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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Winfried Süß über die nationalsozialistische Gesundheitspolitik
Über die Medizin im Dritten Reich ist viel geforscht worden. Dennoch gibt es noch erstaunliche Forschungslücken. Dazu gehört beispielsweise die Geschichte der Institutionen, in denen nationalsozialistische Gesundheitspolitik gestaltet und umgesetzt wurde (darunter die Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministeriums oder das Hauptamt für Volksgesundheit). Noch weniger wissen wir über die Auswirkung der Gesundheitspolitik auf die Praxis, wenn man von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, an denen Ärzte damals beteiligt waren, einmal absieht. Vor allem fehlte bislang eine Darstellung, die zeigt, welche Folgen der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung hatte und wie sich der Krankenstand entwickelte. Und selbst zu einem der besterforschten Bereiche der Medizin im Nationalsozialismus, der Ermordung von weit über hunderttausend Patienten unter dem Namen der "Euthanasie", gibt es immer noch ungeklärte Fragen, insbesondere was den Krankenmord in der Spätphase des Krieges, die sogenannte "wilde Euthanasie", anbelangt.
Auf viele dieser offenen Fragen gibt nun eine Münchner geschichtswissenschaftliche Dissertation Auskunft, die einen Meilenstein in der Erforschung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik darstellt. Allein das Verzeichnis der benutzten Archive umfaßt fünf Druckseiten. Doch sind es nicht nur neue Aktenfunde, durch welche die Vorgänge, die bislang in der Forschung nicht abschließend geklärt werden konnten (beispielsweise die Hintergründe für den Wiederbeginn der Patientenmorde nach 1942), nun in einem neuen Licht erscheinen. Besonders hervorzuheben sind die Ausführungen zu den gesundheitspolitischen Problemen der Kriegsgesellschaft, mit denen der Autor Neuland betritt.
Der erste Teil dieser Studie richtet den Blick auf die drei gesundheitspolitischen Machtzentren im Dritten Reich und macht deutlich, wie trotz der auch in diesem Bereich des nationalsozialistischen Herrschaftssystems vorherrschenden polykratischen Struktur ab 1943 bei Karl Brandt als dem General- und Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen alle Fäden zusammenliefen. Er war die eigentliche Schlüsselfigur, da er unmittelbaren Zugang zu Hitler hatte. Dabei wäre der ehrgeizige Mediziner, der wegen seiner Beteiligung an den Krankenmorden und anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit 1948 im Nürnberger Ärzteprozeß zum Tode verurteilt wurde, fast ein Urwaldarzt geworden. Sein Plan, nach Abschluß der Facharztausbildung nach Lambarene zu Albert Schweitzer zu gehen, scheiterte lediglich daran, daß Brandt unter "nationalen Gesichtspunkten" nicht bereit war, die französische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Der spätere Schreibtischmörder in SS-Uniform und der Friedensnobelpreisträger von 1952 sind zwei Arztgestalten, wie man sie sich unterschiedlicher kaum vorstellen kann.
Nicht nur Brandt, auch andere Mediziner machten im Dritten Reich in der Medizinalverwaltung rasch Karriere. Wie Süß durch eine kollektivbiographische Untersuchung der gesundheitspolitischen Akteure belegen kann, war insbesondere für die Gruppe der Gauamtsleiter des Amtes für Volksgesundheit charakteristisch, daß sie älter war als andere nationalsozialistische Funktionseliten und durch Fronterlebnis, November-Revolution und kleinbürgerliche Herkunft geprägt waren. Gleichwohl war das Gesundheitswesen im Vergleich zu anderen NSDAP-Fachämtern keine Domäne "alter Kämpfer".
Zu den innovativsten Kapiteln dieses Buches zählt zweifellos jenes über den "Einsatz der Ärzteschaft an der inneren Front". Wir erfahren unter anderem, wie sich die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung im Laufe des Krieges dramatisch verschlimmert. Besonders den Krankenhaussektor traf es hart, weil immer mehr Hospitäler im Bombenkrieg zerstört wurden und gleichzeitig der Bedarf an Lazarettbetten für verwundete Soldaten stetig wuchs. Eine Folge war die "Verdrängungskette": In ehemalige Heil- und Pflegeanstalten kamen nun Sieche und alte Menschen, deren bisherige Unterbringungsplätze in Ausweichkrankenhäuser und Lazarette umfunktioniert wurden. Für diejenigen Patienten, die am Ende der Kette standen, war kein Platz mehr, sie mußten der nationalsozialistischen Vernichtungslogik entsprechend der "Euthanasie" anheimfallen. Auch das Arzt-Patient-Verhältnis war gegen Ende des Krieges empfindlich gestört, wie Süß nachweist, der mehrere Gründe dafür anführt. Gerade zu diesem Komplex wären noch weitere Untersuchungen vonnöten.
ROBERT JÜTTE
Winfried Süß: "Der ,Volkskörper' im Krieg". Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939-1945. Oldenbourg Verlag, München 2003. 513 S., geb., 69,80 [Euro].
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