Am 24. Juni 1920 trat der erste Reichstag der Weimarer Republik zusammen. Er spiegelte stets den Zustand des Staates wider: seine politische Zerrissenheit, seine Belastung durch den verlorenen Ersten Weltkrieg und nicht zuletzt die Feindseligkeit, die der Demokratie von links und rechts entgegenschlug. Welche Chancen und Risiken für den Parlamentarismus bestanden, wie er seit 1930 immer mehr an den Rand gedrängt und schließlich zur bloßen Hülle wurde, zeigt dieses Buch. Im Weimarer Reichstag spiegelten sich alle Probleme der jungen Republik wider. Er stand im Zentrum heftiger gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Das Erbe der Kaiserzeit und die Krisen der Republik forderten die Reichstagsabgeordneten und belasteten die Parlamentsarbeit schwer. Philipp Austermann erzählt die Geschichte der Weimarer Republik zum ersten Mal vor allem aus der Sicht ihres Parlaments und seiner Abgeordneten. Er beschreibt, wie häufig die demokratischen Parteien kompromissunfähig waren, wie sehr die Todfeinde der Demokratie von rechts und links den Reichstag als Agitationsbühne nutzten, um die parlamentarische Republik zu zerstören, wie gezielt Reichspräsident Hindenburg ab 1930 den Reichstag an den Rand drängte und wie der mit jeder Wahl in den 1930er Jahren steigende Stimmenanteil der Radikalen das Parlament lähmte und aushöhlte. Das Buch appelliert angesichts stärker werdender Populisten zugleich an die demokratische Wachsamkeit.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2020Das Unterste
zuoberst kehren
Wie der Weimarer Reichstag zerstört wurde
Am Nachmittag des 24. Juni 1920 eröffnete der Abgeordnete Heinrich Rieke, Jahrgang 1843, als Alterspräsident den ersten republikanischen Reichstag. Nach dem namentlichen Aufruf, 437 Parlamentsmitglieder waren anwesend, ging man wieder auseinander, am Tag darauf wurde der Sozialdemokrat Paul Löbe zum Reichstagspräsidenten gewählt. Er würde das Amt mit einer kurzen Unterbrechung 1924 bis zum für die Republik verheerenden Jahr 1932 ausüben. Löbe stand damit für eine gewisse Kontinuität, während jede Legislaturperiode des Parlaments vorzeitig beendet wurde. Zeitgenossen lobten seine „liebenswürdige, humorvolle, aber auch straffe, energische und feste Zügelführung“.
Nachdem der Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt und den Reichstag wieder einmal aufgelöst hatte, berief Löbe für den 7. Februar 1933 eine Sitzung des Überwachungsausschusses ein, dessen Vorsitzender er damals war. Der Ausschuss hatte die Aufgabe, die Rechte der Volksvertretung zu wahren. Stellvertretender Vorsitzender war der Nationalsozialist Hans Frank. Er sprang gleich nach Eröffnung der Sitzung auf, schrie Löbe an, dieser müsse verschwinden, sei untragbar, da er im Wahlkampf Adolf Hitler „einen slowakischen Hetzer“ genannt habe. Die Nazis brüllten „Lump“ und Frank kündigte an, jede weitere Ausschusssitzung „mit Gewalt verhindern“ zu wollen. Ende des Monats brannte das Reichstagsgebäude, am 23. März 1933 stimmte eine Mehrheit des neu gewählten Parlaments für das Ermächtigungsgesetz. Paul Löbe wurde verhaftet und ins KZ Dürrgoy gebracht.
Der „schleichenden Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung“ des Reichstags der Weimarer Republik hat Philipp Austermann eine Studie gewidmet, die gleichermaßen Nachschlagewerk wie „Plädoyer für einen freiheitlichen Parlamentarismus“ sein will. Austermann ist Jurist, hat in der Bundestagsverwaltung gearbeitet und lehrt Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Er erzählt die Geschichte der Weimarer Republik, insofern sie sich in der Geschichte des Parlaments spiegelt, von ihrem Ende her, beginnt also nicht mit den Möglichkeiten und Hoffnungen in den Gründungsjahren der Republik, sondern setzt gleich mit den „Belastungen der Reichstagsarbeit“ ein. Historiker weisen seit langem auf die Offenheit der Entwicklung hin, darauf, dass die Weimarer Republik nicht zwangsläufig unterging, dass ihre Geschichte nicht in einem finalistischen Kurzschluss allein vom Ende her zu verstehen ist. Austermann handelt die Gründungszeit und die parlamentarische Arbeit bis 1930 als bloße Vorgeschichte ab, um dann ausführlich die Schlussphase zu behandeln, die Präsidialkabinette unter Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher, den Sieg der Feinde der Republik.
Kaum ein anderer Zeitraum der deutschen Geschichte dürfte so gut erforscht sein wie dieser, die Fülle der Literatur galt schon vor dreißig Jahren als kaum noch zu überschauen. Wer sich dafür interessiert, kann zu Heinrich August Winklers so klug wie fesselnd erzählter „Geschichte der ersten deutschen Demokratie“ greifen oder zur klassischen Studie Karl Dietrich Brachers über „Die Auflösung der Weimarer Republik“, die ausführlich über die verbreitete Verachtung des Parteienstaats und des Parlaments informiert. Die „parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik“ hat Thomas Mergel 2002 ausführlich untersucht. Reden und Debatten kann jeder unter reichstagsprotokolle.de nachlesen.
Dass schon viel über das Ende von Weimar geschrieben wurde, spricht nicht gegen weitere Bücher zum Thema, für Historiker, Politik- und Sozialwissenschaftler bleibt diese Zeit eine besonders interessante, auch weil gegenwärtige Krisenwahrnehmungen rasch mit der Erinnerung an „Weimarer Verhältnisse“ verkoppelt werden. Auch Austermann berichtet einleitend von seinem Erschrecken über Äußerungen von AfD-Vertretern im Bundestag und fragt, ob sich da etwas wiederhole, „das man lange Zeit für endgültig überwunden hielt“. Aber er gewinnt daraus keine interessante Perspektive. Sein Buch leidet unter dem Darstellungsproblem, dass der Reichstag seit der Ernennung Brünings zum Kanzler und der Parlamentsauflösung im Juli 1930 rapide an Bedeutung verlor. Wesentliche Entscheidungen fielen andernorts, beim Reichspräsidenten, auf der Straße, in den zahlreichen Wahlkämpfen, in Landesregierungen. Gewiss ist es nicht falsch, in der Kriegsniederlage und dem Versailler Vertrag, im reinen Verhältniswahlrecht, der geringen Kompromissfähigkeit der Parteien, auch im Erbe der Kaiserzeit Vorbelastungen zu sehen. Allerdings wäre dann zu fragen, warum das riesige Preußen trotz dieser Belastungen lange und stabil als „demokratisches Bollwerk“ regiert werden konnte, das Reich jedoch nicht.
Wie üblich weist auch Austermann auf den verhängnisvollen Paragrafen 48 der Verfassung hin, der dem Präsidenten quasi-diktatorische Maßnahmen, Notverordnungen, ermöglichte. Er sei „ein Missgriff der Verfassungsschöpfer“. Die Frage, wie es dazu kam, übergeht Austermann. Der Paragraf endete mit der Einschränkung: „Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz“. Warum wurde dieses niemals verabschiedet? Warum fand Otto Landsbergs Warnung vom Juli 1930 so wenig Gehör? Der Sozialdemokrat sah klar, dass man alles machen könne, wenn die gerade erlassenen Notverordnungen gültig sein sollten, dann könne „man im Deutschen Reich das Unterste zu oberst kehren“.
Empört registriert Austermann die vielen, in der Tat skandalösen Regelverstöße der Radikalen im Parlament. Wer etwa, schreibt er, die Rede des KPD-Abgeordneten Ernst Lohagen gelesen habe, wisse „über die staatsfeindliche, antibürgerliche und antisozialdemokratische Haltung der KPD Bescheid“. Hat daran jemand gezweifelt, die Partei jemals für einen bürgerlichkeitsfreundlichen, der SPD zugewandten Verein gehalten?
Am Ende steht die Warnung, „extremistische Parteien mit populistischen Parolen“ zu wählen. Vielleicht lehrt das Ende der Weimarer Republik auch, nicht allzusehr auf Entrüstung und Appelle zu vertrauen.
JENS BISKY
Philipp Austermann: Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments. Böhlau Verlag, Köln 2020. 338 Seiten, 30 Euro.
Vielleicht lehrt das Ende der
Weimarer Republik auch, nicht zu
sehr auf Appelle zu vertrauen
Im Plenum des Reichstags, 1920.
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zuoberst kehren
Wie der Weimarer Reichstag zerstört wurde
Am Nachmittag des 24. Juni 1920 eröffnete der Abgeordnete Heinrich Rieke, Jahrgang 1843, als Alterspräsident den ersten republikanischen Reichstag. Nach dem namentlichen Aufruf, 437 Parlamentsmitglieder waren anwesend, ging man wieder auseinander, am Tag darauf wurde der Sozialdemokrat Paul Löbe zum Reichstagspräsidenten gewählt. Er würde das Amt mit einer kurzen Unterbrechung 1924 bis zum für die Republik verheerenden Jahr 1932 ausüben. Löbe stand damit für eine gewisse Kontinuität, während jede Legislaturperiode des Parlaments vorzeitig beendet wurde. Zeitgenossen lobten seine „liebenswürdige, humorvolle, aber auch straffe, energische und feste Zügelführung“.
Nachdem der Reichspräsident Paul von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannt und den Reichstag wieder einmal aufgelöst hatte, berief Löbe für den 7. Februar 1933 eine Sitzung des Überwachungsausschusses ein, dessen Vorsitzender er damals war. Der Ausschuss hatte die Aufgabe, die Rechte der Volksvertretung zu wahren. Stellvertretender Vorsitzender war der Nationalsozialist Hans Frank. Er sprang gleich nach Eröffnung der Sitzung auf, schrie Löbe an, dieser müsse verschwinden, sei untragbar, da er im Wahlkampf Adolf Hitler „einen slowakischen Hetzer“ genannt habe. Die Nazis brüllten „Lump“ und Frank kündigte an, jede weitere Ausschusssitzung „mit Gewalt verhindern“ zu wollen. Ende des Monats brannte das Reichstagsgebäude, am 23. März 1933 stimmte eine Mehrheit des neu gewählten Parlaments für das Ermächtigungsgesetz. Paul Löbe wurde verhaftet und ins KZ Dürrgoy gebracht.
Der „schleichenden Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung“ des Reichstags der Weimarer Republik hat Philipp Austermann eine Studie gewidmet, die gleichermaßen Nachschlagewerk wie „Plädoyer für einen freiheitlichen Parlamentarismus“ sein will. Austermann ist Jurist, hat in der Bundestagsverwaltung gearbeitet und lehrt Staats- und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Er erzählt die Geschichte der Weimarer Republik, insofern sie sich in der Geschichte des Parlaments spiegelt, von ihrem Ende her, beginnt also nicht mit den Möglichkeiten und Hoffnungen in den Gründungsjahren der Republik, sondern setzt gleich mit den „Belastungen der Reichstagsarbeit“ ein. Historiker weisen seit langem auf die Offenheit der Entwicklung hin, darauf, dass die Weimarer Republik nicht zwangsläufig unterging, dass ihre Geschichte nicht in einem finalistischen Kurzschluss allein vom Ende her zu verstehen ist. Austermann handelt die Gründungszeit und die parlamentarische Arbeit bis 1930 als bloße Vorgeschichte ab, um dann ausführlich die Schlussphase zu behandeln, die Präsidialkabinette unter Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher, den Sieg der Feinde der Republik.
Kaum ein anderer Zeitraum der deutschen Geschichte dürfte so gut erforscht sein wie dieser, die Fülle der Literatur galt schon vor dreißig Jahren als kaum noch zu überschauen. Wer sich dafür interessiert, kann zu Heinrich August Winklers so klug wie fesselnd erzählter „Geschichte der ersten deutschen Demokratie“ greifen oder zur klassischen Studie Karl Dietrich Brachers über „Die Auflösung der Weimarer Republik“, die ausführlich über die verbreitete Verachtung des Parteienstaats und des Parlaments informiert. Die „parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik“ hat Thomas Mergel 2002 ausführlich untersucht. Reden und Debatten kann jeder unter reichstagsprotokolle.de nachlesen.
Dass schon viel über das Ende von Weimar geschrieben wurde, spricht nicht gegen weitere Bücher zum Thema, für Historiker, Politik- und Sozialwissenschaftler bleibt diese Zeit eine besonders interessante, auch weil gegenwärtige Krisenwahrnehmungen rasch mit der Erinnerung an „Weimarer Verhältnisse“ verkoppelt werden. Auch Austermann berichtet einleitend von seinem Erschrecken über Äußerungen von AfD-Vertretern im Bundestag und fragt, ob sich da etwas wiederhole, „das man lange Zeit für endgültig überwunden hielt“. Aber er gewinnt daraus keine interessante Perspektive. Sein Buch leidet unter dem Darstellungsproblem, dass der Reichstag seit der Ernennung Brünings zum Kanzler und der Parlamentsauflösung im Juli 1930 rapide an Bedeutung verlor. Wesentliche Entscheidungen fielen andernorts, beim Reichspräsidenten, auf der Straße, in den zahlreichen Wahlkämpfen, in Landesregierungen. Gewiss ist es nicht falsch, in der Kriegsniederlage und dem Versailler Vertrag, im reinen Verhältniswahlrecht, der geringen Kompromissfähigkeit der Parteien, auch im Erbe der Kaiserzeit Vorbelastungen zu sehen. Allerdings wäre dann zu fragen, warum das riesige Preußen trotz dieser Belastungen lange und stabil als „demokratisches Bollwerk“ regiert werden konnte, das Reich jedoch nicht.
Wie üblich weist auch Austermann auf den verhängnisvollen Paragrafen 48 der Verfassung hin, der dem Präsidenten quasi-diktatorische Maßnahmen, Notverordnungen, ermöglichte. Er sei „ein Missgriff der Verfassungsschöpfer“. Die Frage, wie es dazu kam, übergeht Austermann. Der Paragraf endete mit der Einschränkung: „Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz“. Warum wurde dieses niemals verabschiedet? Warum fand Otto Landsbergs Warnung vom Juli 1930 so wenig Gehör? Der Sozialdemokrat sah klar, dass man alles machen könne, wenn die gerade erlassenen Notverordnungen gültig sein sollten, dann könne „man im Deutschen Reich das Unterste zu oberst kehren“.
Empört registriert Austermann die vielen, in der Tat skandalösen Regelverstöße der Radikalen im Parlament. Wer etwa, schreibt er, die Rede des KPD-Abgeordneten Ernst Lohagen gelesen habe, wisse „über die staatsfeindliche, antibürgerliche und antisozialdemokratische Haltung der KPD Bescheid“. Hat daran jemand gezweifelt, die Partei jemals für einen bürgerlichkeitsfreundlichen, der SPD zugewandten Verein gehalten?
Am Ende steht die Warnung, „extremistische Parteien mit populistischen Parolen“ zu wählen. Vielleicht lehrt das Ende der Weimarer Republik auch, nicht allzusehr auf Entrüstung und Appelle zu vertrauen.
JENS BISKY
Philipp Austermann: Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments. Böhlau Verlag, Köln 2020. 338 Seiten, 30 Euro.
Vielleicht lehrt das Ende der
Weimarer Republik auch, nicht zu
sehr auf Appelle zu vertrauen
Im Plenum des Reichstags, 1920.
Foto: Scherl / Süddeutsche Zeitung
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