Wer ist schuld am Ersten Weltkrieg? Im Jahr 1918 wird die Frage immer drängender. Da erhält der Bestsellerautor Gustav Meyrink in seiner Villa am Starnberger See ein Angebot vom Auswärtigen Amt: Ob er – gegen gutes Honorar – bereit wäre, einen Roman zu schreiben, der den Freimaurern die Verantwortung für das Blutvergießen zuschiebt. Der ganz und gar unpatriotische Schriftsteller und Yogi kassiert den Vorschuss – und bringt sich damit in Teufels Küche.
LITERATUR
Als der Buddha vom See eine Schreibkrise hatte
Der Autor des Schauerklassikers „Der Golem“ soll einen Propagandaroman liefern. Aber er kann nicht. Aus dieser Episode im
Leben von Gustav Meyrink hat Christoph Poschenrieder einen Roman gemacht. Er erinnert an einen schillernden Intellektuellen
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Der Grabstein von Gustav Meyrink auf dem Starnberger Friedhof trägt eine Inschrift, von der je ein Buchstabe in den Feldern eines geviertelten Kreises steht: VIVO, lateinisch für „Ich lebe“. Das mag damit zu tun haben, dass der Schriftsteller, der einige Jahre vor seinem Tod zum Buddhismus konvertiert war, an Reinkarnation glaubte. Oder es bezeugt, dass er die posthume Strahlkraft seines Schaffens sehr optimistisch einschätzte.
Doch abgesehen davon, dass sein zum Klassiker avancierter Prager Schauerroman „Der Golem“ hier und da herumspukt: Wem ist Meyrink, 1868 als Gustav Meyer in Wien geboren, 1932 in Starnberg gestorben, heute noch geläufig? Außer der Literaturwissenschaft, deren Haltung zu seinem Werk zwischen Faszination, Skepsis und Belustigung schwankt, wohl am ehesten jenen, die sich für mystische und okkulte Traditionen interessieren. Denn der Schreibberuf, den er erst nach 1900 ergriff, war für Meyrink nur Mittel zum Zweck: Er diente einerseits dem Broterwerb, andererseits der spirituellen Erkenntnissuche, die für ihn Vorrang vor allem anderen hatte.
Schon diese Konstellation signalisiert, dass Meyrink, unehelicher Sohn einer Schauspielerin und eines württembergischen Staatsministers, zu den schillerndsten Gestalten der deutschsprachigen Literatenszene des frühen 20. Jahrhunderts zählte. In München und Hamburg aufgewachsen, in Prag zum Kaufmann ausgebildet, dortselbst als Bankier gescheitert und nach Intermezzi in Wien und Montreux wieder nach Bayern übergesiedelt, verkehrte er in Intellektuellen- wie in Okkultistenzirkeln, war Hedonist und Dandy, Schachspieler und Sportler, Autopionier und praktizierender Yogi und gehörte diversen Logen und Geheimbünden an. „Nichts an ihm war regelrecht und alles echt,“ erinnerte sich sein Freund Alexander Roda Roda, „die Lebensanschauung ein Mosaik von Widersprüchen, schierer Nihilismus neben abgrundtiefer Gläubigkeit.“
Literarisch mündeten die Paradoxien in eine Vermischung von Esoterik, nachromantischer Fantastik und antibürgerlicher Satire, die bis heute ihresgleichen sucht. Allerdings wäre Derartiges nur noch schwer vermittelbar in unserer durchkorrigierten, schubladenhörigen Gegenwart, in der „yogisches Gelächter“ entweder als Wellnesstechnik vermarktet oder nahe der Anstaltsreife verortet wird. Dass man aber auch damals in manchen Kreisen nicht überblickte, wo man diesen Meyrink eigentlich hinstecken sollte, zeigt die kuriose Episode aus seinem Leben, die der Münchner Autor Christoph Poschenrieder in seinem neuen Buch „Der unsichtbare Roman“ nacherzählt.
Ein Jahr vor dem Ende des Ersten Weltkriegs stellt das Auswärtige Amt in Berlin an Gustav Meyrink das Ansinnen, einen Propagandaroman zu schreiben, der die Schuld am Kriegsausbruch den Freimaurern, insbesondere den italienischen und französischen, in die Schuhe schieben soll. Gegen ein großzügiges Honorar, das zu diesem Zeitpunkt sehr willkommen wäre, denn der Bestsellererfolg des „Golem“ hat sich nicht wiederholt, und der Schriftsteller ist zwar Yogi, aber kein Asket, und Villa, Segelboot, Automobil und Familie wollen finanziert sein.
Dass man sich ausgerechnet an ihn wendet, ist merkwürdig genug, denn er gehört zwar nicht zu den Freimaurern, müsste aber wegen seiner weltanschaulichen Orientierung zu deren Sympathisanten gerechnet werden. Auch ist er mit seinen Satiren, die im „Simplicissimus“ und im Sammelband „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ erschienen sind, als scharfzüngiger Kritiker des wilhelminischen Staates im Allgemeinen und des Militärs im Besonderen hervorgetreten. Doch gerade das, belehrt man ihn, würde dem Machwerk Glaubwürdigkeit verleihen.
Was sich über die Hintergründe des dubiosen Projekts herausfinden ließ, hat Christoph Poschenrieder in seine Rekonstruktion aufgenommen und mit Recherchenotizen dokumentiert. Lücken, Widersprüche und mögliche Varianten sind inbegriffen und dienen als Spielmaterial. Verbürgt ist, dass Meyrink den Auftrag samt Vorschuss akzeptierte und von den Hintermännern mit einschlägiger Literatur versorgt wurde. Belegen lässt sich auch, dass man ihm nach einigen Monaten wegen Ergebnismangels die Mission wieder entzog, um sie an den deutschnational gesinnten Österreicher Friedrich Wichtl weiterzureichen, dessen Pamphlet „Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik“ im Jahr 1919 erschien. Was sich in der Zwischenzeit im Innern des Autors Meyrink und um ihn herum abspielte, bleibt der Spekulation Poschenrieders überlassen, der sich schon des Öfteren in historische Stoffe und Figuren mit angenehmer Leichtigkeit eingefühlt hat.
Er inszeniert Meyrinks Zögern, seine Blockade, die durch immer neue Anläufe unterbrochen wird, als Schreibkrise vom Feinsten, die mühelos auf weniger brisante Fälle aus dem Schriftstelleralltag übertragbar ist. Aber nicht nur als Meister der Prokrastination wird der „Buddha vom See“ vorgeführt, sondern zugleich als der klar denkende, oft schlitzohrige Ironiker, der er, trotz seiner Tiefenbohrungen in der Geisterwelt, eben auch war: In diesen Wesenszug Meyrinks kann Poschenrieder sich gut hineinversetzen, ebenso wie in die groteske Lage, in die der unpolitische Individualist durch den Sonderauftrag geriet.
Alles Okkulte und Irrationale bleibt diskret ausgespart, und dass das Buch mit einer spiritistischen Séance beginnt, die slapstickartige Züge trägt, wirkt wie eine Hommage an jenen Meyrink, der selbst gegen solche Praktiken polemisierte. (Und an seinen Biografen, den Kafka-Spezialisten Hartmut Binder, denn ein „Hartmut“ soll aus dem Jenseits herbeigerufen werden.)
Die verhaltene Komik der Erzählung wird noch bereichert durch Abschweifungen zu den Anfängen der Münchner Räterepublik, deren Protagonisten Erich Mühsam und Kurt Eisner hier aus der Beobachterperspektive Meyrinks neue Konturen gewinnen. Aber das ist nur ein Nebeneffekt. Vor allem gelingt es Christoph Poschenrieder mit diesem kleinen, doch zum Glück deutlich sichtbaren Roman, einen Schriftsteller zu vergegenwärtigen, der es verdient, der relativen Unsichtbarkeit entrissen zu werden. Auf dass sich sein Grab-Orakel doch noch erfüllen möge – falls er nicht schon wieder leibhaftig unter uns weilt.
Gegen ein großzügiges Honorar
soll er den Freimaurern in einem
Buch die Kriegsschuld zuschieben
Vielleicht erfüllt sich das Orakel
seines Grabsteins noch – oder er
weilt längst wieder unter uns
Gustav Meyrink wurde 1868 in Wien geboren, zog 1911 nach Starnberg, konvertierte 1927 zum Buddhismus und starb 1932.
Foto: Scherl/SZ Photo
Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 272 Seiten, 24 Euro.
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Als der Buddha vom See eine Schreibkrise hatte
Der Autor des Schauerklassikers „Der Golem“ soll einen Propagandaroman liefern. Aber er kann nicht. Aus dieser Episode im
Leben von Gustav Meyrink hat Christoph Poschenrieder einen Roman gemacht. Er erinnert an einen schillernden Intellektuellen
VON KRISTINA MAIDT-ZINKE
Der Grabstein von Gustav Meyrink auf dem Starnberger Friedhof trägt eine Inschrift, von der je ein Buchstabe in den Feldern eines geviertelten Kreises steht: VIVO, lateinisch für „Ich lebe“. Das mag damit zu tun haben, dass der Schriftsteller, der einige Jahre vor seinem Tod zum Buddhismus konvertiert war, an Reinkarnation glaubte. Oder es bezeugt, dass er die posthume Strahlkraft seines Schaffens sehr optimistisch einschätzte.
Doch abgesehen davon, dass sein zum Klassiker avancierter Prager Schauerroman „Der Golem“ hier und da herumspukt: Wem ist Meyrink, 1868 als Gustav Meyer in Wien geboren, 1932 in Starnberg gestorben, heute noch geläufig? Außer der Literaturwissenschaft, deren Haltung zu seinem Werk zwischen Faszination, Skepsis und Belustigung schwankt, wohl am ehesten jenen, die sich für mystische und okkulte Traditionen interessieren. Denn der Schreibberuf, den er erst nach 1900 ergriff, war für Meyrink nur Mittel zum Zweck: Er diente einerseits dem Broterwerb, andererseits der spirituellen Erkenntnissuche, die für ihn Vorrang vor allem anderen hatte.
Schon diese Konstellation signalisiert, dass Meyrink, unehelicher Sohn einer Schauspielerin und eines württembergischen Staatsministers, zu den schillerndsten Gestalten der deutschsprachigen Literatenszene des frühen 20. Jahrhunderts zählte. In München und Hamburg aufgewachsen, in Prag zum Kaufmann ausgebildet, dortselbst als Bankier gescheitert und nach Intermezzi in Wien und Montreux wieder nach Bayern übergesiedelt, verkehrte er in Intellektuellen- wie in Okkultistenzirkeln, war Hedonist und Dandy, Schachspieler und Sportler, Autopionier und praktizierender Yogi und gehörte diversen Logen und Geheimbünden an. „Nichts an ihm war regelrecht und alles echt,“ erinnerte sich sein Freund Alexander Roda Roda, „die Lebensanschauung ein Mosaik von Widersprüchen, schierer Nihilismus neben abgrundtiefer Gläubigkeit.“
Literarisch mündeten die Paradoxien in eine Vermischung von Esoterik, nachromantischer Fantastik und antibürgerlicher Satire, die bis heute ihresgleichen sucht. Allerdings wäre Derartiges nur noch schwer vermittelbar in unserer durchkorrigierten, schubladenhörigen Gegenwart, in der „yogisches Gelächter“ entweder als Wellnesstechnik vermarktet oder nahe der Anstaltsreife verortet wird. Dass man aber auch damals in manchen Kreisen nicht überblickte, wo man diesen Meyrink eigentlich hinstecken sollte, zeigt die kuriose Episode aus seinem Leben, die der Münchner Autor Christoph Poschenrieder in seinem neuen Buch „Der unsichtbare Roman“ nacherzählt.
Ein Jahr vor dem Ende des Ersten Weltkriegs stellt das Auswärtige Amt in Berlin an Gustav Meyrink das Ansinnen, einen Propagandaroman zu schreiben, der die Schuld am Kriegsausbruch den Freimaurern, insbesondere den italienischen und französischen, in die Schuhe schieben soll. Gegen ein großzügiges Honorar, das zu diesem Zeitpunkt sehr willkommen wäre, denn der Bestsellererfolg des „Golem“ hat sich nicht wiederholt, und der Schriftsteller ist zwar Yogi, aber kein Asket, und Villa, Segelboot, Automobil und Familie wollen finanziert sein.
Dass man sich ausgerechnet an ihn wendet, ist merkwürdig genug, denn er gehört zwar nicht zu den Freimaurern, müsste aber wegen seiner weltanschaulichen Orientierung zu deren Sympathisanten gerechnet werden. Auch ist er mit seinen Satiren, die im „Simplicissimus“ und im Sammelband „Des deutschen Spießers Wunderhorn“ erschienen sind, als scharfzüngiger Kritiker des wilhelminischen Staates im Allgemeinen und des Militärs im Besonderen hervorgetreten. Doch gerade das, belehrt man ihn, würde dem Machwerk Glaubwürdigkeit verleihen.
Was sich über die Hintergründe des dubiosen Projekts herausfinden ließ, hat Christoph Poschenrieder in seine Rekonstruktion aufgenommen und mit Recherchenotizen dokumentiert. Lücken, Widersprüche und mögliche Varianten sind inbegriffen und dienen als Spielmaterial. Verbürgt ist, dass Meyrink den Auftrag samt Vorschuss akzeptierte und von den Hintermännern mit einschlägiger Literatur versorgt wurde. Belegen lässt sich auch, dass man ihm nach einigen Monaten wegen Ergebnismangels die Mission wieder entzog, um sie an den deutschnational gesinnten Österreicher Friedrich Wichtl weiterzureichen, dessen Pamphlet „Weltfreimaurerei, Weltrevolution, Weltrepublik“ im Jahr 1919 erschien. Was sich in der Zwischenzeit im Innern des Autors Meyrink und um ihn herum abspielte, bleibt der Spekulation Poschenrieders überlassen, der sich schon des Öfteren in historische Stoffe und Figuren mit angenehmer Leichtigkeit eingefühlt hat.
Er inszeniert Meyrinks Zögern, seine Blockade, die durch immer neue Anläufe unterbrochen wird, als Schreibkrise vom Feinsten, die mühelos auf weniger brisante Fälle aus dem Schriftstelleralltag übertragbar ist. Aber nicht nur als Meister der Prokrastination wird der „Buddha vom See“ vorgeführt, sondern zugleich als der klar denkende, oft schlitzohrige Ironiker, der er, trotz seiner Tiefenbohrungen in der Geisterwelt, eben auch war: In diesen Wesenszug Meyrinks kann Poschenrieder sich gut hineinversetzen, ebenso wie in die groteske Lage, in die der unpolitische Individualist durch den Sonderauftrag geriet.
Alles Okkulte und Irrationale bleibt diskret ausgespart, und dass das Buch mit einer spiritistischen Séance beginnt, die slapstickartige Züge trägt, wirkt wie eine Hommage an jenen Meyrink, der selbst gegen solche Praktiken polemisierte. (Und an seinen Biografen, den Kafka-Spezialisten Hartmut Binder, denn ein „Hartmut“ soll aus dem Jenseits herbeigerufen werden.)
Die verhaltene Komik der Erzählung wird noch bereichert durch Abschweifungen zu den Anfängen der Münchner Räterepublik, deren Protagonisten Erich Mühsam und Kurt Eisner hier aus der Beobachterperspektive Meyrinks neue Konturen gewinnen. Aber das ist nur ein Nebeneffekt. Vor allem gelingt es Christoph Poschenrieder mit diesem kleinen, doch zum Glück deutlich sichtbaren Roman, einen Schriftsteller zu vergegenwärtigen, der es verdient, der relativen Unsichtbarkeit entrissen zu werden. Auf dass sich sein Grab-Orakel doch noch erfüllen möge – falls er nicht schon wieder leibhaftig unter uns weilt.
Gegen ein großzügiges Honorar
soll er den Freimaurern in einem
Buch die Kriegsschuld zuschieben
Vielleicht erfüllt sich das Orakel
seines Grabsteins noch – oder er
weilt längst wieder unter uns
Gustav Meyrink wurde 1868 in Wien geboren, zog 1911 nach Starnberg, konvertierte 1927 zum Buddhismus und starb 1932.
Foto: Scherl/SZ Photo
Christoph Poschenrieder: Der unsichtbare Roman. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2019. 272 Seiten, 24 Euro.
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»Der hat so einen Spaß am Formulieren, dieser Christoph Poschenrieder - einer der besten deutschen Schriftsteller zurzeit.« Kristian Thees / SWR SWR