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Jean-Philippe Toussaints grandioser Roman "Der USB-Stick"
Ein Mann verschwindet. Der Mann arbeitet "auf dem Gebiet der Strategischen Zukunftsforschung" für die Europäische Kommission, seit mehr als zwanzig Jahren beschäftigt er sich beruflich mit der Zukunft. Nur hat er selbst kaum eine - die Ehe ist hin, der Vater todkrank, und was beruflich vielversprechend aussieht, entpuppt sich schnell als krimineller Albtraum: Am Rande eines Kongresses sprechen ihn zwei zwielichtige Typen an. Sie arbeiten für eine bulgarische Beratungsgesellschaft, die XO-BR Consulting company for the development of blockchain and digital currencies. Hinter dem elaborierten Monsternamen verbergen sich die nicht sehr vertrauenserweckenden Digitalunternehmer John Stavropoulos und Dragan Kucka. Beide wollen "eine hundertprozentig europäische Blockchain auf die Beine" stellen, um den amerikanischen und den chinesischen Unternehmen etwas entgegenzusetzen.
Mit dieser Begegnung beginnt Jean-Philippe Toussaints neuer Roman - und springt sozusagen mitten hinein in eines der brennendsten politischen Themen der Gegenwart, zur Frage nämlich, ob es Europa gelingen könnte, einen dritten Weg zwischen zwei dystopischen Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Während China immer mehr zum Beispiel dafür wird, wie eine Diktatur die Möglichkeiten der digitalen Revolution nutzt, um den Eigensinn ihrer Bürger zu brechen, sie restlos auszuspähen und durch ein Sozialpunktesystem zu steuern, machen amerikanische Tech-Konzerne auf ihre Weise nichts wesentlich anderes. Die Zukunft von Freiheit und Selbstbestimmung wird sich auch an der Frage des Dateneigentums entscheiden, wissen Zukunftsforscher wie Toussaints Held Detrez. Das Angebot der Bulgaren, eine EU-Blockchain-Technologie zu entwickeln, wenn auch auf chinesischen Rechnern, interessiert ihn - aber dann verliert Stavropoulos bei einem Treffen einen USB-Stick, auf dem Detrez haarsträubende Betrugspläne entdeckt: Die Bulgaren wollen mit EU-Geldern und EU-Rechnern Bitcoin-Mining betreiben, die Chinesen, findet der entgeisterte Detrez heraus, haben ihrerseits im Startprogramm des Prototyps AlphaMiner 88 "eine geheimnisvolle Backdoor" installiert, mit der sie die Bulgaren übers Ohr hauen können.
So beginnt "Der USB-Stick", den man auch als Krimi aus den neuen Digitalwelten lesen kann. Es gibt erstaunlich wenige Romane, die für die technologischen und die damit verbundenen psychosozialen Umbrüche der Gegenwart eine literarische Form finden - "Der USB-Stick" ist einer. Toussaint entdeckt, so wie J.G. Ballard einst die Abgründe und Schönheiten seiner Gegenwart in den "Betoninseln" der Autobahnkreuze fand, eine Sprache für das neue Milieu von hyperdynamischen Start-up-Unternehmern, kopflosen Idealisten, zwielichtigen Tech-Nerds und skrupellosen Geschäftemachern, für die das Make-the-World-a-better-place-Mantra des Silicon Valley vor allem eine Chance ist, Geld zu machen: Die neue Welt, die von orientierungslosen Regierungen und ehrgeizigen Konzernen im Namen von Ökologie und Sicherheit durchgesetzt wird, ist in ihrer derzeitigen Verfassung vor allem ein Milliardengeschäft, von dem einige wenige profitieren werden, während die Mehrheit als Masse datenliefernder Blutkörperchen durch die neuen Digitalwelten gepumpt wird. Diese düstere Analyse der gegenwärtigen Machtverhältnisse prägt die Parabel vom Zukunftsforscher Detrez, einem Mann ohne Eigenschaften fürs digitale Zeitalter, dessen Nachname stark nach "Détresse" klingt, nach Verzweiflung. Das Absurde legt sich wie ein feiner Sprühregen über alle Versuche, durch Vorausberechnungen der Zukunft die Kontrolle über sie zu gewinnen.
Toussaints Romane - der neueste kongenial von Joachim Unseld übersetzt - sind vor allem auch sprachlich ein Ereignis. Es gibt einen Toussaint-Ton, den man sofort erkennt: Die oft durch nicht weniger als ein Dutzend Kommata getrennten Satzteile stoßen sich nacheinander an wie Kugeln in einer Kettenreaktion, dann spaltet sich die Erzählerstimme immer wieder auf und kommentiert das Gesagte in Klammern, wird eigentlich zu zwei Stimmen, ist ganz chez soi, wie das in Frankreich heißt - also Gast von jemandem, der man selbst ist. Ein Beispiel, aus dem Kapitel über das Verschwinden des Helden: "Es handelte sich auch nicht um eine dieser vorübergehenden Amnesien, eine Gedächtnislücke, ein flüchtiges Aussetzen des Erinnerungsvermögens, das einem übermäßigen Alkoholkonsum nach einem allzu feuchtfröhlichen Abend geschuldet wäre, wenn man sich beim Aufwachen nicht mehr an die Ereignisse der Nacht erinnert, die in unserem vernebelten Hirn nur bruchstückhaft wieder auftauchen, als ob die Dinge, die wir in der vorangegangenen Nacht erlebt hatten (manchmal die lustvollsten, wie etwa ein schnelles sexuelles Abenteuer), gegen unseren Willen geschehen sind und im Nachhinein aus dem Gedächtnis gelöscht worden wären. Nein, unter einem solchen Blackout hatte ich nicht zu leiden."
Das Verschwinden ist ein Motiv, das sich durch viele von Toussaints Romanen zieht - in "Das Badezimmer" taucht der Held buchstäblich im Badezimmer unter - und auch der Leerlauf, der Kampf mit der Sperrigkeit der Technik, die Panne als freiheitsstiftender Überraschungsmoment ziehen sich durchs Werk: Im "Photoapparat" trudeln die Protagonisten auf der Suche nach einem Passbildautomaten durch Paris, ein Auto springt nicht mehr an, schließlich stiehlt der Erzähler eine liegengelassene Kamera und lässt den Film entwickeln, so wie er im "USB-Stick" den namensgebenden Datenspeicher an sich nimmt - und immer sind die Folgen des Fehltritts, des Missgeschicks wahrheitsstiftend.
Toussaints neuer Roman ist dunkler und politischer als die früheren, vor allem als die zauberhafte "Marie"-Tetralogie, mit der Toussaint der französischsprachigen Literatur eine ihrer schönsten Frauenfiguren geschenkt hat, eine feine Gegenwartsdiagnose im Gewand einer polyglotten Liebesgeschichte, die von Paris nach Italien, China und Japan führte.
Im "USB-Stick" ist am Ende alles in Trümmern: Der Erzähler, der vor seinem großen Vortrag in der neuen Welt sein Skript verloren hat, fliegt, bis auf die Knochen blamiert, ins alte Europa zurück, wo sein Vater im Sterben liegt, und nur der Anblick eines allen Katastrophen widerstehenden Ginkgo-Baums ("der Baum, der nach der Explosion der Atombombe wieder ausgetrieben hat") vermag noch ein wenig Trost zu spenden.
"Der USB-Stick" ist auch ein Roman über Europa in der Krise - wie der Held Detrez, der für die EU als Zukunftsexperte ohne jeden Durchblick arbeitet, erscheint auch Europa selbst agonisiert durch seine Vorstellungen von Ethik, Umweltschutz und Humanismus, die den chinesischen Blockchain-Unternehmern herzlich egal sind. Man kann das als existentiellen Defätismus lesen - aber man kann in dieser lauten Verzweiflung auch einen politischen Warnschuss hören, die Zukunftsforschung, die hier zu einer Wortchimäre von depressiven Bürokraten verkommen ist, nicht den Konzernen und den Kommissionen zu überlassen.
Ein Satz verrät vielleicht mehr als andere Toussaints menschenfreundliche Skepsis - und so wie der letzte Satz von Voltaires Candide, "il faut cultiver notre jardin", ist er kein galliger Abschied von allen Hoffnungen, sondern eher eine Aufforderung, unmittelbares Glück einzufordern. Der Titel der Konferenz, die Detrez' Abteilung organisiert, lautet "Analyse Technologique de la Prospective", was das "hübsche Akronym ATP ergibt", das den Erzähler wiederum auf angenehmste Weise an die Association of Tennis Professionals erinnert. "Il faut cultiver notre jardin" - oder darin Tennis spielen: Manchmal ist das für alle heilsamer als jede Konferenz, die die Zukunft des Menschen in seiner Vorausberechnung sucht.
NIKLAS MAAK
Jean-Philippe Toussaint: "Der USB-Stick". Aus dem Französischen von Joachim Unseld, FVA, 192 Seiten, 22 Euro
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