Jean Detrez ist als Leiter einer Abteilung der Europäischen Kommission mit Zukunftsforschung befasst. Er ist Zukunftsexperte – aber kein Experte seiner eigenen Zukunft. Diese hat sich seit seiner Trennung von Diane in Luft aufgelöst. Die Kommission beauftragt ihn mit einer Machbarkeitsstudie: Eine rein europäische Blockchaintechnologie soll künftig die Unabhängigkeit von China und den USA gewährleisten. Nachdem Detrez seine Ergebnisse im Europäischen Parlament vorgestellt hat, wird er von zwei Lobbyisten zur Seite genommen. Aus Neugier lässt sich Detrez auf konspirative Treffen in dunklen Hotelbars ein. Nach der letzten Begegnung findet er einen USB-Stick auf dem Boden, den einer der beiden dort verloren hat. Detrez prüft den Inhalt und stößt auf Ungeheuerliches: Es geht nicht um Forschungszwecke, sondern um Bitcoins und den geheimen Auftrag einer chinesischen Firma. Um den Betrug aufzudecken, nimmt er kurzentschlossen einen Flieger nach China, statt wie geplant direkt zu einer Konferenz nach Japan zu reisen. Für 48 Stunden weiß niemand auf der Welt, wo er sich befindet. Der Plot über internationale Cyberkriminalität erzeugt große Spannung, und doch lesen wir einen Roman von Jean-Philippe Toussaint. Sein unverwechselbarer ernster wie ironisch-humorvoller Ton bannt den Leser und öffnet zugleich romaneskere Bahnen, die in die Vergangenheit, zur Familie, zu den Kindern des Protagonisten führen, der allem und jedem misstraut und sich doch ins Zentrum der Gefahr wagt. Und sosehr sich sein Chinaaufenthalt immer mehr zu einem Alptraum entwickelt, ahnt der Leser: Die eigentliche Katastrophe steht noch bevor. "Hält Jean-Philippe Toussaint den Schlüssel zur Zukunft in der Hand? Mit größter Genauigkeit beschreibt er unsere Welt, von der Technik dominiert und untertan gemacht." (LE CROIX) "Ein neues Buch von Toussaint zu öffnen, heißt immer, in ein neues Denkmodell einzutreten: In der Tarnung eines Spionageromans bringt er Fragen zur Sprache, die unsere Moderne durch Globalisierung und neue Technologien ausgelöst hat." (LIVRES) "Jean Detrez arbeitet bei der Europäischen Kommission über ein sensibles Thema. Zwei Lobbyisten treten an ihn heran. Bei einem konspirativen Treffen in einem Brüsseler Hotel verliert einer der beiden einen USB-Stick. Dieses Objekt macht aus dem neuen Roman von Jean-Philippe Toussaint ein Buch, das man bis zum Ende nicht mehr weglegen kann, packend wie ein Thriller." (EAN, JOURNAL DE LA LITTTÉRATURE) "Romanhafter denn je, durchaus auch autobiographisch und ohne dass sein Stil Leichtigkeit verliert, zeigt Toussaint in ›Der USB-Stick‹, wie die profitgierige Moderne europäische und demokratische Ideale erstickt." (LE GUIDE LIVRES)
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2020Du wirst dich noch für deine Daten rechtfertigen müssen
Jean-Philippe Toussaints grandioser Roman "Der USB-Stick"
Ein Mann verschwindet. Der Mann arbeitet "auf dem Gebiet der Strategischen Zukunftsforschung" für die Europäische Kommission, seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt er sich beruflich mit der Zukunft. Nur hat er selbst kaum eine - die Ehe ist hin, der Vater todkrank, und was beruflich vielversprechend aussieht, entpuppt sich schnell als krimineller Albtraum: Am Rande eines Kongresses sprechen ihn zwei zwielichtige Typen an. Sie arbeiten für eine bulgarische Beratungsgesellschaft, die XO-BR Consulting company for the development of blockchain and digital currencies. Hinter dem elaborierten Monsternamen verbergen sich die nicht sehr vertrauenserweckenden Digitalunternehmer John Stavropoulos und Dragan Kucka. Beide wollen "eine hundertprozentig europäische Blockchain auf die Beine" stellen, um den amerikanischen und den chinesischen Unternehmen etwas entgegenzusetzen.
Mit dieser Begegnung beginnt Jean-Philippe Toussaints neuer Roman - und springt sozusagen mitten hinein in eines der brennendsten politischen Themen der Gegenwart, zur Frage nämlich, ob es Europa gelingen könnte, einen dritten Weg zwischen zwei dystopischen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Während China immer mehr zum Beispiel dafür wird, wie eine Diktatur die Möglichkeiten der digitalen Revolution nutzt, um den Eigensinn ihrer Bürger zu brechen, sie restlos auszuspähen und durch ein Sozialpunktesystem zu steuern, machen amerikanische Tech-Konzerne auf ihre Weise nichts wesentlich anderes. Die Zukunft von Freiheit und Selbstbestimmung wird sich auch an der Frage des Dateneigentums entscheiden, wissen Zukunftsforscher wie Toussaints Held Detrez. Das Angebot der Bulgaren, eine EU-Blockchain-Technologie zu entwickeln, wenn auch auf chinesischen Rechnern, interessiert ihn - aber dann verliert Stavropoulos bei einem Treffen einen USB-Stick, auf dem Detrez haarsträubende Betrugspläne entdeckt: Die Bulgaren wollen mit EU-Geldern und EU-Rechnern Bitcoin-Mining betreiben, die Chinesen, findet der entgeisterte Detrez heraus, haben ihrerseits im Startprogramm des Prototyps AlphaMiner 88 "eine geheimnisvolle Backdoor" installiert, mit der sie die Bulgaren übers Ohr hauen können.
So beginnt "Der USB-Stick", den man auch als Krimi aus den neuen Digitalwelten lesen kann. Es gibt erstaunlich wenige Romane, die für die technologischen und die damit verbundenen psychosozialen Umbrüche der Gegenwart eine literarische Form finden - "Der USB-Stick" ist einer. Toussaint entdeckt, so wie J.G. Ballard einst die Abgründe und Schönheiten seiner Gegenwart in den "Betoninseln" der Autobahnkreuze fand, eine Sprache für das neue Milieu von hyperdynamischen Start-up-Unternehmern, kopflosen Idealisten, zwielichtigen Tech-Nerds und skrupellosen Geschäftemachern, für die das Make-the-World-a-better-place-Mantra des Silicon Valley vor allem eine Chance ist, Geld zu machen: Die neue Welt, die von orientierungslosen Regierungen und ehrgeizigen Konzernen im Namen von Ökologie und Sicherheit durchgesetzt wird, ist in ihrer derzeitigen Verfassung vor allem ein Milliardengeschäft, von dem einige wenige profitieren werden, während die Mehrheit als Masse datenliefernder Blutkörperchen durch die neuen Digitalwelten gepumpt wird. Diese düstere Analyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse prägt die Parabel vom Zukunftsforscher Detrez, einem Mann ohne Eigenschaften fürs digitale Zeitalter, dessen Nachname stark nach "Détresse" klingt, nach Verzweiflung. Das Absurde legt sich wie ein feiner Sprühregen über alle Versuche, durch Vorausberechnungen der Zukunft die Kontrolle über sie zu gewinnen.
Toussaints Romane - der neueste kongenial von Joachim Unseld übersetzt - sind vor allem auch sprachlich ein Ereignis. Es gibt einen Toussaint-Ton, den man sofort erkennt: Die oft durch nicht weniger als ein Dutzend Kommata getrennten Satzteile stoßen sich nacheinander an wie Kugeln in einer Kettenreaktion, dann spaltet sich die Erzählerstimme immer wieder auf und kommentiert das Gesagte in Klammern, wird eigentlich zu zwei Stimmen, ist ganz chez soi, wie das in Frankreich heißt - also Gast von jemandem, der man selbst ist. Ein Beispiel, aus dem Kapitel über das Verschwinden des Helden: "Es handelte sich auch nicht um eine dieser vorübergehenden Amnesien, eine Gedächtnislücke, ein flüchtiges Aussetzen des Erinnerungsvermögens, das einem übermäßigen Alkoholkonsum nach einem allzu feuchtfröhlichen Abend geschuldet wäre, wenn man sich beim Aufwachen nicht mehr an die Ereignisse der Nacht erinnert, die in unserem vernebelten Hirn nur bruchstückhaft wieder auftauchen, als ob die Dinge, die wir in der vorangegangenen Nacht erlebt hatten (manchmal die lustvollsten, wie etwa ein schnelles sexuelles Abenteuer), gegen unseren Willen geschehen sind und im Nachhinein aus dem Gedächtnis gelöscht worden wären. Nein, unter einem solchen Blackout hatte ich nicht zu leiden."
Das Verschwinden ist ein Motiv, das sich durch viele von Toussaints Romanen zieht - in "Das Badezimmer" taucht der Held buchstäblich im Badezimmer unter - und auch der Leerlauf, der Kampf mit der Sperrigkeit der Technik, die Panne als freiheitsstiftender Überraschungsmoment ziehen sich durchs Werk: Im "Photoapparat" trudeln die Protagonisten auf der Suche nach einem Passbildautomaten durch Paris, ein Auto springt nicht mehr an, schließlich stiehlt der Erzähler eine liegengelassene Kamera und lässt den Film entwickeln, so wie er im "USB-Stick" den namensgebenden Datenspeicher an sich nimmt - und immer sind die Folgen des Fehltritts, des Missgeschicks wahrheitsstiftend.
Toussaints neuer Roman ist dunkler und politischer als die früheren, vor allem als die zauberhafte "Marie"-Tetralogie, mit der Toussaint der französischsprachigen Literatur eine ihrer schönsten Frauenfiguren geschenkt hat, eine feine Gegenwartsdiagnose im Gewand einer polyglotten Liebesgeschichte, die von Paris nach Italien, China und Japan führte.
Im "USB-Stick" ist am Ende alles in Trümmern: Der Erzähler, der vor seinem großen Vortrag in der neuen Welt sein Skript verloren hat, fliegt, bis auf die Knochen blamiert, ins alte Europa zurück, wo sein Vater im Sterben liegt, und nur der Anblick eines allen Katastrophen widerstehenden Ginkgo-Baums ("der Baum, der nach der Explosion der Atombombe wieder ausgetrieben hat") vermag noch ein wenig Trost zu spenden.
"Der USB-Stick" ist auch ein Roman über Europa in der Krise - wie der Held Detrez, der für die EU als Zukunftsexperte ohne jeden Durchblick arbeitet, erscheint auch Europa selbst agonisiert durch seine Vorstellungen von Ethik, Umweltschutz und Humanismus, die den chinesischen Blockchain-Unternehmern herzlich egal sind. Man kann das als existentiellen Defätismus lesen - aber man kann in dieser lauten Verzweiflung auch einen politischen Warnschuss hören, die Zukunftsforschung, die hier zu einer Wortchimäre von depressiven Bürokraten verkommen ist, nicht den Konzernen und den Kommissionen zu überlassen.
Ein Satz verrät vielleicht mehr als andere Toussaints menschenfreundliche Skepsis - und so wie der letzte Satz von Voltaires Candide, "il faut cultiver notre jardin", ist er kein galliger Abschied von allen Hoffnungen, sondern eher eine Aufforderung, unmittelbares Glück einzufordern. Der Titel der Konferenz, die Detrez' Abteilung organisiert, lautet "Analyse Technologique de la Prospective", was das "hübsche Akronym ATP ergibt", das den Erzähler wiederum auf angenehmste Weise an die Association of Tennis Professionals erinnert. "Il faut cultiver notre jardin" - oder darin Tennis spielen: Manchmal ist das für alle heilsamer als jede Konferenz, die die Zukunft des Menschen in seiner Vorausberechnung sucht.
NIKLAS MAAK
Jean-Philippe Toussaint: "Der USB-Stick". Aus dem Französischen von Joachim Unseld, FVA, 192 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jean-Philippe Toussaints grandioser Roman "Der USB-Stick"
Ein Mann verschwindet. Der Mann arbeitet "auf dem Gebiet der Strategischen Zukunftsforschung" für die Europäische Kommission, seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt er sich beruflich mit der Zukunft. Nur hat er selbst kaum eine - die Ehe ist hin, der Vater todkrank, und was beruflich vielversprechend aussieht, entpuppt sich schnell als krimineller Albtraum: Am Rande eines Kongresses sprechen ihn zwei zwielichtige Typen an. Sie arbeiten für eine bulgarische Beratungsgesellschaft, die XO-BR Consulting company for the development of blockchain and digital currencies. Hinter dem elaborierten Monsternamen verbergen sich die nicht sehr vertrauenserweckenden Digitalunternehmer John Stavropoulos und Dragan Kucka. Beide wollen "eine hundertprozentig europäische Blockchain auf die Beine" stellen, um den amerikanischen und den chinesischen Unternehmen etwas entgegenzusetzen.
Mit dieser Begegnung beginnt Jean-Philippe Toussaints neuer Roman - und springt sozusagen mitten hinein in eines der brennendsten politischen Themen der Gegenwart, zur Frage nämlich, ob es Europa gelingen könnte, einen dritten Weg zwischen zwei dystopischen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Während China immer mehr zum Beispiel dafür wird, wie eine Diktatur die Möglichkeiten der digitalen Revolution nutzt, um den Eigensinn ihrer Bürger zu brechen, sie restlos auszuspähen und durch ein Sozialpunktesystem zu steuern, machen amerikanische Tech-Konzerne auf ihre Weise nichts wesentlich anderes. Die Zukunft von Freiheit und Selbstbestimmung wird sich auch an der Frage des Dateneigentums entscheiden, wissen Zukunftsforscher wie Toussaints Held Detrez. Das Angebot der Bulgaren, eine EU-Blockchain-Technologie zu entwickeln, wenn auch auf chinesischen Rechnern, interessiert ihn - aber dann verliert Stavropoulos bei einem Treffen einen USB-Stick, auf dem Detrez haarsträubende Betrugspläne entdeckt: Die Bulgaren wollen mit EU-Geldern und EU-Rechnern Bitcoin-Mining betreiben, die Chinesen, findet der entgeisterte Detrez heraus, haben ihrerseits im Startprogramm des Prototyps AlphaMiner 88 "eine geheimnisvolle Backdoor" installiert, mit der sie die Bulgaren übers Ohr hauen können.
So beginnt "Der USB-Stick", den man auch als Krimi aus den neuen Digitalwelten lesen kann. Es gibt erstaunlich wenige Romane, die für die technologischen und die damit verbundenen psychosozialen Umbrüche der Gegenwart eine literarische Form finden - "Der USB-Stick" ist einer. Toussaint entdeckt, so wie J.G. Ballard einst die Abgründe und Schönheiten seiner Gegenwart in den "Betoninseln" der Autobahnkreuze fand, eine Sprache für das neue Milieu von hyperdynamischen Start-up-Unternehmern, kopflosen Idealisten, zwielichtigen Tech-Nerds und skrupellosen Geschäftemachern, für die das Make-the-World-a-better-place-Mantra des Silicon Valley vor allem eine Chance ist, Geld zu machen: Die neue Welt, die von orientierungslosen Regierungen und ehrgeizigen Konzernen im Namen von Ökologie und Sicherheit durchgesetzt wird, ist in ihrer derzeitigen Verfassung vor allem ein Milliardengeschäft, von dem einige wenige profitieren werden, während die Mehrheit als Masse datenliefernder Blutkörperchen durch die neuen Digitalwelten gepumpt wird. Diese düstere Analyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse prägt die Parabel vom Zukunftsforscher Detrez, einem Mann ohne Eigenschaften fürs digitale Zeitalter, dessen Nachname stark nach "Détresse" klingt, nach Verzweiflung. Das Absurde legt sich wie ein feiner Sprühregen über alle Versuche, durch Vorausberechnungen der Zukunft die Kontrolle über sie zu gewinnen.
Toussaints Romane - der neueste kongenial von Joachim Unseld übersetzt - sind vor allem auch sprachlich ein Ereignis. Es gibt einen Toussaint-Ton, den man sofort erkennt: Die oft durch nicht weniger als ein Dutzend Kommata getrennten Satzteile stoßen sich nacheinander an wie Kugeln in einer Kettenreaktion, dann spaltet sich die Erzählerstimme immer wieder auf und kommentiert das Gesagte in Klammern, wird eigentlich zu zwei Stimmen, ist ganz chez soi, wie das in Frankreich heißt - also Gast von jemandem, der man selbst ist. Ein Beispiel, aus dem Kapitel über das Verschwinden des Helden: "Es handelte sich auch nicht um eine dieser vorübergehenden Amnesien, eine Gedächtnislücke, ein flüchtiges Aussetzen des Erinnerungsvermögens, das einem übermäßigen Alkoholkonsum nach einem allzu feuchtfröhlichen Abend geschuldet wäre, wenn man sich beim Aufwachen nicht mehr an die Ereignisse der Nacht erinnert, die in unserem vernebelten Hirn nur bruchstückhaft wieder auftauchen, als ob die Dinge, die wir in der vorangegangenen Nacht erlebt hatten (manchmal die lustvollsten, wie etwa ein schnelles sexuelles Abenteuer), gegen unseren Willen geschehen sind und im Nachhinein aus dem Gedächtnis gelöscht worden wären. Nein, unter einem solchen Blackout hatte ich nicht zu leiden."
Das Verschwinden ist ein Motiv, das sich durch viele von Toussaints Romanen zieht - in "Das Badezimmer" taucht der Held buchstäblich im Badezimmer unter - und auch der Leerlauf, der Kampf mit der Sperrigkeit der Technik, die Panne als freiheitsstiftender Überraschungsmoment ziehen sich durchs Werk: Im "Photoapparat" trudeln die Protagonisten auf der Suche nach einem Passbildautomaten durch Paris, ein Auto springt nicht mehr an, schließlich stiehlt der Erzähler eine liegengelassene Kamera und lässt den Film entwickeln, so wie er im "USB-Stick" den namensgebenden Datenspeicher an sich nimmt - und immer sind die Folgen des Fehltritts, des Missgeschicks wahrheitsstiftend.
Toussaints neuer Roman ist dunkler und politischer als die früheren, vor allem als die zauberhafte "Marie"-Tetralogie, mit der Toussaint der französischsprachigen Literatur eine ihrer schönsten Frauenfiguren geschenkt hat, eine feine Gegenwartsdiagnose im Gewand einer polyglotten Liebesgeschichte, die von Paris nach Italien, China und Japan führte.
Im "USB-Stick" ist am Ende alles in Trümmern: Der Erzähler, der vor seinem großen Vortrag in der neuen Welt sein Skript verloren hat, fliegt, bis auf die Knochen blamiert, ins alte Europa zurück, wo sein Vater im Sterben liegt, und nur der Anblick eines allen Katastrophen widerstehenden Ginkgo-Baums ("der Baum, der nach der Explosion der Atombombe wieder ausgetrieben hat") vermag noch ein wenig Trost zu spenden.
"Der USB-Stick" ist auch ein Roman über Europa in der Krise - wie der Held Detrez, der für die EU als Zukunftsexperte ohne jeden Durchblick arbeitet, erscheint auch Europa selbst agonisiert durch seine Vorstellungen von Ethik, Umweltschutz und Humanismus, die den chinesischen Blockchain-Unternehmern herzlich egal sind. Man kann das als existentiellen Defätismus lesen - aber man kann in dieser lauten Verzweiflung auch einen politischen Warnschuss hören, die Zukunftsforschung, die hier zu einer Wortchimäre von depressiven Bürokraten verkommen ist, nicht den Konzernen und den Kommissionen zu überlassen.
Ein Satz verrät vielleicht mehr als andere Toussaints menschenfreundliche Skepsis - und so wie der letzte Satz von Voltaires Candide, "il faut cultiver notre jardin", ist er kein galliger Abschied von allen Hoffnungen, sondern eher eine Aufforderung, unmittelbares Glück einzufordern. Der Titel der Konferenz, die Detrez' Abteilung organisiert, lautet "Analyse Technologique de la Prospective", was das "hübsche Akronym ATP ergibt", das den Erzähler wiederum auf angenehmste Weise an die Association of Tennis Professionals erinnert. "Il faut cultiver notre jardin" - oder darin Tennis spielen: Manchmal ist das für alle heilsamer als jede Konferenz, die die Zukunft des Menschen in seiner Vorausberechnung sucht.
NIKLAS MAAK
Jean-Philippe Toussaint: "Der USB-Stick". Aus dem Französischen von Joachim Unseld, FVA, 192 Seiten, 22 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.05.2020Die Lücke im Kalender
Der große französische Erzähler Jean-Philippe Toussaint verwickelt
einen Zukunftsforscher in dreckige Deals mit Cyberkriminellen
VON ALEX RÜHLE
Die Zukunft kennt ja keiner. Weshalb man sie, je nach Lebenslaune und -situation, als vielversprechend schimmernden Möglichkeitsraum sehen kann, als endlos öden Korridor des Weiterwurstelns, oder, wie Jean Detrez, nur noch ex negativo: „Ich hatte das Gefühl, gar keine eigene Zukunft mehr zu besitzen.“
Ironischerweise ist dieser Jean Detrez Zukunftsforscher, genauer gesagt leitet er bei der Europäischen Kommission in Brüssel eine Abteilung für strategische Zukunftsforschung, die das Potenzial und die Risiken von Blockchains und Bitcoins ermitteln soll. Nach einem seiner Vorträge nehmen drei Lobbyisten mit ihm Kontakt auf, deren gefährliche Halbwelt-Aura schon aus ihren Namen herauszuklingen scheint: John Stavropoulos, Dragan Kucka, Yolanda Paul, allesamt Mitarbeiter der bulgarischen XO-BR Consulting. Sie wollen eine europäische Blockchain auf die Beine stellen, außerdem munkeln sie von der Möglichkeit, Detrez mit chinesischen Konstrukteuren in Kontakt zu bringen, die angeblich an einem extrem leistungsstarken Computer arbeiten, dem Alpha Miner 88, der sich hervorragend zur Produktion von Bitcoins eignet.
Detrez trifft sich immer wieder mit den drei undurchsichtigen Informanten, angefixt von dieser halblegalen Mischung aus Geraune und Kompetenz, außerdem beunruhigt vom Gefühl, Europa werde von China auf dem Gebiet der Blockchaintechnologie ein für allemal abgehängt. Bei einem der Treffen verliert Stavropoulos einen USB-Stick, den Detrez einsteckt und so einem großen Betrugsplan auf die Spur kommt: Seine seltsamen Lobbyisten wollen mit EU-Geldern Bitcoin-Mining im großen Stil betreiben, mithilfe des neuen chinesischen Rechners, der wiederum über eine Backdoor verfügt, was ein Betrug im Betrug wäre, könnte er doch von China aus gesteuert werden. Man kann das alles verraten, weil der Roman selbst es bald enthüllt.
Es beginnt also wie ein Noir: Ein dreckiger Deal. Ein Ich-Erzähler in der Midlife-Crisis, desillusioniert, zweimal geschieden, verloren im Lebenslabyrinth (Detrez klingt auf französisch wie détresse, also Not), der aber unbedingt versucht, ein moralisch integres Leben zu führen. Schnauzbärtige Ganoven in beigen Gabardinemänteln und eine „hübsche junge Frau im Trenchcoat, mit Schal und Sonnenbrille“, die Detrez selbstverständlich schon beim ersten Zweiertreffen erotische Avancen macht. Spätestens da fragt man sich, warum dieser extrem korrekte, zurückhaltende Beamte – er selbst nennt das ganze Buch über nie seinen Namen – den drei so offensichtlich schmierigen Zwischenhändlern immer weiter ins Halbdunkel folgt. Ja, er lässt sich sogar dazu überreden, nach China zu fliegen, um sich mit dem Konstrukteur des Alpha Miner zu treffen. Da er eh in Japan einen Vortrag halten muss, legt er einen Zwischenstopp in Dalian ein, von dem niemand weiß, eine Leerstelle im sonst so durchgetakteten Alltag.
Der Roman beginnt mit diesem Trip beziehungsweise der inoffiziellen Lücke in seinem Terminkalender. „Eine Leerstelle, ja, wenn ich daran zurückdenke, beginnt es mit einer Leerstelle.“ Das ist natürlich gleich ein Leckerbissen für alle Hermeneutikgourmets. Ein Roman, der mit Nichts anfängt! Teufel auch. Und dann noch von Jean-Philippe Toussaint, diesem großen französischen Erzähler, der aus seinen Texten so gern dichte, lustvolle Verweissysteme webt. „M.M.M.M.“ etwa ist eine raffinierte Tetralogie, in der ein Erzähler sein Objekt der Begierde immer neu, immer anders verfehlt, ersehnt, missversteht, eine erotische Spurensuche voller Lücken, Umwege und Rätsel. Auch da ist die ganze Welt ein Spiegellabyrinth, durch das man sich aber voller Spannung und Vergnügen liest. Außerdem ist Toussaint einer der großen Reisenden der Weltliteratur, in Frankreich erschien 2017 „Made in China“ ein sehr schönes, weltgesättigtes Buch über das Schreiben, den Zufall und die Fremde.
Hier hingegen wirkt alles bald schon überfrachtet, künstlich, angelesen. Auf eine fünfseitige Erklärung, was es mit der Zukunftsforschung auf sich habe, folgen Ausführungen über Wesen und Gefahren der Blockchaintechnologie, nicht raffiniert eingewoben, sondern fast schon wie eine Wikipediadozentur. In China erwartet einen nicht die Fremde, vielmehr erwarten einen Exkurse, die klingen, als seien sie aus besorgten hiesigen Wirtschaftsessays unserer Tage kompiliert: „Eine solche Dynamik ist nur denkbar, weil es in China nicht diese hyperverbindlichen Reglementierungen gibt, die wir in Europa mit großem Stolz hochhalten. Vielleicht muss man darin einen strukturellen Fehler Europas erkennen, aber es ist eine Tatsache, dass wir uns ständig ausbremsen und uns Fesseln anlegen, aus Respekt gegenüber geltenden Normen des Umweltschutzes, wegen unserer Moral, unserer Ethik, unseres humanistischen Ideals, das wir der Welt demonstrieren.“
Detrez macht dem Klang seines Namens zu dem Zeitpunkt längst alle Ehre, er gerät tatsächlich in Not, als ihm sein Rechner auf einer Toilette in China geklaut wird, der Rechner, auf dem sein ganzes Leben liegt – so wie der Vortrag, den er in Japan halten soll. Weshalb er dann auf offener Bühne totalen Schiffbruch erleidet, stammelt, schließlich schweigt und – ja richtig, Schweigen, da haben wir nach der Zukunft und den kaputten Ehen eine weitere Leerstelle. Direkt gefolgt von der größten, der endgültigen Leerstelle: Direkt nach dem gescheiterten Vortrag erfährt Detrez, sein Vater liege im Sterben. Die ganze Blockchaingeschichte ist da schon vergessen, das Buch wird auf den letzten Seiten zu einer Art plötzlichem Lebensresümee, einer kaum verkleideten Hommage an Toussaints eigenen Vater, Yyon Toussaint, einen Brüsseler Journalisten und Krimiautoren, der 2013 gestorben ist.
Der Schmerz aber über dessen Tod, die Ergriffenheit und Verwirrung können auch wieder nur als Leerstelle empfunden und formuliert werden, „ich konnte diese Gefühle nur von außen beobachten, und in dieser Nuance, in dieser winzigen Unterscheidung, erkannte ich eine Konstante meines Wesens, eine Steifheit, eine Ungerührtheit und eine Schwierigkeit, meine Gefühle auszudrücken, die ich schon immer hatte“. Als Leser fühlt man sich leider ähnlich außen vor gelassen und so bleibt am Ende doch eine unbefriedigende Leere zurück.
„Eine Leerstelle, ja, wenn ich
daran zurückdenke, beginnt es
mit einer Leerstelle.“
Auf einer Toilette in China
wird dem Helden
der Rechner geklaut
Jean-Philippe Toussaint: Der USB-Stick. Roman.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2020.
192 Seiten, 22 Euro.
Toussaints Held legt in der Hafenstadt Dalian einen Zwischenstopp ein, von dem niemand weiß.
Foto: imago images / Xinhua
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der große französische Erzähler Jean-Philippe Toussaint verwickelt
einen Zukunftsforscher in dreckige Deals mit Cyberkriminellen
VON ALEX RÜHLE
Die Zukunft kennt ja keiner. Weshalb man sie, je nach Lebenslaune und -situation, als vielversprechend schimmernden Möglichkeitsraum sehen kann, als endlos öden Korridor des Weiterwurstelns, oder, wie Jean Detrez, nur noch ex negativo: „Ich hatte das Gefühl, gar keine eigene Zukunft mehr zu besitzen.“
Ironischerweise ist dieser Jean Detrez Zukunftsforscher, genauer gesagt leitet er bei der Europäischen Kommission in Brüssel eine Abteilung für strategische Zukunftsforschung, die das Potenzial und die Risiken von Blockchains und Bitcoins ermitteln soll. Nach einem seiner Vorträge nehmen drei Lobbyisten mit ihm Kontakt auf, deren gefährliche Halbwelt-Aura schon aus ihren Namen herauszuklingen scheint: John Stavropoulos, Dragan Kucka, Yolanda Paul, allesamt Mitarbeiter der bulgarischen XO-BR Consulting. Sie wollen eine europäische Blockchain auf die Beine stellen, außerdem munkeln sie von der Möglichkeit, Detrez mit chinesischen Konstrukteuren in Kontakt zu bringen, die angeblich an einem extrem leistungsstarken Computer arbeiten, dem Alpha Miner 88, der sich hervorragend zur Produktion von Bitcoins eignet.
Detrez trifft sich immer wieder mit den drei undurchsichtigen Informanten, angefixt von dieser halblegalen Mischung aus Geraune und Kompetenz, außerdem beunruhigt vom Gefühl, Europa werde von China auf dem Gebiet der Blockchaintechnologie ein für allemal abgehängt. Bei einem der Treffen verliert Stavropoulos einen USB-Stick, den Detrez einsteckt und so einem großen Betrugsplan auf die Spur kommt: Seine seltsamen Lobbyisten wollen mit EU-Geldern Bitcoin-Mining im großen Stil betreiben, mithilfe des neuen chinesischen Rechners, der wiederum über eine Backdoor verfügt, was ein Betrug im Betrug wäre, könnte er doch von China aus gesteuert werden. Man kann das alles verraten, weil der Roman selbst es bald enthüllt.
Es beginnt also wie ein Noir: Ein dreckiger Deal. Ein Ich-Erzähler in der Midlife-Crisis, desillusioniert, zweimal geschieden, verloren im Lebenslabyrinth (Detrez klingt auf französisch wie détresse, also Not), der aber unbedingt versucht, ein moralisch integres Leben zu führen. Schnauzbärtige Ganoven in beigen Gabardinemänteln und eine „hübsche junge Frau im Trenchcoat, mit Schal und Sonnenbrille“, die Detrez selbstverständlich schon beim ersten Zweiertreffen erotische Avancen macht. Spätestens da fragt man sich, warum dieser extrem korrekte, zurückhaltende Beamte – er selbst nennt das ganze Buch über nie seinen Namen – den drei so offensichtlich schmierigen Zwischenhändlern immer weiter ins Halbdunkel folgt. Ja, er lässt sich sogar dazu überreden, nach China zu fliegen, um sich mit dem Konstrukteur des Alpha Miner zu treffen. Da er eh in Japan einen Vortrag halten muss, legt er einen Zwischenstopp in Dalian ein, von dem niemand weiß, eine Leerstelle im sonst so durchgetakteten Alltag.
Der Roman beginnt mit diesem Trip beziehungsweise der inoffiziellen Lücke in seinem Terminkalender. „Eine Leerstelle, ja, wenn ich daran zurückdenke, beginnt es mit einer Leerstelle.“ Das ist natürlich gleich ein Leckerbissen für alle Hermeneutikgourmets. Ein Roman, der mit Nichts anfängt! Teufel auch. Und dann noch von Jean-Philippe Toussaint, diesem großen französischen Erzähler, der aus seinen Texten so gern dichte, lustvolle Verweissysteme webt. „M.M.M.M.“ etwa ist eine raffinierte Tetralogie, in der ein Erzähler sein Objekt der Begierde immer neu, immer anders verfehlt, ersehnt, missversteht, eine erotische Spurensuche voller Lücken, Umwege und Rätsel. Auch da ist die ganze Welt ein Spiegellabyrinth, durch das man sich aber voller Spannung und Vergnügen liest. Außerdem ist Toussaint einer der großen Reisenden der Weltliteratur, in Frankreich erschien 2017 „Made in China“ ein sehr schönes, weltgesättigtes Buch über das Schreiben, den Zufall und die Fremde.
Hier hingegen wirkt alles bald schon überfrachtet, künstlich, angelesen. Auf eine fünfseitige Erklärung, was es mit der Zukunftsforschung auf sich habe, folgen Ausführungen über Wesen und Gefahren der Blockchaintechnologie, nicht raffiniert eingewoben, sondern fast schon wie eine Wikipediadozentur. In China erwartet einen nicht die Fremde, vielmehr erwarten einen Exkurse, die klingen, als seien sie aus besorgten hiesigen Wirtschaftsessays unserer Tage kompiliert: „Eine solche Dynamik ist nur denkbar, weil es in China nicht diese hyperverbindlichen Reglementierungen gibt, die wir in Europa mit großem Stolz hochhalten. Vielleicht muss man darin einen strukturellen Fehler Europas erkennen, aber es ist eine Tatsache, dass wir uns ständig ausbremsen und uns Fesseln anlegen, aus Respekt gegenüber geltenden Normen des Umweltschutzes, wegen unserer Moral, unserer Ethik, unseres humanistischen Ideals, das wir der Welt demonstrieren.“
Detrez macht dem Klang seines Namens zu dem Zeitpunkt längst alle Ehre, er gerät tatsächlich in Not, als ihm sein Rechner auf einer Toilette in China geklaut wird, der Rechner, auf dem sein ganzes Leben liegt – so wie der Vortrag, den er in Japan halten soll. Weshalb er dann auf offener Bühne totalen Schiffbruch erleidet, stammelt, schließlich schweigt und – ja richtig, Schweigen, da haben wir nach der Zukunft und den kaputten Ehen eine weitere Leerstelle. Direkt gefolgt von der größten, der endgültigen Leerstelle: Direkt nach dem gescheiterten Vortrag erfährt Detrez, sein Vater liege im Sterben. Die ganze Blockchaingeschichte ist da schon vergessen, das Buch wird auf den letzten Seiten zu einer Art plötzlichem Lebensresümee, einer kaum verkleideten Hommage an Toussaints eigenen Vater, Yyon Toussaint, einen Brüsseler Journalisten und Krimiautoren, der 2013 gestorben ist.
Der Schmerz aber über dessen Tod, die Ergriffenheit und Verwirrung können auch wieder nur als Leerstelle empfunden und formuliert werden, „ich konnte diese Gefühle nur von außen beobachten, und in dieser Nuance, in dieser winzigen Unterscheidung, erkannte ich eine Konstante meines Wesens, eine Steifheit, eine Ungerührtheit und eine Schwierigkeit, meine Gefühle auszudrücken, die ich schon immer hatte“. Als Leser fühlt man sich leider ähnlich außen vor gelassen und so bleibt am Ende doch eine unbefriedigende Leere zurück.
„Eine Leerstelle, ja, wenn ich
daran zurückdenke, beginnt es
mit einer Leerstelle.“
Auf einer Toilette in China
wird dem Helden
der Rechner geklaut
Jean-Philippe Toussaint: Der USB-Stick. Roman.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt 2020.
192 Seiten, 22 Euro.
Toussaints Held legt in der Hafenstadt Dalian einen Zwischenstopp ein, von dem niemand weiß.
Foto: imago images / Xinhua
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