Im März 1972 kommt der Verleger Giangiacomo Feltrinelli bei einem Bombenanschlag auf einen Strommasten ums Leben. Sein Tod markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte der italienischen Nachkriegslinken. Der Anschlag bildet einen Scheitelpunkt, an dem sich die Wege trennten. Balestrini fängt in seinem Roman die Atmosphäre in dem kurzem Zeitraum zwischen dem Auffinden der Leiche und der Beerdigung Feltrinellis ein. Mosaikartig setzt sich so ein Bild zusammen, in dem die Schlüsselbedeutung des Ereignisses Konturen gewinnt.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Maike Albath findet Nanni Balestrinis neu aufgelegten Kriminalroman vor allem hinsichtlich historischer und politischer Hintergründe interessant. Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen von den Ermittlungen im Todesfall des Verlegers Giangiacomo Feltrinelli 1972 in Mailand, der sich bei einem Anschlagsversuch selbst in die Luft sprengte, und von einem entsprechenden Filmprojekt 17 Jahre später. Dabei bilde Balestrinis "atemloser" Stil und seine minuziöse Schilderung der Obduktion die komplizierte Phase nach dem rechtsextremen Attentat 1969 ab, meint Albath und bestaunt, wie Feltrinellis toter Körper zum "Emblem" werde und außerdem Verknüpfungen mit Aldo Moros Tod zulasse. So spüre Balestrini in seinem Roman den bis heute nachklingenden "Verwerfungen" Italiens nach, schließt die beeindruckte Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2021Sämtliche
Versehrungen
Eine Neuausgabe von
Nanni Balestrinis „Der Verleger“
Ein verstümmelter Körper liegt auf dem Seziertisch der Mailänder Gerichtsmedizin. Es ist der frühe Nachmittag des 15. März 1972; der Leichnam war am Morgen von einem kleinen Hund an einem Strommast weit außerhalb der Stadt aufgespürt worden, der Rumpf zerfetzt, ein Fuß abgetrennt, nur das Gesicht unversehrt. Der Mann hatte am Vorabend eine Dynamitladung an einem Hochspannungsmast angebracht und sich mit der Zeitschaltuhr offenkundig selbst in die Luft gejagt.
Die Pathologen machen sich um 14.30 Uhr an die Arbeit und setzen das Skalpell an: Auf der Suche nach Indizien für die Todesursache und den Verlauf des missglückten Anschlags entnehmen sie Gewebeproben, schneiden den Brustkorb auf, legen die Organe frei, protokollieren sämtliche Versehrungen und Anomalien.
Dass Nanni Balestrini ausgerechnet die präzise geschilderte Obduktion als Einstieg für seinen 1989 erschienenen Roman „Der Verleger“ wählt, markiert nicht nur seine Art der Annäherung an das Sujet, sondern auch den Zustand Italiens zu Beginn der 1970er-Jahre. Es handelt sich um eine der kompliziertesten Phasen der Nachkriegszeit, und allein das macht die Lektüre des schmalen Bandes, ausgestattet mit einem informativen Vorwort von Theo Bruns und jetzt in einer Neuausgabe erschienen, so lohnend.
Seit dem blutigen Attentat an der Mailänder Piazza Fontana im Dezember 1969, das von Rechtsextremen verübt worden war, aber der Linken angelastet wurde, driftete eine ganze Generation in den bewaffneten Kampf ab. Balestrini, Jahrgang 1935, einer der Akteure des neoavantgardistischen „gruppo 63“, hatte die Arbeiterbewegung von Anfang an leidenschaftlich begleitet und dokumentiert. Radikal in seinen ästhetischen Entscheidungen, war er vom ethischen Auftrag der Literatur überzeugt. 1979 entkam er knapp der Verhaftung.
Hinter seiner Hauptfigur, deren Name nie genannt wird, verbirgt sich der schillernde Verlagsgründer und Millionenerbe Giangiacomo Feltrinelli. Mit „Doktor Schiwago“ und „Der Leopard“ hatte Feltrinelli Weltbestseller gelandet, eine linke Buchhandlungskette eingerichtet, sich im Otterfellmantel für die Vogue fotografieren lassen, Fidel Castro unterstützt, aus Sardinien ein zweites Kuba machen wollen und war schließlich in den Untergrund gegangen.
Balestrini verzichtet auf Satzzeichen und arbeitet mit kurzen Kapiteln, was den Eindruck der Atemlosigkeit verstärkt. Zwei Handlungsstränge und Zeitebenen sind miteinander verzahnt. Auf der ersten werden die Ereignisse von 1972 aneinandergereiht: die Autopsie und deren Ergebnisse, die polizeilichen Ermittlungen, die Reaktionen der Freunde und der Politik und schließlich die Beerdigung unter großem Polizeiaufgebot. Der zweite Strang setzt 17 Jahre später ein, als sich einige der früheren Weggefährten wiedertreffen und einen Film über Feltrinellis Tod planen.
In den Kapiteln mit den ungeraden Ziffern lesen wir also eine Art Drehbuch, während in den Kapiteln mit den geraden Ziffern das Ganze auf einer Metaebene diskutiert wird. Wie Mosaiksteine blitzen außerdem Auszüge aus Malcom Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“ auf, der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg spielt, was den Eindruck einer Zeitenwende verstärken soll.
Das Filmprojekt scheitert, weil jede Deutung falsch zu sein scheint. Was heißt es, wenn Ideen radikal gelebt werden? Der tote Körper des Verlegers wird zu einem Emblem. Balestrini, und das ist einer der interessantesten Aspekte, stellt einen Zusammenhang zu einem anderen toten Körper der italienischen Zeitgeschichte her: dem Aldo Moros. Der christdemokratische Politiker, ehemaliger Ministerpräsident und Urheber des compromesso storico, der auf eine Verständigung zwischen der Kommunistischen Partei und den konservativen Kräften abzielte, war 1978 von den Roten Brigaden entführt und ermordet worden. In „Der Verleger“ spürt Balestrini, der 2019 starb, den Verwerfungen nach, die Italien bis heute prägen.
MAIKE ALBATH
Nanni Balestrini: Der Verleger. Roman. Aus dem Italienischen von Christel Fröhlich und Andreas Löhrer. Assoziation A, Berlin 2020. 151 Seiten, 18 Euro.
Zwei Handlungsstränge
und Zeitebenen
sind miteinander verzahnt
Ein Verleger, der Verleger: Giangiacomo Feltrinelli bei Demonstrationen in Mailand 1968. Foto: imago/Independent Photo Agency
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Versehrungen
Eine Neuausgabe von
Nanni Balestrinis „Der Verleger“
Ein verstümmelter Körper liegt auf dem Seziertisch der Mailänder Gerichtsmedizin. Es ist der frühe Nachmittag des 15. März 1972; der Leichnam war am Morgen von einem kleinen Hund an einem Strommast weit außerhalb der Stadt aufgespürt worden, der Rumpf zerfetzt, ein Fuß abgetrennt, nur das Gesicht unversehrt. Der Mann hatte am Vorabend eine Dynamitladung an einem Hochspannungsmast angebracht und sich mit der Zeitschaltuhr offenkundig selbst in die Luft gejagt.
Die Pathologen machen sich um 14.30 Uhr an die Arbeit und setzen das Skalpell an: Auf der Suche nach Indizien für die Todesursache und den Verlauf des missglückten Anschlags entnehmen sie Gewebeproben, schneiden den Brustkorb auf, legen die Organe frei, protokollieren sämtliche Versehrungen und Anomalien.
Dass Nanni Balestrini ausgerechnet die präzise geschilderte Obduktion als Einstieg für seinen 1989 erschienenen Roman „Der Verleger“ wählt, markiert nicht nur seine Art der Annäherung an das Sujet, sondern auch den Zustand Italiens zu Beginn der 1970er-Jahre. Es handelt sich um eine der kompliziertesten Phasen der Nachkriegszeit, und allein das macht die Lektüre des schmalen Bandes, ausgestattet mit einem informativen Vorwort von Theo Bruns und jetzt in einer Neuausgabe erschienen, so lohnend.
Seit dem blutigen Attentat an der Mailänder Piazza Fontana im Dezember 1969, das von Rechtsextremen verübt worden war, aber der Linken angelastet wurde, driftete eine ganze Generation in den bewaffneten Kampf ab. Balestrini, Jahrgang 1935, einer der Akteure des neoavantgardistischen „gruppo 63“, hatte die Arbeiterbewegung von Anfang an leidenschaftlich begleitet und dokumentiert. Radikal in seinen ästhetischen Entscheidungen, war er vom ethischen Auftrag der Literatur überzeugt. 1979 entkam er knapp der Verhaftung.
Hinter seiner Hauptfigur, deren Name nie genannt wird, verbirgt sich der schillernde Verlagsgründer und Millionenerbe Giangiacomo Feltrinelli. Mit „Doktor Schiwago“ und „Der Leopard“ hatte Feltrinelli Weltbestseller gelandet, eine linke Buchhandlungskette eingerichtet, sich im Otterfellmantel für die Vogue fotografieren lassen, Fidel Castro unterstützt, aus Sardinien ein zweites Kuba machen wollen und war schließlich in den Untergrund gegangen.
Balestrini verzichtet auf Satzzeichen und arbeitet mit kurzen Kapiteln, was den Eindruck der Atemlosigkeit verstärkt. Zwei Handlungsstränge und Zeitebenen sind miteinander verzahnt. Auf der ersten werden die Ereignisse von 1972 aneinandergereiht: die Autopsie und deren Ergebnisse, die polizeilichen Ermittlungen, die Reaktionen der Freunde und der Politik und schließlich die Beerdigung unter großem Polizeiaufgebot. Der zweite Strang setzt 17 Jahre später ein, als sich einige der früheren Weggefährten wiedertreffen und einen Film über Feltrinellis Tod planen.
In den Kapiteln mit den ungeraden Ziffern lesen wir also eine Art Drehbuch, während in den Kapiteln mit den geraden Ziffern das Ganze auf einer Metaebene diskutiert wird. Wie Mosaiksteine blitzen außerdem Auszüge aus Malcom Lowrys Roman „Unter dem Vulkan“ auf, der kurz vor dem Zweiten Weltkrieg spielt, was den Eindruck einer Zeitenwende verstärken soll.
Das Filmprojekt scheitert, weil jede Deutung falsch zu sein scheint. Was heißt es, wenn Ideen radikal gelebt werden? Der tote Körper des Verlegers wird zu einem Emblem. Balestrini, und das ist einer der interessantesten Aspekte, stellt einen Zusammenhang zu einem anderen toten Körper der italienischen Zeitgeschichte her: dem Aldo Moros. Der christdemokratische Politiker, ehemaliger Ministerpräsident und Urheber des compromesso storico, der auf eine Verständigung zwischen der Kommunistischen Partei und den konservativen Kräften abzielte, war 1978 von den Roten Brigaden entführt und ermordet worden. In „Der Verleger“ spürt Balestrini, der 2019 starb, den Verwerfungen nach, die Italien bis heute prägen.
MAIKE ALBATH
Nanni Balestrini: Der Verleger. Roman. Aus dem Italienischen von Christel Fröhlich und Andreas Löhrer. Assoziation A, Berlin 2020. 151 Seiten, 18 Euro.
Zwei Handlungsstränge
und Zeitebenen
sind miteinander verzahnt
Ein Verleger, der Verleger: Giangiacomo Feltrinelli bei Demonstrationen in Mailand 1968. Foto: imago/Independent Photo Agency
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