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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der islamische Faktor: Eugen Rogan widmet sich dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten und rückt dabei das britisch-osmanische Ringen ins Zentrum.
Der Erste Weltkrieg fand nicht nur an der Westfront statt. Das ist eine nur scheinbar banale Feststellung. Als 2014 in ganz Europa des hundertsten Jahrestages des Kriegsausbruchs gedacht wurde, blieb die Debatte in Deutschland doch weitgehend auf die Auseinandersetzung mit Großbritannien und Frankreich beschränkt. Man nahm den Krieg im Osten zur Kenntnis, doch setzten sich seine Besonderheiten kaum im Gedächtnis fest: Kriegsführung in riesigen Räumen, ausgreifende Operationen statt Stellungskrieg, der militärische Sieg der Mittelmächte. Noch weniger beachtet wird der Krieg im Südosten, am Balkan und im Nahen Osten.
Während für den Balkan eine Gesamtdarstellung immer noch nicht geschrieben ist, hat das Ringen des Osmanischen Reiches gegen die Ententemächte in den letzten Jahren die Forschung stärker beschäftigt: das Scheitern der Entente, die Dardanellen bei Gallipoli zu durchbrechen und Konstantinopel zu erobern, bildet in Teilen des früheren britischen Empire wie Australien und Neuseeland, deren Soldaten dort verbluteten, auch heute noch einen Erinnerungsort. Der von Lawrence of Arabia mitgeschürte Aufstand arabischer Stämme gegen die osmanische Herrschaft ist durch Bücher und Filme in der englischsprachigen Erinnerungskultur gut verankert. Der osmanische Genozid an den Armeniern stellt auch heute noch ein politisches Streitthema ersten Ranges zwischen der den Völkermord leugnenden Türkei und vielen Staaten dar, die den Genozid als solchen anerkannt haben.
Das katastrophale Scheitern der osmanischen Armee bei dem Versuch, gleich zu Kriegsbeginn in einem Winterfeldzug im Kaukasus die russische Armee zu überrumpeln, der große Sieg der Osmanen über eine britische Armee im südlichen Irak, bei Kut al Amara (1916), und der jahrelange verbissene Widerstand der Osmanen gegen das britische Empire in einem Bogen vom Jemen über die Arabische Halbinsel bis in das Zweistromland sind in der türkischen und arabischen Welt sehr, in Europa aber kaum bekannt.
Das Buch von Eugene Rogan will diesen Krieg im Nahen Osten beschreiben und so mit einer Deutung brechen, die die Front in Flandern immer noch monopolartig als Kernraum des Ersten Weltkrieges ansieht. Es verspricht darüber hinaus, das Ende des Osmanischen Reiches darzustellen.
Rogan ist Orientalist, und er nimmt sich vor, den Krieg nicht nur aus der Sicht der Briten und ihrer Verbündeten zu betrachten, sondern auch osmanische Akteure zu Wort kommen zu lassen. Es gehört zu den Stärken des Buches, die Stellung von Muslimen und des islamischen Faktors im Krieg herauszuarbeiten: den Dschihad, den der osmanische Sultan ausruft; die Furcht der Briten, der islamische Glaubenskrieg könnte ihre muslimischen Untertanen zwischen Ägypten und Indien erfassen; das deutsche Werben genau um diese Muslime unter britischer Herrschaft; das Schicksal algerischer Soldaten, die für Frankreich kämpften, in deutsche Gefangenschaft gerieten, sich für den Kampf gegen die Entente anwerben ließen und dann im Irak und im Kaukasus gegen Briten und Russen fochten. Vom anderen Ende der islamischen Welt kamen jene indischen Kolonialtruppen muslimischen Glaubens, die für das Empire gegen muslimische Osmanen im Irak kämpften; und auch hier gingen einige gefangene Offiziere zu den Osmanen über.
Im Ganzen bietet das Buch eine Ereignisgeschichte des Krieges, wie sie in der englischsprachigen Geschichtsschreibung gängig ist. Liebhaber detaillierter Beschreibungen von Kämpfen, Belagerungen, Entsatzversuchen, dem ersten Einsatz der Luftwaffe auf der Arabischen Halbinsel, von Spionageaktionen und strategischen Überlegungen kommen dabei auf ihre Kosten. Im Stile der jüngeren Militärgeschichte wird auch die Sichtweise der Kämpfenden auf beiden Seiten miteinbezogen. Doch verharrt das Buch letztlich in einer britischen Perspektive: britischen Stimmen, britischen Militäraktionen und politischen Entscheidungen wird weitaus mehr Platz eingeräumt als der osmanischen Seite.
Im Wesentlichen erzählt der Verfasser also von einem britisch-osmanischen Krieg. Der osmanisch-russische Gegensatz kommt demgegenüber zu kurz, und man vermisst russische Stimmen und Einschätzungen. Ganz erstaunlich aber ist, dass die Verbündeten des Osmanischen Reiches entweder blass bleiben, wie das Deutsche Reich, oder aber eigentlich ausgeblendet werden, wie Österreich-Ungarn und Bulgarien. Zwar wird die Rolle deutscher Offiziere und Soldaten erwähnt, doch erscheinen deutsche Quellen und die einschlägige Fachliteratur Rogan offenbar nicht als bedeutsam. Zwar zeichnet er die Aktionen eines Lawrence of Arabia im Detail nach, erwähnt dessen österreichisch-ungarischen Gegenspieler Alois Musil aber nicht mit einer Silbe. Musils Biograph Karl Johannes Bauer bemerkte treffend: "Vieles von dem, was Lawrence sein wollte, entspricht dem, was Musil war: ein Kenner Arabiens, ein wagemutiger Forscher, ein echter Freund der Beduinen."
Der arabische Raum stellte für die Osmanen gewiss den wichtigsten Kriegsschauplatz dar, doch wird kaum erwähnt, dass osmanische Soldaten auch an der europäischen Ostfront gegen Russland kämpften. Eine Analyse der angespannten Beziehungen des Osmanischen Reiches zu seinen Verbündeten unterbleibt ebenfalls mit Ausnahme der Konflikte zwischen osmanischen und deutschen Offizieren über Fragen von Taktik und Strategie. Viele der osmanischen Führer stammten vom Balkan und waren nicht bereit, diesen völlig aufzugeben. Daher rangen Osmanen, Bulgaren und die Donaumonarchie parallel zu den Kampfhandlungen um Einfluss im alten Westen des Osmanischen Reiches.
In Rogans Buch geht die Erzählung zu Lasten der Analyse. Warum und wie Imperien am Ende des Ersten Weltkrieges zusammenbrachen, wie Imperien sich im Weltkrieg ethnopolitisch radikalisierten und mit enormer Gewalt gegen echte und zumeist eingebildete innere Feinde vorgegangen sind, wie also der Weltkrieg die Ethnisierung alter imperialer Identitäten hervorrief oder enorm beschleunigte, geht aus Rogans Buch nur implizit hervor. Der Armeniergenozid, grauenhaftes Kernstück der jungtürkischen Kriegspolitik, die der Schaffung eines ethnisch und religiös homogenen anatolischen Kernraumes dienen sollte, wird zwar eindringlich geschildert, doch kaum vor dem Hintergrund einer vergleichenden Genozidforschung gedeutet.
Wer eine tatsächlich multiperspektivische Darstellung des Ersten Weltkrieges im Osten lesen will, sollte zur Darstellung des "Vergessenen Weltkrieges" der beiden polnischen Historiker Wlodzimierz Borodziej und Maciej Górny greifen. Eugene Rogans Buch gibt eine gut lesbare und solide Geschichte des Krieges des britischen Empire gegen das Osmanische Reich im Nahen Osten.
OLIVER JENS SCHMITT
Eugene Rogan: "Der Untergang des
Osmanischen Reichs". Der Erste Weltkrieg im Nahen Osten 1914 - 1920.
Aus dem Englischen
von Tobias Gabel
und Jörn Pinnow. WBG/Theiss Verlag, Darmstadt 2021. 592 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
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