Theodor Fontane ist der große Dichter des alten Preußen - und er war zugleich ein zutiefst moderner Charakter. Hans-Dieter Rutsch entdeckt diesen Fontane neu. Er erzählt sein Leben und erkundet seine Welt, seine Orte in ihrer historischen Dimension wie in ihrer Gegenwart. In Neuruppin, Fontanes Kindheitsstadt, steht noch die Apotheke, die der Vater durch Spielschulden verlor. Auch der Sohn wurde Apotheker, begann zu schreiben und wurde politisch. In der Revolution 1848 kämpfe Fontane auf den Berliner Barrikaden, und mit dreißig entschloss er sich zu einem Leben als freier Schriftsteller. Seine Wege führten ihn als Kriegsberichterstatter nach Paris, wo er als Spion verhaftet wurde, nach London, wo der die Nachtseiten der Industrialisierung sah; da ist aber auch das Sehnsuchtsland Schlesien; und immer wieder Brandenburg, wo der Romancier das Menschliche studierte. Für Fontane waren diese Reisen literarisch-journalistischer Auftrag, seine Familie ließ er oft in prekären Bedingungen zurück. Dieses Buch entdeckt einen hellsichtigen, in seiner Zeit neuartigen Dichter, der rastlos das frühmoderne Deutschland beschrieb und darin auch unsere Gegenwart, der sich schon damals nach Entschleunigung, Schlichtheit sehnte - einen doppelten Fontane, der unser Zeitgenosse ist.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.02.2019Der Mann mit
der Schwanenfeder
Revolutionär und Konservativer, Plauderer und strenger
Künstler: Neue Biografien über Theodor Fontane
VON BURKHARD MÜLLER
Theodor Fontane, das darf man wohl ohne Übertreibung sagen, ist heute der Autor des 19. Jahrhunderts schlechthin. Wo die einstigen Großschriftsteller der Epoche, Paul Heyse und Gustav Freytag, im Nirwana des Vergessens verschwunden sind (und nur zuweilen als abschreckendes Beispiel hervorgeholt werden), wo Mörike, Wilhelm Raabe, Gotthelf, C.F. Meyer nur noch als fernes Gerücht zirkulieren, Gottfried Keller eher etwas für Germanisten ist und selbst der andere Theodor, Storm nämlich, vor allem noch mit dem schmalen Paket seines „Schimmelreiters“ durch die Zeiten zu uns gelangt – da hellen sich alle Mienen auf, sobald der Name „Fontane“ fällt. Fontane hat bis heute ein breites allgemeines Lesepublikum. Seine „Effi Briest“ ist selbst durch die Zwangsverabreichung in Form der Schullektüre nicht umzubringen, seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ dienen jedem westdeutschen Touristen als unentbehrliche Handreichung, wenn er den Osten bereist. Überhaupt dürfte kein anderer Autor so sehr von der deutschen Vereinigung profitiert haben wie Fontane; er gilt geradezu als Inbegriff eines älteren, ganzen und doch gelassenen Deutschlands, Beweis dafür, dass einer Preuße sein kann und dabei ein Mensch, ein Konservativer und doch kein Reaktionär. Fontane vermag, was seinen Kollegen und Zeitgenossen zunehmend verwehrt bleibt: Er wirkt.
Theodor Fontane begeht in diesem Jahr (obwohl erst am 30. Dezember) seinen zweihundertsten Geburtstag; dass aus diesem Anlass mehrere Biografien erscheinen, erstaunt nicht. Doch wer über Fontane schreibt, hat mit zwei Dingen zu rechnen, die es ihm leicht zu machen scheinen und doch in Wahrheit Schwierigkeiten sind. Sie hängen eng miteinander zusammen. Zum einen stammt der überwiegende Teil der Quellen von Fontane selbst, der ein unermüdlicher Briefschreiber war und über die sonst schwer zugängliche Zeit seiner Kindheit und Jugend zwei autobiografische Schriften verfasst hat; es gibt also relativ wenige unbefangene Zeugnisse.
Zum anderen entfalten Haltung und Stil dieses Autors einen nahezu unwiderstehlichen Sog. Wer sich über ihn äußert, tut dies fast unvermeidlich auch wie er – und gerät, halb unwillkürlich, ins „Fontanisieren“ hinein, das heißt ins Saloppe und charmant Zweideutige, das klare Ansagen nach Möglichkeit meidet. Oder, wie der alte Briest zu sagen pflegt, das sei „ein zu weites Feld“. Was die Liebenswürdigkeit des Autors und Menschen ausmacht, der Plauderton, das Causeurhafte, wird zur Gefahr für seine Biografen.
Der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann nennt sein Buch im Untertitel „Der Romancier Preußens“, steckt Fontane also vorab ins enge Korsett seiner Zeit und Gesellschaft. Auch das gewählte Titelbild, das ihn im Alter mit bismarckhafter Erscheinung an seinem Schreibtisch zeigt (mit Schwanenfeder!), hat etwas entschieden Staatstragendes. Die einzelnen Abschnitte heißen „Lehrjahre“, „Wanderjahre“ und „Meisterjahre“. Hier soll das konventionell Gelungene dieses Lebens schon in der Gliederung verbürgt werden – ein Konzept, das angesichts von Fontanes sehr unstetem Leben doch arg behäbig erscheint. Wenn Zimmermann etwas Zusammenfassendes zu Fontanes Gunsten sagen will, klingt es so: „Adligen gegenüber mag er nachsichtig sein, kleine Leute haben meistens seine Sympathie, aber der Bourgeois ist ihm zuwider.“
Kleine Leute! So etwas sagt bei Fontane höchstens Frau Jenny Treibel; derart patriarchalisch ist der Alte längst nicht mehr gesinnt, der weiß, dass die Stunde der sozialen Frage geschlagen hat. Zur Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ bemerkt Zimmermann: „Die anrührende Güte des alten Herrn, die mit seinem Tode endet, ist doch vorbildlich.“ Ist sie das wirklich? Sie läuft pro Kind und Jahr auf ein Stück Kernobst hinaus: ein klarer Fall von Sozialkitsch. (Wie Fontanes Balladen generell der schwächste Teil seines Werkes sind.)
Am meisten Interesse in Fontanes Biografie verdient gewiss sein widersprüchliches Verhalten während der Revolutionszeit 1848/49. Fontane schreibt damals für den Soldatenfreund – Zeitschrift für fassliche Belehrung und Unterhaltung des preußischen Soldaten. (So was gab es!) Aber als es so weit ist, schließt er sich den Aufrührern an. Er will Sturm läuten – doch die Kirche ist natürlich, wie immer bei den Protestanten, zu. Daraufhin erobert er ein unverteidigtes Theater und erbeutet einen Haufen Bühnenwaffen aus dem Fundus; da die Munition fehlt, versucht er (erfolglos) mit Murmeln und Kleingeld zu schießen.
Was für ein Stoff! Ein besserer Biograf hätte daraus eine komische, ein noch besserer eine tragische Story gemacht. Zimmermann lässt es bei der Feststellung bewenden: „Politische Ereignisse gehen oft über die Köpfe der Bevölkerung hinweg wie ungute Wetter.“ Und zur Frage der Revolution überhaupt: „Sicherlich liegt die Wahrheit in der Mitte.“ Da dachte und agierte Fontane selbst deutlich dialektischer. Zimmermann steckt tief im 19. Jahrhundert; tiefer als Fontane selbst, möchte man sagen. Der Leser muss wissen, was eine Halbchaise, was eine Stechbahn, was eine puella publica ist (letztere eine Prostituierte) und um was es sich bei Fahrensleuten und Auskultatoren (nach der ersten akademischen Prüfung zum Bürodienst zugelassene Juristen) handelt. Die schreibt er allerdings „Auskulturatoren“; wie ihm überhaupt eine Reihe kleiner Fehler unterläuft. Das Van-Diemensland verlegt er statt nach Australien nach Afrika oder denkt sich einen deutschen Monster-Kleinstaat namens Oldenburg-Anhalt-Schwarzburg aus. Zwar thematisiert Zimmermann auch das sehr ambivalente Verhältnis Fontanes zum Judentum. Doch insgesamt empfehlen möchte man sein Buch nur denjenigen, die sich vor allem in ihrem gesetzten Fontane-Bild nicht beirrt fühlen wollen.
Regina Dieterle nennt ihr Buch einfach „Theodor Fontane“, und den Titel schmückt ein Bild des Dichters, das ihn schon älter und durchaus würdevoll, aber ohne einschüchterndes Accessoire zeigt. Auch diese Biografin neigt zum Fontanisieren, übernimmt aber eher die schmunzelnden als die schulterzuckenden Aspekte. Wenn sie davon spricht, Fontane habe sich ausrechnen können, „dass es in der ,Centralstelle‘ bald rumpeln würde“, nimmt der Leser dies belustigt hin; fragt sich aber, ob eine Wendung wie „Eifersucht? ,Is’ nicht‘, sagt der Berliner“ vielleicht um ein wenig zu kess geraten ist. Doch im Großen und Ganzen liest sich der stilistische Drahtseilakt, der herauskommt, recht unterhaltsam. Auch Dieterle steht dem 19. Jahrhundert haltungsmäßig nah, auch sie setzt zwanglos voraus, dass der Leser schon weiß, was Kalfatern bedeutet oder was eine Putzmacherin ist. Besonders gilt dies von der unbefangenen Art, wie sie das auktoriale „wir“ verwendet. Davon macht sie speziell in der Kindheits- und Jugendgeschichte Fontanes regen Gebrauch, wo manches im Dunkeln liegt: „so vermuten wir“, „so können wir uns denken“, „wir folgern also...“ und, mit ironischem Unterton: „das glauben wir ihm aufs Wort.“ So gleitet sie vom historiografischen ins belletristische Fach hinüber, macht dies aber jeweils kenntlich, weshalb der Leser ihr nicht ernstlich böse sein kann.
Ihren Fontane siedelt sie ein Stück weiter links an, als Zimmermann das tut. Sie betont, dass er den Berliner Militäreinsatz im März 1848 „aufs schärfste“ verurteilt habe, ohne in Rechnung zu stellen, dass Fontane nie irgendwas „aufs schärfste“ tut. Ein Bedürfnis nach Harmonisierung um jeden Preis herrscht nicht in ihrem Buch; sie hebt die Bitterkeit hervor, die Fontane gegen seine Mutter gehegt hat, wohl wissend, dass kein Leben, das im Hader mit der Mutter seinen Ursprung hat, jemals ein ganz und gar heiles werden kann.
Die Schwächen ihres Protagonisten sieht sie genau: dass er, sobald es um Fragen des Lebensunterhalts geht, opportunistisch operiert und sich mit der verhassten Reaktion einlässt; dass er seine störrische, aber loyale Emilie nicht immer gentlemanlike behandelt; dass er nicht frei von gehässigen Zügen ist, am meisten in seinen Briefen, woran auch der freizügig nachgeschenkte Wein oder Portwein seinen Anteil hat. Aber sie verurteilt ihn nicht, und sie hat großes Verständnis dafür, wie er das vorgeblich bessere alte Preußen mit seinen Reitergeneralen gegen das ihm zuweilen missliebige neuere ausspielt.
Mit 700 Netto-Seiten, das heißt abzüglich des umfangreichen Anhangs, ist Dieterles Buch um rund die Hälfte länger als Zimmermanns und hat damit Gelegenheit, die Dinge ausführlicher zu erzählen.
Aber der Zuwachs verdankt sich auch der eigenständigen Recherche. Etliches, dass sie herausfindet, ist wohl wirklich neu: In London, während seiner Zeit als preußischer Korrespondent, war ein Spion auf Fontane angesetzt, den er für seinen Freund hielt und der ihm mehr durch seine Dummheit als seine Bosheit geschadet hat. Als Fontane sich 1862 zum „Wahlmann“ aufstellen ließ, brachte der Kladderadatsch eine Karikatur von ihm; Dieterle hat das Bild aufgespürt, auf dem ein sehr spilleriger Fontane mit den Beinen in der Luft strampelt. Kurzum, wer sich umfassend und auf der Höhe des gegenwärtigen Erkenntnisstands über Fontane informieren und dabei auf eine vergnügliche Lektüre nicht verzichten will, dem sei Dieterles Buch ans Herz gelegt.
Eine Sonderstellung fällt dem Buch von Hans-Dieter Rutsch bei Rowohlt Berlin zu. Es heißt „Der Wanderer“ und trägt „Das Leben des Theodor Fontane“ nur im Untertitel. „Der Wanderer“, das geht über die geruhsamen Erkundungen der Mark Brandenburg hinaus und bezeichnet einen Menschen, der seinen Ort in der Welt spät oder nie findet. Rutsch verschmäht das chronologische Prinzip der beiden anderen Biografien und setzt voraus, dass der Leser über Fontanes Lebenslauf bereits einigermaßen orientiert ist.
Seine Grundthese lautet: Der Schlüssel zu Fontanes Leben und Werken ist im Unglück seiner Kindheit zu suchen. Nun existiert zu dieser Kindheit wie gesagt eigentlich nur eine einzige zusammenhängende Quelle, nämlich Fontanes eigener Text. Den hat er geschrieben, indem er genauso viel an Elend zugab, wie nötig war, um einerseits glaubwürdig zu wirken, andererseits sein aufs Harmonische erpichtes Publikum nicht zu verprellen.
Es gilt, hinter das „Pläsierliche“ zu kommen (wie Gottfried Benn das benannte, was ihn an Fontane verdross), um die wahre Lage namentlich der Kindheit zu decodieren. „Was wissen wir, seine Leser, von dieser verwirrenden Biografie? Von seinen Verzweiflungen, von seiner Sehnsucht, von seiner Schreibsucht, von seiner immer wieder enttäuschten Hoffnung, als Dichter der Deutschen gesehen zu werden?“ Ehrlicherweise wird die Antwort lauten: Nicht annähernd so viel, wie die Fülle der Quellen es nahelegt; denn wir können nicht mit letzter Sicherheit sagen, was sie zu bedeuten haben.
Das Verfahren muss als ein gelockert freudianisches bezeichnet werden. Beispielsweise ist bekannt (auch die beiden anderen Biografien sprechen davon), dass Fontane in einem bestimmten Domizil der häufig umziehenden Familie, welches sich über einer Metzgerei befand, das Blut der geschlachteten Tiere im Rinnstein sah, und dass es ihm dabei den Magen umdrehte. Nun ist man wieder mal umgezogen, und Theodor beklagt sich über den billigen Kachelofen, der auf grauem Grund ein rotes Tropfenmuster aufweist. Im Kontext ist dies bloß eine Beschwerde über die Schäbigkeit der Unterkunft. Rutsch schiebt den roten Tropfen hingegen ein verschobenes Schlachthaus-Entsetzen unter. So etwas ist, um das Mindeste zu sagen, hochgradig spekulativ.
Die Methode mag unhaltbar sein; aber sein Gefühl trügt den Biografen insgesamt wohl nicht. Fontane taugt, so gern er sich später in dieser Rolle sah, nicht zum gelassenen Philosophen. Er blieb, das macht Rutsch sehr klar, sein Lebtag ein Getriebener. Umso höher ist die Heiterkeit seines Alterswerks einzuschätzen.
Rutsch schreibt leider nicht sehr gut, sondern eher so, als hätte er beim Spiegel gelernt, in knappen Sätzen, auf rasche Wirkungen bedacht.
Das ist einerseits bedauerlich; andererseits widersteht er so als einziger der drei Biografen der starken Verlockung, zu schreiben wie Fontane selbst. Ein gelungenes Buch kann man das Resultat nicht nennen. Es ist kurzatmig im Ton und schreckt auch vor Plattitüden nicht zurück. Aber es schmeckt (jedenfalls dort, wo es drauf ankommt) nach Wahrheit.
Es sind drei in ihrem Temperament sehr unterschiedliche Bücher. Auch das schwächste (das von Zimmermann) hat seine Verdienste, und das beste (das von Dieterle) ist nicht so vollkommen, dass die anderen ihm nicht noch Wertvolles hinzufügten. Gerade in ihrer Verschiedenheit liefern sie die passende Hommage für den großen Autor und vieldeutigen Menschen Fontane.
Ein Stück Kernobst im Jahr -
soll das wirklich ein
Beispiel der Güte sein?
Seine störrische, aber loyale
Emilie behandelt er nicht immer
gentlemanlike
Theodor beklagt den billigen
Kachelofen: rotes Tropfenmuster
auf grauem Grund
Hans Dieter Zimmermann: Theodor Fontane. Der Romancier Preußens. Verlag C.H. Beck, München 2019. 458 Seiten, 28 Euro.
Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biografie. Hanser Verlag, München 2018, 832 Seiten. 34 Euro.
Hans-Dieter Rutsch: Der Wanderer. Das Leben des Theodor Fontane. Rowohlt Berlin 2018, 336 Seiten, 26 Euro.
Hanna Schygulla in dem Film „Fontane Effi Briest“ aus dem Jahr 1974. Rainer Werner Fassbinder wollte zeigen, wie viele, trotz einer Ahnung von ihren Bedürfnissen, das herrschende System akzeptieren und bestätigen.
Foto: imago / Prod.D B
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der Schwanenfeder
Revolutionär und Konservativer, Plauderer und strenger
Künstler: Neue Biografien über Theodor Fontane
VON BURKHARD MÜLLER
Theodor Fontane, das darf man wohl ohne Übertreibung sagen, ist heute der Autor des 19. Jahrhunderts schlechthin. Wo die einstigen Großschriftsteller der Epoche, Paul Heyse und Gustav Freytag, im Nirwana des Vergessens verschwunden sind (und nur zuweilen als abschreckendes Beispiel hervorgeholt werden), wo Mörike, Wilhelm Raabe, Gotthelf, C.F. Meyer nur noch als fernes Gerücht zirkulieren, Gottfried Keller eher etwas für Germanisten ist und selbst der andere Theodor, Storm nämlich, vor allem noch mit dem schmalen Paket seines „Schimmelreiters“ durch die Zeiten zu uns gelangt – da hellen sich alle Mienen auf, sobald der Name „Fontane“ fällt. Fontane hat bis heute ein breites allgemeines Lesepublikum. Seine „Effi Briest“ ist selbst durch die Zwangsverabreichung in Form der Schullektüre nicht umzubringen, seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ dienen jedem westdeutschen Touristen als unentbehrliche Handreichung, wenn er den Osten bereist. Überhaupt dürfte kein anderer Autor so sehr von der deutschen Vereinigung profitiert haben wie Fontane; er gilt geradezu als Inbegriff eines älteren, ganzen und doch gelassenen Deutschlands, Beweis dafür, dass einer Preuße sein kann und dabei ein Mensch, ein Konservativer und doch kein Reaktionär. Fontane vermag, was seinen Kollegen und Zeitgenossen zunehmend verwehrt bleibt: Er wirkt.
Theodor Fontane begeht in diesem Jahr (obwohl erst am 30. Dezember) seinen zweihundertsten Geburtstag; dass aus diesem Anlass mehrere Biografien erscheinen, erstaunt nicht. Doch wer über Fontane schreibt, hat mit zwei Dingen zu rechnen, die es ihm leicht zu machen scheinen und doch in Wahrheit Schwierigkeiten sind. Sie hängen eng miteinander zusammen. Zum einen stammt der überwiegende Teil der Quellen von Fontane selbst, der ein unermüdlicher Briefschreiber war und über die sonst schwer zugängliche Zeit seiner Kindheit und Jugend zwei autobiografische Schriften verfasst hat; es gibt also relativ wenige unbefangene Zeugnisse.
Zum anderen entfalten Haltung und Stil dieses Autors einen nahezu unwiderstehlichen Sog. Wer sich über ihn äußert, tut dies fast unvermeidlich auch wie er – und gerät, halb unwillkürlich, ins „Fontanisieren“ hinein, das heißt ins Saloppe und charmant Zweideutige, das klare Ansagen nach Möglichkeit meidet. Oder, wie der alte Briest zu sagen pflegt, das sei „ein zu weites Feld“. Was die Liebenswürdigkeit des Autors und Menschen ausmacht, der Plauderton, das Causeurhafte, wird zur Gefahr für seine Biografen.
Der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann nennt sein Buch im Untertitel „Der Romancier Preußens“, steckt Fontane also vorab ins enge Korsett seiner Zeit und Gesellschaft. Auch das gewählte Titelbild, das ihn im Alter mit bismarckhafter Erscheinung an seinem Schreibtisch zeigt (mit Schwanenfeder!), hat etwas entschieden Staatstragendes. Die einzelnen Abschnitte heißen „Lehrjahre“, „Wanderjahre“ und „Meisterjahre“. Hier soll das konventionell Gelungene dieses Lebens schon in der Gliederung verbürgt werden – ein Konzept, das angesichts von Fontanes sehr unstetem Leben doch arg behäbig erscheint. Wenn Zimmermann etwas Zusammenfassendes zu Fontanes Gunsten sagen will, klingt es so: „Adligen gegenüber mag er nachsichtig sein, kleine Leute haben meistens seine Sympathie, aber der Bourgeois ist ihm zuwider.“
Kleine Leute! So etwas sagt bei Fontane höchstens Frau Jenny Treibel; derart patriarchalisch ist der Alte längst nicht mehr gesinnt, der weiß, dass die Stunde der sozialen Frage geschlagen hat. Zur Ballade „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ bemerkt Zimmermann: „Die anrührende Güte des alten Herrn, die mit seinem Tode endet, ist doch vorbildlich.“ Ist sie das wirklich? Sie läuft pro Kind und Jahr auf ein Stück Kernobst hinaus: ein klarer Fall von Sozialkitsch. (Wie Fontanes Balladen generell der schwächste Teil seines Werkes sind.)
Am meisten Interesse in Fontanes Biografie verdient gewiss sein widersprüchliches Verhalten während der Revolutionszeit 1848/49. Fontane schreibt damals für den Soldatenfreund – Zeitschrift für fassliche Belehrung und Unterhaltung des preußischen Soldaten. (So was gab es!) Aber als es so weit ist, schließt er sich den Aufrührern an. Er will Sturm läuten – doch die Kirche ist natürlich, wie immer bei den Protestanten, zu. Daraufhin erobert er ein unverteidigtes Theater und erbeutet einen Haufen Bühnenwaffen aus dem Fundus; da die Munition fehlt, versucht er (erfolglos) mit Murmeln und Kleingeld zu schießen.
Was für ein Stoff! Ein besserer Biograf hätte daraus eine komische, ein noch besserer eine tragische Story gemacht. Zimmermann lässt es bei der Feststellung bewenden: „Politische Ereignisse gehen oft über die Köpfe der Bevölkerung hinweg wie ungute Wetter.“ Und zur Frage der Revolution überhaupt: „Sicherlich liegt die Wahrheit in der Mitte.“ Da dachte und agierte Fontane selbst deutlich dialektischer. Zimmermann steckt tief im 19. Jahrhundert; tiefer als Fontane selbst, möchte man sagen. Der Leser muss wissen, was eine Halbchaise, was eine Stechbahn, was eine puella publica ist (letztere eine Prostituierte) und um was es sich bei Fahrensleuten und Auskultatoren (nach der ersten akademischen Prüfung zum Bürodienst zugelassene Juristen) handelt. Die schreibt er allerdings „Auskulturatoren“; wie ihm überhaupt eine Reihe kleiner Fehler unterläuft. Das Van-Diemensland verlegt er statt nach Australien nach Afrika oder denkt sich einen deutschen Monster-Kleinstaat namens Oldenburg-Anhalt-Schwarzburg aus. Zwar thematisiert Zimmermann auch das sehr ambivalente Verhältnis Fontanes zum Judentum. Doch insgesamt empfehlen möchte man sein Buch nur denjenigen, die sich vor allem in ihrem gesetzten Fontane-Bild nicht beirrt fühlen wollen.
Regina Dieterle nennt ihr Buch einfach „Theodor Fontane“, und den Titel schmückt ein Bild des Dichters, das ihn schon älter und durchaus würdevoll, aber ohne einschüchterndes Accessoire zeigt. Auch diese Biografin neigt zum Fontanisieren, übernimmt aber eher die schmunzelnden als die schulterzuckenden Aspekte. Wenn sie davon spricht, Fontane habe sich ausrechnen können, „dass es in der ,Centralstelle‘ bald rumpeln würde“, nimmt der Leser dies belustigt hin; fragt sich aber, ob eine Wendung wie „Eifersucht? ,Is’ nicht‘, sagt der Berliner“ vielleicht um ein wenig zu kess geraten ist. Doch im Großen und Ganzen liest sich der stilistische Drahtseilakt, der herauskommt, recht unterhaltsam. Auch Dieterle steht dem 19. Jahrhundert haltungsmäßig nah, auch sie setzt zwanglos voraus, dass der Leser schon weiß, was Kalfatern bedeutet oder was eine Putzmacherin ist. Besonders gilt dies von der unbefangenen Art, wie sie das auktoriale „wir“ verwendet. Davon macht sie speziell in der Kindheits- und Jugendgeschichte Fontanes regen Gebrauch, wo manches im Dunkeln liegt: „so vermuten wir“, „so können wir uns denken“, „wir folgern also...“ und, mit ironischem Unterton: „das glauben wir ihm aufs Wort.“ So gleitet sie vom historiografischen ins belletristische Fach hinüber, macht dies aber jeweils kenntlich, weshalb der Leser ihr nicht ernstlich böse sein kann.
Ihren Fontane siedelt sie ein Stück weiter links an, als Zimmermann das tut. Sie betont, dass er den Berliner Militäreinsatz im März 1848 „aufs schärfste“ verurteilt habe, ohne in Rechnung zu stellen, dass Fontane nie irgendwas „aufs schärfste“ tut. Ein Bedürfnis nach Harmonisierung um jeden Preis herrscht nicht in ihrem Buch; sie hebt die Bitterkeit hervor, die Fontane gegen seine Mutter gehegt hat, wohl wissend, dass kein Leben, das im Hader mit der Mutter seinen Ursprung hat, jemals ein ganz und gar heiles werden kann.
Die Schwächen ihres Protagonisten sieht sie genau: dass er, sobald es um Fragen des Lebensunterhalts geht, opportunistisch operiert und sich mit der verhassten Reaktion einlässt; dass er seine störrische, aber loyale Emilie nicht immer gentlemanlike behandelt; dass er nicht frei von gehässigen Zügen ist, am meisten in seinen Briefen, woran auch der freizügig nachgeschenkte Wein oder Portwein seinen Anteil hat. Aber sie verurteilt ihn nicht, und sie hat großes Verständnis dafür, wie er das vorgeblich bessere alte Preußen mit seinen Reitergeneralen gegen das ihm zuweilen missliebige neuere ausspielt.
Mit 700 Netto-Seiten, das heißt abzüglich des umfangreichen Anhangs, ist Dieterles Buch um rund die Hälfte länger als Zimmermanns und hat damit Gelegenheit, die Dinge ausführlicher zu erzählen.
Aber der Zuwachs verdankt sich auch der eigenständigen Recherche. Etliches, dass sie herausfindet, ist wohl wirklich neu: In London, während seiner Zeit als preußischer Korrespondent, war ein Spion auf Fontane angesetzt, den er für seinen Freund hielt und der ihm mehr durch seine Dummheit als seine Bosheit geschadet hat. Als Fontane sich 1862 zum „Wahlmann“ aufstellen ließ, brachte der Kladderadatsch eine Karikatur von ihm; Dieterle hat das Bild aufgespürt, auf dem ein sehr spilleriger Fontane mit den Beinen in der Luft strampelt. Kurzum, wer sich umfassend und auf der Höhe des gegenwärtigen Erkenntnisstands über Fontane informieren und dabei auf eine vergnügliche Lektüre nicht verzichten will, dem sei Dieterles Buch ans Herz gelegt.
Eine Sonderstellung fällt dem Buch von Hans-Dieter Rutsch bei Rowohlt Berlin zu. Es heißt „Der Wanderer“ und trägt „Das Leben des Theodor Fontane“ nur im Untertitel. „Der Wanderer“, das geht über die geruhsamen Erkundungen der Mark Brandenburg hinaus und bezeichnet einen Menschen, der seinen Ort in der Welt spät oder nie findet. Rutsch verschmäht das chronologische Prinzip der beiden anderen Biografien und setzt voraus, dass der Leser über Fontanes Lebenslauf bereits einigermaßen orientiert ist.
Seine Grundthese lautet: Der Schlüssel zu Fontanes Leben und Werken ist im Unglück seiner Kindheit zu suchen. Nun existiert zu dieser Kindheit wie gesagt eigentlich nur eine einzige zusammenhängende Quelle, nämlich Fontanes eigener Text. Den hat er geschrieben, indem er genauso viel an Elend zugab, wie nötig war, um einerseits glaubwürdig zu wirken, andererseits sein aufs Harmonische erpichtes Publikum nicht zu verprellen.
Es gilt, hinter das „Pläsierliche“ zu kommen (wie Gottfried Benn das benannte, was ihn an Fontane verdross), um die wahre Lage namentlich der Kindheit zu decodieren. „Was wissen wir, seine Leser, von dieser verwirrenden Biografie? Von seinen Verzweiflungen, von seiner Sehnsucht, von seiner Schreibsucht, von seiner immer wieder enttäuschten Hoffnung, als Dichter der Deutschen gesehen zu werden?“ Ehrlicherweise wird die Antwort lauten: Nicht annähernd so viel, wie die Fülle der Quellen es nahelegt; denn wir können nicht mit letzter Sicherheit sagen, was sie zu bedeuten haben.
Das Verfahren muss als ein gelockert freudianisches bezeichnet werden. Beispielsweise ist bekannt (auch die beiden anderen Biografien sprechen davon), dass Fontane in einem bestimmten Domizil der häufig umziehenden Familie, welches sich über einer Metzgerei befand, das Blut der geschlachteten Tiere im Rinnstein sah, und dass es ihm dabei den Magen umdrehte. Nun ist man wieder mal umgezogen, und Theodor beklagt sich über den billigen Kachelofen, der auf grauem Grund ein rotes Tropfenmuster aufweist. Im Kontext ist dies bloß eine Beschwerde über die Schäbigkeit der Unterkunft. Rutsch schiebt den roten Tropfen hingegen ein verschobenes Schlachthaus-Entsetzen unter. So etwas ist, um das Mindeste zu sagen, hochgradig spekulativ.
Die Methode mag unhaltbar sein; aber sein Gefühl trügt den Biografen insgesamt wohl nicht. Fontane taugt, so gern er sich später in dieser Rolle sah, nicht zum gelassenen Philosophen. Er blieb, das macht Rutsch sehr klar, sein Lebtag ein Getriebener. Umso höher ist die Heiterkeit seines Alterswerks einzuschätzen.
Rutsch schreibt leider nicht sehr gut, sondern eher so, als hätte er beim Spiegel gelernt, in knappen Sätzen, auf rasche Wirkungen bedacht.
Das ist einerseits bedauerlich; andererseits widersteht er so als einziger der drei Biografen der starken Verlockung, zu schreiben wie Fontane selbst. Ein gelungenes Buch kann man das Resultat nicht nennen. Es ist kurzatmig im Ton und schreckt auch vor Plattitüden nicht zurück. Aber es schmeckt (jedenfalls dort, wo es drauf ankommt) nach Wahrheit.
Es sind drei in ihrem Temperament sehr unterschiedliche Bücher. Auch das schwächste (das von Zimmermann) hat seine Verdienste, und das beste (das von Dieterle) ist nicht so vollkommen, dass die anderen ihm nicht noch Wertvolles hinzufügten. Gerade in ihrer Verschiedenheit liefern sie die passende Hommage für den großen Autor und vieldeutigen Menschen Fontane.
Ein Stück Kernobst im Jahr -
soll das wirklich ein
Beispiel der Güte sein?
Seine störrische, aber loyale
Emilie behandelt er nicht immer
gentlemanlike
Theodor beklagt den billigen
Kachelofen: rotes Tropfenmuster
auf grauem Grund
Hans Dieter Zimmermann: Theodor Fontane. Der Romancier Preußens. Verlag C.H. Beck, München 2019. 458 Seiten, 28 Euro.
Regina Dieterle: Theodor Fontane. Biografie. Hanser Verlag, München 2018, 832 Seiten. 34 Euro.
Hans-Dieter Rutsch: Der Wanderer. Das Leben des Theodor Fontane. Rowohlt Berlin 2018, 336 Seiten, 26 Euro.
Hanna Schygulla in dem Film „Fontane Effi Briest“ aus dem Jahr 1974. Rainer Werner Fassbinder wollte zeigen, wie viele, trotz einer Ahnung von ihren Bedürfnissen, das herrschende System akzeptieren und bestätigen.
Foto: imago / Prod.D B
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Von unseren großen Schriftstellern ist er der unterhaltsamste und von unseren unterhaltsamsten der intelligenteste. Marcel Reich-Ranicki