "Die Handlung ist frei erfunden." Er ist ein Kunstwerk, ein Gemälde. Aber Kunstwerke haben ihre innere Wahrheit, und die zeigt manchmal mehr als eine scharfe Fotografie.
Die Wahrheit über die DDR? Als Westdeutscher neigt man dazu zu sagen: Natürlich, das Buch zeigt doch die DDR, die wir aus Westzeitungen kennen - grau, schmutzig, freudlos, kollektiver Zwang, immer wieder Versorgungsschwierigkeiten, absehbare Willkür, harte Strafen, Unfähigkeit zu investieren. Alles wird hier erzählt, wirklich alles. Manchmal mehr, als man wissen will. Jedenfalls, beschönigt wird nichts. Unangenehm das Leben in der späten DDR.
Aber das wussten wir bereits. Daraus gewinnt der Roman auch nicht seine Spannung. Spannend wird er durch seine zentrale Frage: Wie wird sein Personal, sein Volk mit dem Ungemach fertig, das ihm die Politik bereitet? Eine Antwort kann man auch als Außenstehender schnell geben: Da das Ungemach politisch bedingt war, hängt der Umgang mit ihm von der Nähe zur politischen Klasse ab. Jetzt wird es kompliziert.
Geographisch meint "Der Turm" die Dresdner Villengegend bei Loschwitz oberhalb der Brücke "Das Blaue Wunder". Dort leben Tellkamps Helden aus den Familien Hoffmann und Rohde, Ärzte, Techniker, Lektoren, mit Berufen so fein wie die Villen, in denen sie wohnen. Fast alle spielen ein Instrument oder können mittelhochdeutsche Gedichte aus dem Stand vortragen oder stundenlang über Opern reden, am liebsten über den "Tannhäuser". Nur einer ist in der SED, aber der hätte sonst nicht Betriebsleiter werden können. Für alle gehören SED-Mitglieder und Parteifunktionäre grundsätzlich zu "den anderen", die oft dumm und unfähig, manchmal aber auch einfach im Apparat gefangen sind. Eine klare bürgerliche Unterscheidung, so scheint es. Aber die Sache hat einen Haken.
Die Hoffmanns und Rohdes lebten nicht von jeher in den Villen, in denen sie wohnen, und schon gar nicht haben sie sie gebaut. Einige sind "Moskauer". Das heißt, sie sind in Moskau geboren, weil ihre Eltern überzeugte Kommunisten waren und während der NS-Zeit in die Sowjetunion emigriert sind. Wie sie nach dem Krieg auf dem "Turm" gelandet sind, erzählt Tellkamp nicht. Am Nächsten liegt: Die Wohnungsbehörden haben sie dort eingewiesen und dabei natürlich die Verdienste der revolutionären Eltern berücksichtigt. Günstlinge des Systems also.
Aber mit seinen Misshelligkeiten verschont das System sie nicht. Die Umweltschäden, besonders die stinkende Elbe, bekommt ohnehin jeder zu riechen. Der Chirurg vermisst gelegentlich die optimalen Instrumente und Betäubungsmittel, der Techniker Messgeräte, und der Lektor kann bei der Zensur wichtige Stellen eines gelungenen Manuskriptes nicht durchsetzen. Alles nicht tödlich, aber ärgerlich und belastend. Und was tun die Helden der Kultur dagegen, die ja persönlich betroffen sind? Möglich wäre vieles gewesen. Aber vergessen wir alles, was hätte gefährlich werden oder die berufliche Stellung kosten können, vergessen wir Widerstand, öffentlichen Protest und Ungehorsam. Auch die einfache Frage "Warum beherrscht der Westen seinen Alltag so viel besser als die DDR den ihren?" wollen wir als unzumutbar ausblenden.
Eines schien aber gefahrlos möglich gewesen zu sein: die interne, vertrauliche Diskussion darüber, warum es zu Versorgungsengpässen kommt, warum die morschen Wasserleitungen und Fenster nicht ersetzt werden. Die offizielle Standardantwort lautet: kein Geld. So dumm waren die "Türmer" nicht, dass sie sich mit dieser Antwort hätten zufriedengeben können. Ein Staat kann Geld drucken oder sich Geld leihen. Das Erstaunliche ist aber: Die "Türmer" haben sich zufrieden gegeben. Das ist kein Zufall und kein Versehen des Autors. Im ganzen Buch findet man nichts, das die Vermutung stützen könnte, seine Helden der Kultur hätten je über politische Alternativen nachgedacht. Wegen der Rechtfertigung des Sozialismus begnügen sie sich mit Parolen für die Armen im Geiste: Alle gleich reich! Gerechte Welt!
Dass sich beide Sätze widersprechen, fällt ihnen nicht auf. Sie nehmen sie so geduldig hin wie Stromausfälle oder Wasserhähne, die tröpfeln, wenn man sie öffnet. Nichts, aber auch gar nichts regt sie an, über eine Änderung der Politik zu sprechen. Aber was heißt hier sprechen? Denken muss es heißen. Der Autor sieht in die Köpfe seiner Helden. Auf Gemeinwohlfragen verschwenden die Dresdner "Türmer" keinen einzigen Gedanken. Man erfährt eine Menge über den sowjetischen Panzer T55, aber nichts über Politik. Was politische Veränderungen angeht, waren die Dresdner "Türmer" von einer besorgniserregenden Geistesarmut. Ist das die Wahrheit über die DDR? Intellektuelle, die die bürgerliche Bildung vergötzen und die Möglichkeiten bürgerlicher Politik nicht einmal mehr denken können?
GERD ROELLECKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Tellkamps "Turm" soll lesen, wer wissen will, wie es war in der späten DDR, heißt es. So präzise ist die Vergegenwärtigung sogar der Gedanken der Romangesellschaft, dass ins Auge fällt, was fehlt.
Warum ich Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" nicht sofort nach Erscheinen gelesen habe, weiß ich nicht mehr. Jetzt hat mir ein literarisch gebildeter Freund die Lektüre dringend angeraten und mir gleich sein eigenes Taschenbuch-Exemplar in die Hand gedrückt. Also musste ich die nahezu tausend Seiten lesen. Aber nach einigen Seiten des Einlesens habe ich den Roman verschlungen. Ich bin kein Literaturexperte, wage aber doch zu sagen: erste deutsche Liga. Großes Thema, durchsichtig verschlungenes Handlungsnetz, spannende Geschichten und ein leichter, eleganter Stil, nicht so urtümlich kraftvoll-farbig wie der von Günter Grass, dafür rationaler. Tellkamp blättert die Möglichkeiten der Sprache auf wie ein geübter Skatspieler sein Blatt. Der Flügel eines Falters, heißt es an einer Stelle, ist nicht mittelgroß, sondern streichholzschachtelgroß. Tellkamp kennt die Prinzipien und weiß sie meisterlich zu handhaben. Die vielen Preise und positiven Rezensionen sind vollauf verdient.
Diese Zeilen wollen aber kein weiteres Stimmchen im Chor der Lobredner sein, sondern eine Anfrage. Auf dem Umschlag des Buches steht ein Satz aus einer Rezension von Jens Bisky, selbst ein Kind der DDR: "Wenn in Zukunft einer wissen will, wie es denn wirklich gewesen ist in der späten DDR, sollte man ihm rasch und entschlossen den neuen Roman von Uwe Tellkamp in die Hand drücken: ,Nimm und lies.'" Die Wahrheit über die DDR? Der Roman ist kein Geschichtswerk. "Die Handlung ist frei erfunden." Er ist ein Kunstwerk, ein Gemälde. Aber Kunstwerke haben ihre innere Wahrheit, und die zeigt manchmal mehr als eine scharfe Fotografie.
Die Wahrheit über die DDR? Als Westdeutscher neigt man dazu zu sagen: Natürlich, das Buch zeigt doch die DDR, die wir aus Westzeitungen kennen - grau, schmutzig, freudlos, kollektiver Zwang, immer wieder Versorgungsschwierigkeiten, absehbare Willkür, harte Strafen, Unfähigkeit zu investieren. Alles wird hier erzählt, wirklich alles. Manchmal mehr, als man wissen will. Jedenfalls, beschönigt wird nichts. Unangenehm das Leben in der späten DDR.
Aber das wussten wir bereits. Daraus gewinnt der Roman auch nicht seine Spannung. Spannend wird er durch seine zentrale Frage: Wie wird sein Personal, sein Volk mit dem Ungemach fertig, das ihm die Politik bereitet? Eine Antwort kann man auch als Außenstehender schnell geben: Da das Ungemach politisch bedingt war, hängt der Umgang mit ihm von der Nähe zur politischen Klasse ab. Jetzt wird es kompliziert.
Geographisch meint "Der Turm" die Dresdner Villengegend bei Loschwitz oberhalb der Brücke "Das Blaue Wunder". Dort leben Tellkamps Helden aus den Familien Hoffmann und Rohde, Ärzte, Techniker, Lektoren, mit Berufen so fein wie die Villen, in denen sie wohnen. Fast alle spielen ein Instrument oder können mittelhochdeutsche Gedichte aus dem Stand vortragen oder stundenlang über Opern reden, am liebsten über den "Tannhäuser". Nur einer ist in der SED, aber der hätte sonst nicht Betriebsleiter werden können. Für alle gehören SED-Mitglieder und Parteifunktionäre grundsätzlich zu "den anderen", die oft dumm und unfähig, manchmal aber auch einfach im Apparat gefangen sind. Eine klare bürgerliche Unterscheidung, so scheint es. Aber die Sache hat einen Haken.
Die Hoffmanns und Rohdes lebten nicht von jeher in den Villen, in denen sie wohnen, und schon gar nicht haben sie sie gebaut. Einige sind "Moskauer". Das heißt, sie sind in Moskau geboren, weil ihre Eltern überzeugte Kommunisten waren und während der NS-Zeit in die Sowjetunion emigriert sind. Wie sie nach dem Krieg auf dem "Turm" gelandet sind, erzählt Tellkamp nicht. Am Nächsten liegt: Die Wohnungsbehörden haben sie dort eingewiesen und dabei natürlich die Verdienste der revolutionären Eltern berücksichtigt. Günstlinge des Systems also.
Aber mit seinen Misshelligkeiten verschont das System sie nicht. Die Umweltschäden, besonders die stinkende Elbe, bekommt ohnehin jeder zu riechen. Der Chirurg vermisst gelegentlich die optimalen Instrumente und Betäubungsmittel, der Techniker Messgeräte, und der Lektor kann bei der Zensur wichtige Stellen eines gelungenen Manuskriptes nicht durchsetzen. Alles nicht tödlich, aber ärgerlich und belastend. Und was tun die Helden der Kultur dagegen, die ja persönlich betroffen sind? Möglich wäre vieles gewesen. Aber vergessen wir alles, was hätte gefährlich werden oder die berufliche Stellung kosten können, vergessen wir Widerstand, öffentlichen Protest und Ungehorsam. Auch die einfache Frage "Warum beherrscht der Westen seinen Alltag so viel besser als die DDR den ihren?" wollen wir als unzumutbar ausblenden.
Eines schien aber gefahrlos möglich gewesen zu sein: die interne, vertrauliche Diskussion darüber, warum es zu Versorgungsengpässen kommt, warum die morschen Wasserleitungen und Fenster nicht ersetzt werden. Die offizielle Standardantwort lautet: kein Geld. So dumm waren die "Türmer" nicht, dass sie sich mit dieser Antwort hätten zufriedengeben können. Ein Staat kann Geld drucken oder sich Geld leihen. Das Erstaunliche ist aber: Die "Türmer" haben sich zufrieden gegeben. Das ist kein Zufall und kein Versehen des Autors. Im ganzen Buch findet man nichts, das die Vermutung stützen könnte, seine Helden der Kultur hätten je über politische Alternativen nachgedacht. Wegen der Rechtfertigung des Sozialismus begnügen sie sich mit Parolen für die Armen im Geiste: Alle gleich reich! Gerechte Welt!
Dass sich beide Sätze widersprechen, fällt ihnen nicht auf. Sie nehmen sie so geduldig hin wie Stromausfälle oder Wasserhähne, die tröpfeln, wenn man sie öffnet. Nichts, aber auch gar nichts regt sie an, über eine Änderung der Politik zu sprechen. Aber was heißt hier sprechen? Denken muss es heißen. Der Autor sieht in die Köpfe seiner Helden. Auf Gemeinwohlfragen verschwenden die Dresdner "Türmer" keinen einzigen Gedanken. Man erfährt eine Menge über den sowjetischen Panzer T55, aber nichts über Politik. Was politische Veränderungen angeht, waren die Dresdner "Türmer" von einer besorgniserregenden Geistesarmut. Ist das die Wahrheit über die DDR? Intellektuelle, die die bürgerliche Bildung vergötzen und die Möglichkeiten bürgerlicher Politik nicht einmal mehr denken können?
GERD ROELLECKE
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Palette seiner sprachlichen Möglichkeiten ist so vielfarbig, wie die kaum eines anderen deutschen Gegenwartsautors. ... Tellkamp verschränkt Erzählstränge, bricht sie auf, beschleunigt das Tempo und lässt die Zeit ganz langsam vorbeiziehen, springt in Briefausschnitte und wieder zurück in den Erzählfluss und baut Kapitel zu makellosen Kurzerzählungen aus.« Elmar Krekeler DIE WELT