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© BÜCHERmagazin, Lore Kleinert
Matthias Wittekindt verfährt sich in der Rue Bisson
Da ist ein Halbtoter an einem regnerischen Abend im Spätwinter, der mit seinem Auto in einen Baum am Straßenrand gekracht ist, vielleicht bei einem riskanten Überholmanöver. Der Mann stirbt im Krankenhaus, sein schnuckeliger orangefarbener 2002er BMW ist Schrott. Michel Descombe war Mitglied eines Freundeskreises von aufstrebenden Besserverdienern in der französischen Provinz, der sich im "Centre Fleur", einer gehobenen Fitnessbude mit Tennisplätzen und Bistro, mehrmals wöchentlich ertüchtigte. Mit dabei auch die kapriziöse Psychologin Yvonne, die kühle Musikproduzentin Nina und der hübsche, teuer gekleidete Alain.
Den Unfall in der Rue Bisson ermittelt Lieutenant Ohayon, kein auffälliger Polizist, irgendwie sehr französisch und mit einer deutlichen, durchaus sympathischen Priorität bei den festen Regeln seines Privatlebens. Ohayon hat seine eigenen Methoden, an die verdächtigen Dinge in der Kleinstadt Fleurville heranzugehen, seine Verhöre, beginnen stets wie freundliche Unterhaltungen. Und Matthias Wittekindt gibt sich erfolgreich Mühe, seine Geschichte von der für Krimis notorischen Hektik freizuhalten. Er will uns ersichtlich mit denselben zerfahrenen Fakten konfrontieren, wie sie sich Ohayon darbieten. Er meint es gewiss gut mit seiner Taktik der Entschleunigung.
Für die Leser ist das aber leider nicht ganz so gut. Sie müssen sich auf den gerade mal 220 Seiten eine Menge Informationen und Personal merken, die in einem assoziativen, manchmal elliptischen Stil ins Spiel kommen. Am Ende sind wir, rein lösungstechnisch, überfordert. Zweifellos hat Wittekindt Sinn für Atmosphäre, in charmanten Umschweifen zum Beispiel so: "Es gibt diesen wunderbar bodenständigen Satz: Nun lass mal die Kirche im Dorf. Und weil die Kirche eben im Dorf bleibt, sind Verkehrsunfälle, solange kein Promi verstrickt ist, definitiv nichts für die Titelseite." Ohne die Dorfkirche wäre der Lesefluss freilich ungestörter. Wie überhaupt den Windungen eines Handlungsstrangs hinterherzuspüren ist, der sich immer weiter zerfasert. Man begreift die gute Absicht - sind wir nicht alle ein bisschen Lieutenant Ohayon, ganz generell dem Leben, dieser komplizierten Angelegenheit, gegenüber? Und auch die Leute um das Unfallopfer in der Rue Bisson herum tragen ihr Päckchen, tun wir das nicht alle?
Das Problem ist bloß: Die kommen nicht aus ihrer Verpuppung als Typen heraus, sie dürfen nicht Charaktere werden. Sie bleiben in der Mediokrität aufstrebender Endzwanziger bis Mittdreißiger stecken, die mehr Geld ausgeben, als sie haben. Nicht einmal Ohayon selbst wird richtig greifbar. Wir können nicht umhin, ihn uns wie einen Inspektor Columbo in der Diaspora vorzustellen, bloß im Blouson, ohne Hund, dafür mit Familie, und ohne Colombos finalen Biss.
Was war jetzt also los beim Unfall in der Rue Bisson? Mindestens ein anderes, rotes Auto war dort noch unterwegs. Irgendwo da übrigens liegt die Lösung des Falls - falls es einer war. Ohayon hat getan, was er konnte, auch dafür hält ein hehrer Vergleich her: "Als Epiphanie bezeichnet man ursprünglich das Erscheinen einer Gottheit. Häufig wurden solche Erscheinungen von Blitzen, einem Feuer oder anderen Leuchterscheinungen begleitet." Darauf kann eine bescheidene Gendarmerie natürlich nicht warten, Leser auch nicht so wirklich. Hätten es nicht Intuition oder Gespür auch getan?
Und jetzt wird uns noch Ohayons spezielle Fähigkeit plastisch gemacht: "Nun, seine Kühnheit zeigt sich darin, dass er scheinbar wichtige Begebenheiten und Zusammenhänge zwar registriert, sie aber nicht gleich bewertet. Ohayons Methodik scheint im Gegenteil darin zu bestehen, die Zeugnisse eben nicht in einem Zusammenhang zu sehen und die Auswertung zunächst zu verweigern. Offenbar meint er, anders sei der Wahrheit nicht beizukommen." Zu diesem Zeitpunkt haben wir mit Ohayon aber schon so viele Zeugen an uns vorbeiziehen sehen, dass wir das sowieso glauben.
Interessant werden die Ereignisse gegen Ende einmal, als es um einen anderen Unfall geht. Wenn der Roman eine Pointe hat, der ihn zum Kriminalroman machen würde, dann liegt sie eventuell bei diesem früheren Geschehen. Denn dort zeichnet sich zumindest die Möglichkeit ab, dass ein Autounfall auf regennasser Straße, der vor einigen Jahren woanders geschah, mit einer der Personen aus dem "Centre Fleur" zu tun hat. Damals war ein Mann in einem silbernen Mercedes ebenfalls zu schnell unterwegs. Dessen Ableben von niemand ehrlich betrauert wurde. Aber das muss nicht Lieutenant Ohayons Problem sein, sondern das der zwei Menschen, die damit weiterzuleben haben. Ohayon macht lieber in Harmonie en famille. Den Leser macht das nicht glücklich.
ROSE-MARIA GROPP
Matthias Wittekindt: "Der Unfall in der Rue Bisson". Kriminalroman.
Edition Nautilus, Hamburg 2016. 224 S., br., 16,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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