Die 1990 gegründete Reihe, die auf eine Anregung von Mazzino Montinari zurückgeht, publiziert Quellenmaterialien zu Nietzsches Leben, seinem Umkreis und seiner Wirkung. Die Supplementa stellen somit eine Ergänzung zu den Kritischen Ausgaben von Nietzsches Werken (KGW) und Briefen (KGB) dar.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.11.1999Der Antichrist als Nothelfer
Peter Köster untersucht die katholische Nietzsche-Rezeption
"Ein feste Burg ist unser Gott", dichtete Luther. "Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land", singen die Katholiken und meinen ihre Kirche. "Ein gute Wehr und Waffen", fuhr Luther fort, und auch die weiteren Strophen des katholischen Liedes lassen keinen Zweifel daran, dass das Bild vom Gotteshaus neben Schönheit des Gebäudes und Festigkeit der Fundamente auch Wehrhaftigkeit seiner Bewohner impliziert. Da ist von "starker Türme Wehr", von Streit und Krieg die Rede. Als es geschrieben wurde, befand sich die römische Kirche mitten im Kampf mit dem preußischen Staat.
Einer Zeile dieses "Kulturkampf-Kirchenliedes" - "die Reih'n stehn fest geschlossen" - liest Peter Köster das prägende Strukturmerkmal des deutschen Katholizismus im Kaiserreich ab: "Geschlossenheit" im doppelten Sinne der Abgeschlossenheit nach außen und des Bemühens um Innenstabilität. Die "zitadellengleiche Geschlossenheit des Katholischen Raumes" bietet die ideale Voraussetzung für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung, die keinen Beitrag zur Nietzsche-Interpretation leisten, sondern die "Konstituierung eines Gruppenurteils" erforschen will. Die für einen Katholiken natürliche Haltung gegenüber Nietzsche ist ablehnend. Es ist kaum zu erwarten, dass die ohnehin belagerte Kirchen-Festung jemandem, der einen Generalangriff auf das Christentum reitet, bereitwillig die Tore öffnet. Die erste Stimme, die sich aus der Festung vernehmen ließ, kam von einem Jesuitenpater und aus einem Benediktinerkloster. In den "Stimmen aus Maria Laach" veröffentlichte Robert von Nostitz-Rieneck S. J. 1893 einen Traktat über "Friedrich Wilhelm Nietzsche und die zünftige Wissenschaft". Das Bemerkenswerte an dieser frühen Stellungnahme ist ihre Indirektheit. Nostitz rezensiert nicht ohne Schadenfreude das Werk eines Philosophieprofessors, der sich mit den Herausforderungen des Nietzsche'schen Denkens abmüht: Da sehe man ja, wohin Denkfreiheit führe - zu Nietzsche. Der Jesuit sieht die Philosophie und mit ihr die liberale Theologie in der Rolle des Zauberlehrlings.
Der österreichische Graf Nostitz konnte "aus alpiner Höhe auf das Kaiserreich herniederblicken" und die gebührende Distanz zu den dortigen geistigen Kämpfen wahren. Etwas näher und tiefer ließ sich zehn Jahre später der Würzburger Stadtpfarrer Engelbert Lorenz Fischer auf Nietzsche ein: Aus seiner Feder stammt die erste "katholische" Nietzsche-Monographie, geschrieben als Appendix zu einem Werk mit dem charakteristischen Titel "Der Triumph der christlichen Philosophie". Auch Fischer urteilt von der Höhe des katholischen Superioritätsbewusstseins herab und verwendet als effektiven Abwehrmechanismus die "bagatellisierende Reduktion": Nietzsche wird in die geistigen Strömungen des vergangenen Jahrhunderts eingeordnet und erscheint zu Beginn des neuen als ein bereits überholtes Epochenphänomen.
Dass diese ersten Reaktionen auf Nietzsche sich auf einem eher "mittleren" Niveau der kirchlichen Hierarchie wie der intellektuellen Kompetenz bewegten, stellte, wie Köster der Gerechtigkeit halber hervorhebt, kein katholisches Spezifikum dar. Nicht nur Bischöfe und Theologieprofessoren, auch Universitätsphilosophen schwiegen zu Nietzsche. Eine Ausnahme war der Reformtheologe Herman Schell: Zur gleichen Zeit wie Georg Simmel machte er im Wintersemester 1901/1902 erstmals Nietzsche zum Gegenstand einer Vorlesung an einer deutschen Universität.
Die Zugehörigkeit von Nietzsches Werken zum glaubensschädigenden Schrifttum verstand sich von selbst: Es erübrigte sich, den "verbotenen Philosophen" auf den Index librorum prohibitorum zu setzen. Seine Verbotenheit war "gewissermaßen notorisch". Zur Konstituierung dieses vagen, aber wirksamen Nietzsche-Bildes trugen nach Köster zwei allgemeine Züge katholischen Leseverhaltens bei: die Tendenz zur Bewältigung durch eine "kanonische Interpretation", wie sie Fischer lieferte, und zur Herauspräparierung einzelner "Kernsätze". Als isolierte These Nietzsches, die sich um so leichter als Irrlehre verdammen ließ, diente zunächst die Assassinen-Parole "Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt". Graf Nostiz sah in ihr zwar zu Unrecht die Summe Nietzsche'schen Denkens, völlig zu Recht aber die unkatholischste Aussage, die man sich denken konnte.
Ach so, er war Professor
Um 1900, mit Nietzsches Tod, verlagerte sich im Zuge allgemeiner "apokalyptischer Akzentverschiebungen" die Aufmerksamkeit auf den Titel des "Antichristen". Mit dieser Selbststilisierung hatte Nietzsche ein Deutungsangebot gemacht, das christliche Theologen kaum ausschlagen konnten. Einerseits schien sie zu überzogen, um ganz ernst genommen zu werden - "Die Selbstapotheose eines deutschen Professors beschwört noch keinen Gegenmessias" -, andererseits ermöglichte sie jene "Gerichtsattitüde", die Nietzsches Zusammenbruch als Strafe Gottes wertete. Eine alternative Bewältigungsstrategie zur Abwehr ist die Okkupation. Bezeichnenderweise war es ein Protestant, der als Erster Nietzsches "Fluch auf das Christentum" als verdeckte Gottsuche deutete. Diese Nietzsche-Lesart, die hinter der Maske des Antichristen die anima naturaliter christiana vermutete, fand bald Eingang in das Repertoire katholischer Deutungsmuster. Ein derart domestizierter Nietzsche konnte dann durchaus einzelne, auch für Prälaten akzeptable Ansichten vertreten - etwa antidemokratische. Der "Antichrist" avancierte zum "Helfer wider den Sozialismus und die Humanitätsschwärmerei".
Zu den Standardvorwürfen, denen Katholiken im Kulturkampf ausgesetzt waren, gehörte neben dem der intellektuellen Inferiorität der der "Vaterlandslosigkeit". Schon Hegel hatte geahnt, dass mit Katholiken kein Staat zu machen sei. In der Tat könnte man meinen, dass eine gesellschaftliche Gruppe, die ihre wahre Heimat im Himmel und ihr geistliches Oberhaupt auf dem Vatikanhügel weiß, gegen nationalistische Vereinnahmung gewappnet und gegen ideologische Verführung gefeit sei. Im letzten Teil seiner Studie zeigt Peter Köster, dass diese Annahme falsch ist. Die katholische Jugend trug zwar, wie Köster in Abwandlung eines überstrapazierten Topos schreibt, eher Gebetbuch und Rosenkranz als eine Ausgabe des "Zarathustra" im Tornister, aber sie zog darum nicht weniger begeistert in den Ersten Weltkrieg. 1914 hatte die "patriotische Fraglosigkeit" auch die Ultramontanen ergriffen. Dies belegt ein publizistischer Schlagabtausch zwischen französischen und deutschen Katholiken im zweiten Kriegsjahr. Köster bezeichnet ihn als "einigermaßen peinlichen Vorfall". Das ist angesichts der grotesken geistigen Verrenkungen, in denen sich beide Seiten übten, noch eine zurückhaltende Formulierung.
Hart auf hart, das ist fromm
Der Verdacht, den die französischen Theologen in ihrem Sammelband "La Guerre Allemande et le Catholicisme" gegenüber ihren deutschen Glaubensbrüdern äußerten, lautete auf Modernismus und Protestantismus. Der Name Nietzsche fiel in diesem Zusammenhang nur einmal. Die deutschen Katholiken aber machten in ihrer Replik eine "polemische Ersatzfront" auf: Sie distanzierten sich von Nietzsche, um sich nicht von der Traditionslinie Luther, Kant, Bismarck, in die die Franzosen sie gestellt hatten, lossagen zu müssen. Die "Kriegssolidarität" erforderte die Identifikation mit dem zuvor heftig bekämpften preußisch-protestantischen Reich. Köster benennt klar die "eigentliche Katastrophe" dieser innerkatholischen Kontroverse: dass "eine christliche Position au-dessus de la melée nicht einmal im Ansatz zu erkennen" ist. Das "Licht des Glaubens", welches ein gegenüber jeder Ideologie kritisches Licht sein sollte, dient der Sakralisierung eines nationalen Interesses. Die Rede von der ecclesia militans verführt dazu, am Militärischen nichts Unchristliches mehr zu finden, und die kulturkämpferische Rhetorik fand ihre Fortsetzung in einem Krieg, dessen reale wie argumentative Fronten plötzlich völlig anders verliefen.
Das schuldhafte Versagen des deutschen Katholizismus lag dabei letztlich in der Verweigerung der Zeitgenossenschaft. Eine kritische Distanz zu Staat und Gesellschaft, philosophischen wie wissenschaftlichen Neuerungen ist jederzeit wünschenswert, wird aber fatal, wenn sie sich in starrer Frontstellung erschöpft. Die Moderne insgesamt als eine Epoche des Abfalls vom Glauben zu begreifen heißt, sich um die Möglichkeit fundierter Zeitkritik zu betrügen. Der Umgang mit dem "Modephilosophen" Nietzsche ist dafür nur ein, aber ein besonders markantes Beispiel. Freilich: Wer seine Kirche von "Gottes Meisterhand" höchstpersönlich "aus ewgem Stein erbauet" glaubt, wird zeitbedingte Materialschäden unterschätzen.
Gerade die schroffe Abgrenzung gegen den "Zeitgeist" führt dazu zu unterschätzen, wie Köster pointiert, dass die eigene Position um so mehr in "epochalen Denk- und Verhaltensschemata" befangen bleibt und für "aktuelle Suggestionen" und "problematische Koalitionen" anfällig wird.
Mit Kritik spart Köster nicht, aber diese gilt den Papsttreuen ebenso wie den vermeintlich Gebildeten unter ihren Verächtern; sie trifft den "Katholizismus in der ganzen Ambivalenz seiner präsumtiven Unerschütterlichkeit" ebenso wie "geläufige katholizismuskritische Präokkupationen". Ihm gelingt es, gelegentlich durchbrechende Spottlust mit der angestrebten "Sachlichkeit der Analyse" zu vereinbaren. Es ist nicht zuletzt diese Kombination von Scharfblick und Ausgewogenheit, die Kösters Buch zu einer bis in die Anmerkungen hinein vergnüglichen Lektüre macht, obwohl es von einem alles andere als gloriosen Kapitel der katholischen Geistesgeschichte handelt.
"Wertende Polemik aus heutiger Sicht" ist Kösters Sache nicht, ebenso wenig der platte Hinweis auf aktuelle Parallelen. Die Situation des deutschen Katholizismus habe sich "tiefgreifend verändert", betont er. Sein scharf gezeichnetes Bild einer Glaubensgemeinschaft im Konflikt zwischen Anpassung und Opposition, Kollaboration und Widerstand trägt dennoch vertraute Züge.
"Ein Haus voll Glorie schauet . . ." singen die Katholiken heute wie damals. Die folgenden Strophen allerdings wurden nach dem Zweiten Vatikanum gleichsam entmilitarisiert. Aus der Zitadelle ist ein "Zelt" geworden, das Gottes auf Erden "wandernd' Volk" beschützt. Dessen Wege werden sich noch häufiger mit denen des Geistesnomaden Nietzsche kreuzen.
MARTINA BRETZ
Peter Köster: "Der verbotene Philosoph". Studien zu den Anfängen der katholischen Nietzsche-Rezeption in Deutschland (1890 bis 1918). Supplementa Nietzscheana, Band 5. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1998. VIII, 356 S., geb., 270,- DM.
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Peter Köster untersucht die katholische Nietzsche-Rezeption
"Ein feste Burg ist unser Gott", dichtete Luther. "Ein Haus voll Glorie schauet weit über alle Land", singen die Katholiken und meinen ihre Kirche. "Ein gute Wehr und Waffen", fuhr Luther fort, und auch die weiteren Strophen des katholischen Liedes lassen keinen Zweifel daran, dass das Bild vom Gotteshaus neben Schönheit des Gebäudes und Festigkeit der Fundamente auch Wehrhaftigkeit seiner Bewohner impliziert. Da ist von "starker Türme Wehr", von Streit und Krieg die Rede. Als es geschrieben wurde, befand sich die römische Kirche mitten im Kampf mit dem preußischen Staat.
Einer Zeile dieses "Kulturkampf-Kirchenliedes" - "die Reih'n stehn fest geschlossen" - liest Peter Köster das prägende Strukturmerkmal des deutschen Katholizismus im Kaiserreich ab: "Geschlossenheit" im doppelten Sinne der Abgeschlossenheit nach außen und des Bemühens um Innenstabilität. Die "zitadellengleiche Geschlossenheit des Katholischen Raumes" bietet die ideale Voraussetzung für eine rezeptionsgeschichtliche Untersuchung, die keinen Beitrag zur Nietzsche-Interpretation leisten, sondern die "Konstituierung eines Gruppenurteils" erforschen will. Die für einen Katholiken natürliche Haltung gegenüber Nietzsche ist ablehnend. Es ist kaum zu erwarten, dass die ohnehin belagerte Kirchen-Festung jemandem, der einen Generalangriff auf das Christentum reitet, bereitwillig die Tore öffnet. Die erste Stimme, die sich aus der Festung vernehmen ließ, kam von einem Jesuitenpater und aus einem Benediktinerkloster. In den "Stimmen aus Maria Laach" veröffentlichte Robert von Nostitz-Rieneck S. J. 1893 einen Traktat über "Friedrich Wilhelm Nietzsche und die zünftige Wissenschaft". Das Bemerkenswerte an dieser frühen Stellungnahme ist ihre Indirektheit. Nostitz rezensiert nicht ohne Schadenfreude das Werk eines Philosophieprofessors, der sich mit den Herausforderungen des Nietzsche'schen Denkens abmüht: Da sehe man ja, wohin Denkfreiheit führe - zu Nietzsche. Der Jesuit sieht die Philosophie und mit ihr die liberale Theologie in der Rolle des Zauberlehrlings.
Der österreichische Graf Nostitz konnte "aus alpiner Höhe auf das Kaiserreich herniederblicken" und die gebührende Distanz zu den dortigen geistigen Kämpfen wahren. Etwas näher und tiefer ließ sich zehn Jahre später der Würzburger Stadtpfarrer Engelbert Lorenz Fischer auf Nietzsche ein: Aus seiner Feder stammt die erste "katholische" Nietzsche-Monographie, geschrieben als Appendix zu einem Werk mit dem charakteristischen Titel "Der Triumph der christlichen Philosophie". Auch Fischer urteilt von der Höhe des katholischen Superioritätsbewusstseins herab und verwendet als effektiven Abwehrmechanismus die "bagatellisierende Reduktion": Nietzsche wird in die geistigen Strömungen des vergangenen Jahrhunderts eingeordnet und erscheint zu Beginn des neuen als ein bereits überholtes Epochenphänomen.
Dass diese ersten Reaktionen auf Nietzsche sich auf einem eher "mittleren" Niveau der kirchlichen Hierarchie wie der intellektuellen Kompetenz bewegten, stellte, wie Köster der Gerechtigkeit halber hervorhebt, kein katholisches Spezifikum dar. Nicht nur Bischöfe und Theologieprofessoren, auch Universitätsphilosophen schwiegen zu Nietzsche. Eine Ausnahme war der Reformtheologe Herman Schell: Zur gleichen Zeit wie Georg Simmel machte er im Wintersemester 1901/1902 erstmals Nietzsche zum Gegenstand einer Vorlesung an einer deutschen Universität.
Die Zugehörigkeit von Nietzsches Werken zum glaubensschädigenden Schrifttum verstand sich von selbst: Es erübrigte sich, den "verbotenen Philosophen" auf den Index librorum prohibitorum zu setzen. Seine Verbotenheit war "gewissermaßen notorisch". Zur Konstituierung dieses vagen, aber wirksamen Nietzsche-Bildes trugen nach Köster zwei allgemeine Züge katholischen Leseverhaltens bei: die Tendenz zur Bewältigung durch eine "kanonische Interpretation", wie sie Fischer lieferte, und zur Herauspräparierung einzelner "Kernsätze". Als isolierte These Nietzsches, die sich um so leichter als Irrlehre verdammen ließ, diente zunächst die Assassinen-Parole "Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt". Graf Nostiz sah in ihr zwar zu Unrecht die Summe Nietzsche'schen Denkens, völlig zu Recht aber die unkatholischste Aussage, die man sich denken konnte.
Ach so, er war Professor
Um 1900, mit Nietzsches Tod, verlagerte sich im Zuge allgemeiner "apokalyptischer Akzentverschiebungen" die Aufmerksamkeit auf den Titel des "Antichristen". Mit dieser Selbststilisierung hatte Nietzsche ein Deutungsangebot gemacht, das christliche Theologen kaum ausschlagen konnten. Einerseits schien sie zu überzogen, um ganz ernst genommen zu werden - "Die Selbstapotheose eines deutschen Professors beschwört noch keinen Gegenmessias" -, andererseits ermöglichte sie jene "Gerichtsattitüde", die Nietzsches Zusammenbruch als Strafe Gottes wertete. Eine alternative Bewältigungsstrategie zur Abwehr ist die Okkupation. Bezeichnenderweise war es ein Protestant, der als Erster Nietzsches "Fluch auf das Christentum" als verdeckte Gottsuche deutete. Diese Nietzsche-Lesart, die hinter der Maske des Antichristen die anima naturaliter christiana vermutete, fand bald Eingang in das Repertoire katholischer Deutungsmuster. Ein derart domestizierter Nietzsche konnte dann durchaus einzelne, auch für Prälaten akzeptable Ansichten vertreten - etwa antidemokratische. Der "Antichrist" avancierte zum "Helfer wider den Sozialismus und die Humanitätsschwärmerei".
Zu den Standardvorwürfen, denen Katholiken im Kulturkampf ausgesetzt waren, gehörte neben dem der intellektuellen Inferiorität der der "Vaterlandslosigkeit". Schon Hegel hatte geahnt, dass mit Katholiken kein Staat zu machen sei. In der Tat könnte man meinen, dass eine gesellschaftliche Gruppe, die ihre wahre Heimat im Himmel und ihr geistliches Oberhaupt auf dem Vatikanhügel weiß, gegen nationalistische Vereinnahmung gewappnet und gegen ideologische Verführung gefeit sei. Im letzten Teil seiner Studie zeigt Peter Köster, dass diese Annahme falsch ist. Die katholische Jugend trug zwar, wie Köster in Abwandlung eines überstrapazierten Topos schreibt, eher Gebetbuch und Rosenkranz als eine Ausgabe des "Zarathustra" im Tornister, aber sie zog darum nicht weniger begeistert in den Ersten Weltkrieg. 1914 hatte die "patriotische Fraglosigkeit" auch die Ultramontanen ergriffen. Dies belegt ein publizistischer Schlagabtausch zwischen französischen und deutschen Katholiken im zweiten Kriegsjahr. Köster bezeichnet ihn als "einigermaßen peinlichen Vorfall". Das ist angesichts der grotesken geistigen Verrenkungen, in denen sich beide Seiten übten, noch eine zurückhaltende Formulierung.
Hart auf hart, das ist fromm
Der Verdacht, den die französischen Theologen in ihrem Sammelband "La Guerre Allemande et le Catholicisme" gegenüber ihren deutschen Glaubensbrüdern äußerten, lautete auf Modernismus und Protestantismus. Der Name Nietzsche fiel in diesem Zusammenhang nur einmal. Die deutschen Katholiken aber machten in ihrer Replik eine "polemische Ersatzfront" auf: Sie distanzierten sich von Nietzsche, um sich nicht von der Traditionslinie Luther, Kant, Bismarck, in die die Franzosen sie gestellt hatten, lossagen zu müssen. Die "Kriegssolidarität" erforderte die Identifikation mit dem zuvor heftig bekämpften preußisch-protestantischen Reich. Köster benennt klar die "eigentliche Katastrophe" dieser innerkatholischen Kontroverse: dass "eine christliche Position au-dessus de la melée nicht einmal im Ansatz zu erkennen" ist. Das "Licht des Glaubens", welches ein gegenüber jeder Ideologie kritisches Licht sein sollte, dient der Sakralisierung eines nationalen Interesses. Die Rede von der ecclesia militans verführt dazu, am Militärischen nichts Unchristliches mehr zu finden, und die kulturkämpferische Rhetorik fand ihre Fortsetzung in einem Krieg, dessen reale wie argumentative Fronten plötzlich völlig anders verliefen.
Das schuldhafte Versagen des deutschen Katholizismus lag dabei letztlich in der Verweigerung der Zeitgenossenschaft. Eine kritische Distanz zu Staat und Gesellschaft, philosophischen wie wissenschaftlichen Neuerungen ist jederzeit wünschenswert, wird aber fatal, wenn sie sich in starrer Frontstellung erschöpft. Die Moderne insgesamt als eine Epoche des Abfalls vom Glauben zu begreifen heißt, sich um die Möglichkeit fundierter Zeitkritik zu betrügen. Der Umgang mit dem "Modephilosophen" Nietzsche ist dafür nur ein, aber ein besonders markantes Beispiel. Freilich: Wer seine Kirche von "Gottes Meisterhand" höchstpersönlich "aus ewgem Stein erbauet" glaubt, wird zeitbedingte Materialschäden unterschätzen.
Gerade die schroffe Abgrenzung gegen den "Zeitgeist" führt dazu zu unterschätzen, wie Köster pointiert, dass die eigene Position um so mehr in "epochalen Denk- und Verhaltensschemata" befangen bleibt und für "aktuelle Suggestionen" und "problematische Koalitionen" anfällig wird.
Mit Kritik spart Köster nicht, aber diese gilt den Papsttreuen ebenso wie den vermeintlich Gebildeten unter ihren Verächtern; sie trifft den "Katholizismus in der ganzen Ambivalenz seiner präsumtiven Unerschütterlichkeit" ebenso wie "geläufige katholizismuskritische Präokkupationen". Ihm gelingt es, gelegentlich durchbrechende Spottlust mit der angestrebten "Sachlichkeit der Analyse" zu vereinbaren. Es ist nicht zuletzt diese Kombination von Scharfblick und Ausgewogenheit, die Kösters Buch zu einer bis in die Anmerkungen hinein vergnüglichen Lektüre macht, obwohl es von einem alles andere als gloriosen Kapitel der katholischen Geistesgeschichte handelt.
"Wertende Polemik aus heutiger Sicht" ist Kösters Sache nicht, ebenso wenig der platte Hinweis auf aktuelle Parallelen. Die Situation des deutschen Katholizismus habe sich "tiefgreifend verändert", betont er. Sein scharf gezeichnetes Bild einer Glaubensgemeinschaft im Konflikt zwischen Anpassung und Opposition, Kollaboration und Widerstand trägt dennoch vertraute Züge.
"Ein Haus voll Glorie schauet . . ." singen die Katholiken heute wie damals. Die folgenden Strophen allerdings wurden nach dem Zweiten Vatikanum gleichsam entmilitarisiert. Aus der Zitadelle ist ein "Zelt" geworden, das Gottes auf Erden "wandernd' Volk" beschützt. Dessen Wege werden sich noch häufiger mit denen des Geistesnomaden Nietzsche kreuzen.
MARTINA BRETZ
Peter Köster: "Der verbotene Philosoph". Studien zu den Anfängen der katholischen Nietzsche-Rezeption in Deutschland (1890 bis 1918). Supplementa Nietzscheana, Band 5. Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1998. VIII, 356 S., geb., 270,- DM.
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