In seinem höchst originellen und provozierenden geschichtsphilosophischen Essay erklärt uns Moritz Rudolph unsere Gegenwart – zukünftige Geschichte – auf ganz neue Weise, indem er sie mit dem Objektiv der Dialektik ins Visier nimmt. "Furchtlos und halsbrecherisch spekulativ" (Christian Demand und Ekkehard Knörer, Merkur) beleuchtet er Fukuyamas "Ende der Geschichte", hebt sie mit Horkheimer aus den Angeln und stellt sie mithilfe einer Neuinterpretion der Kenosis von den Füßen auf den Kopf: Ist es möglich, dass der Weltgeist mit kurzem Zwischenstopp im Silicon Valley erst in China zu sich selbst kommt, um uns plötzlich als künstliche Intelligenz zu erscheinen? Er würde damit Hegel selbst das Fürchten lehren: Wenn Geschichte das ist, was nur von Menschen geschrieben werden kann, dann mag das Ende der Geschichte nah sein.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Der hier rezensierende Soziologe Andreas Reckwitz kann gar nicht genug bekommen von Moritz Rudolphs Verve beim Ausspinnen von Hegels Dialektik in Bezug auf den Weltgeist. Wo Fukuyama aufhört, beginnt Rudolph und entdeckt die Synthese aus Sowjet-Kommunismus und westlichem Kapitalismus in China. Xi wird es mögen, Marxisten und Liberale weniger, ahnt Reckwitz, denn Rudolph verzahnt seine Vision mit der Idee der Herrschaft einer KI und versieht das Ganze in einem zweiten Text mit dem Vorhängeschloss eines "kleinbürgerlichen Kommunismus" aus der Not. Ein bisschen Stirnrunzeln darf Rudolphs Assoziationsfeuerwerk beim Leser ruhig auslösen, findet der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.07.2021Dem finalen Kommunismus entgegen
Zurück nach China: Moritz Rudolph legt einen rasanten Parcours mit Hegels Weltgeist hin
Umbruchzeiten verlangen geradezu nach geschichtsphilosophischen Spekulationen. Entglobalisierung, amerikanischer Isolationismus, Klimawandel, Pandemien - kommt die westliche Moderne, welche zweihundertfünfzig Jahre den Globus beherrschte, an ein Ende? Und was wird danach folgen? Wahrscheinlich braucht es einen recht jungen, undogmatischen und couragierten Autor wie den Leipziger Doktoranden Moritz Rudolph, um eine neue große Erzählung über das Ende des Westens auszuloten. Unter der Überschrift "Der Weltgeist als Lachs" unternimmt Rudolph dies mit Verve. Der schmale Band besteht aus einem gleichnamigen Essay sowie einem zweiten, kürzeren Post-Corona-Text, der den Titel "Kommt jetzt der globale Babeuf?" trägt.
Rudolphs Essay passt in keine der gängigen theoretischen oder politischen Schubladen. Eher ist er in die Abteilung "Ernüchterung" einzuordnen. Der dichte, anspielungsreiche, ja rasante Text hat es in sich. Sein hauptsächliches intellektuelles Mittel ist Hegels Dialektik. Tatsächlich denkt der Autor Hegel, der bemerkte, dass die Weltgeschichte in China begann, zu Ende, und zwar ganz anders, als Fukuyama dies versuchte. Dieser sei auf halber Strecke steckengeblieben, indem er das Ende der Geschichte in den Vereinigten Staaten nach dem Ende des Kommunismus ausmachte.
Aber, so Rudolph, das war undialektisch gedacht. Denn wenn der Weltgeist zu sich selbst kommt, muss dies dann nicht die Form einer Synthese aus These und Antithese annehmen, in diesem Fall: aus liberalem Kapitalismus und Kommunismus? Und wo entsteht diese? Antwort: in China. Tatsächlich vermutet Rudolph mit kaum verborgener Spekulationslust, dass der Weltgeist in seinem Weg nach Westen über Europa und Nordamerika zum Ausgang zurückkehrt. China übernimmt gewissermaßen das Erbe des Sowjetkommunismus und des westlichen Kapitalismus zugleich, es bildet so eine Synthese, wie Hegel es etwas vorschnell in Preußen 1830 ausmachte, welches die napoleonische Revolutionsfraktion und die Heilige Allianz gleichermaßen verarbeitete.
In der Tat entspricht diese Vorstellung eines historischen Höhepunktes mittlerweile auch dem chinesischen Selbstverständnis von Xi Jiping in der Politik bis Zhao Tinyang in der Philosophie. Ein wenig schwindelig wird einem, wenn Rudolph dieses Modell mit den Spekulationen von Nick Bostrom über die kommenden Herrschaft einer Künstlichen Intelligenz verquickt. China laufe der amerikanischen Westküste den Rang als KI-Innovator ab. Mit seinem System sozialer Kreditpunkte erreiche es auf eigene Weise jene "verwaltete Welt", die auf Massenkonsum setzt, aber ohne die Spontaneität des Individuums auskommt, so wie sie der späte Max Horkheimer mit Schaudern prophezeite. Hegels Vernunft scheint sich bei Rudolph auf dem Weg nach Ostasien aufzulösen, und die formal-technische Rationalität der Künstlichen Intelligenz bleibt übrig. Die liberalen Fortschrittsoptimisten werden seine Diagnose nicht mögen.
Die Linken allerdings auch nicht, und das, obwohl Rudolph in seinem zweiten Text vermutet, dass die kommende und finale Ära nicht nur chinesisch, sondern kommunistisch sein werde. Mit dem Kommunismus ist hier jedoch nicht die hedonistische Vision des westlichen Marxismus gemeint, gewissermaßen ein Kommunismus des Überflusses für alle, sondern einer des Mangels. Ist das Coronaregime nur der Vorgeschmack für ein kommendes anti-individualistisches, ökologisch und gesundheitsorientiertes "größtes Sicherheitsprojekt der Geschichte", einen kleinbürgerlichen Kommunismus der schieren Notwendigkeit, wie ihn 1975 der DDR-Dissident Wolfgang Harich angesichts des Club-of-Rome-Berichts an die Wand malte? Und erweist sich Ostasien nicht als der effizientere Sicherheitsapparat?
Die Spekulationslust Rudolphs führt ihn in seinem zweiten Essay so streng genommen in Widerspruch zu seinem ersten Text: Denn dort erschien China als Synthese aus Kommunismus und Kapitalismus. Und wenn man den ausgefeilten Luxuskonsum der chinesischen höheren Mittelklasse betrachtet, der Europa mittlerweile um Längen schlägt, bleiben einem Zweifel, warum ausgerechnet China wieder in eine neomaoistische Mangelwirtschaft wird zurückkehren wollen. Aber sei's drum. Gewisses Stirnrunzeln beim Lesen sind der Preis für Rudolphs Assoziationsfülle. Von einem Essay ist nicht abgesichertes Wissen, sondern Ideenreichtum zu erwarten. Und so viel spielerisch-gebildete Lust an der Geschichtsphilosophie und am lässigen Abräumen diverser Wunschvorstellungen, wie Rudolph sie bietet, findet man selten. Man möchte mehr davon lesen. ANDREAS RECKWITZ.
Moritz Rudolph: "Der Weltgeist als Lachs".
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 126 S., br., 12,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zurück nach China: Moritz Rudolph legt einen rasanten Parcours mit Hegels Weltgeist hin
Umbruchzeiten verlangen geradezu nach geschichtsphilosophischen Spekulationen. Entglobalisierung, amerikanischer Isolationismus, Klimawandel, Pandemien - kommt die westliche Moderne, welche zweihundertfünfzig Jahre den Globus beherrschte, an ein Ende? Und was wird danach folgen? Wahrscheinlich braucht es einen recht jungen, undogmatischen und couragierten Autor wie den Leipziger Doktoranden Moritz Rudolph, um eine neue große Erzählung über das Ende des Westens auszuloten. Unter der Überschrift "Der Weltgeist als Lachs" unternimmt Rudolph dies mit Verve. Der schmale Band besteht aus einem gleichnamigen Essay sowie einem zweiten, kürzeren Post-Corona-Text, der den Titel "Kommt jetzt der globale Babeuf?" trägt.
Rudolphs Essay passt in keine der gängigen theoretischen oder politischen Schubladen. Eher ist er in die Abteilung "Ernüchterung" einzuordnen. Der dichte, anspielungsreiche, ja rasante Text hat es in sich. Sein hauptsächliches intellektuelles Mittel ist Hegels Dialektik. Tatsächlich denkt der Autor Hegel, der bemerkte, dass die Weltgeschichte in China begann, zu Ende, und zwar ganz anders, als Fukuyama dies versuchte. Dieser sei auf halber Strecke steckengeblieben, indem er das Ende der Geschichte in den Vereinigten Staaten nach dem Ende des Kommunismus ausmachte.
Aber, so Rudolph, das war undialektisch gedacht. Denn wenn der Weltgeist zu sich selbst kommt, muss dies dann nicht die Form einer Synthese aus These und Antithese annehmen, in diesem Fall: aus liberalem Kapitalismus und Kommunismus? Und wo entsteht diese? Antwort: in China. Tatsächlich vermutet Rudolph mit kaum verborgener Spekulationslust, dass der Weltgeist in seinem Weg nach Westen über Europa und Nordamerika zum Ausgang zurückkehrt. China übernimmt gewissermaßen das Erbe des Sowjetkommunismus und des westlichen Kapitalismus zugleich, es bildet so eine Synthese, wie Hegel es etwas vorschnell in Preußen 1830 ausmachte, welches die napoleonische Revolutionsfraktion und die Heilige Allianz gleichermaßen verarbeitete.
In der Tat entspricht diese Vorstellung eines historischen Höhepunktes mittlerweile auch dem chinesischen Selbstverständnis von Xi Jiping in der Politik bis Zhao Tinyang in der Philosophie. Ein wenig schwindelig wird einem, wenn Rudolph dieses Modell mit den Spekulationen von Nick Bostrom über die kommenden Herrschaft einer Künstlichen Intelligenz verquickt. China laufe der amerikanischen Westküste den Rang als KI-Innovator ab. Mit seinem System sozialer Kreditpunkte erreiche es auf eigene Weise jene "verwaltete Welt", die auf Massenkonsum setzt, aber ohne die Spontaneität des Individuums auskommt, so wie sie der späte Max Horkheimer mit Schaudern prophezeite. Hegels Vernunft scheint sich bei Rudolph auf dem Weg nach Ostasien aufzulösen, und die formal-technische Rationalität der Künstlichen Intelligenz bleibt übrig. Die liberalen Fortschrittsoptimisten werden seine Diagnose nicht mögen.
Die Linken allerdings auch nicht, und das, obwohl Rudolph in seinem zweiten Text vermutet, dass die kommende und finale Ära nicht nur chinesisch, sondern kommunistisch sein werde. Mit dem Kommunismus ist hier jedoch nicht die hedonistische Vision des westlichen Marxismus gemeint, gewissermaßen ein Kommunismus des Überflusses für alle, sondern einer des Mangels. Ist das Coronaregime nur der Vorgeschmack für ein kommendes anti-individualistisches, ökologisch und gesundheitsorientiertes "größtes Sicherheitsprojekt der Geschichte", einen kleinbürgerlichen Kommunismus der schieren Notwendigkeit, wie ihn 1975 der DDR-Dissident Wolfgang Harich angesichts des Club-of-Rome-Berichts an die Wand malte? Und erweist sich Ostasien nicht als der effizientere Sicherheitsapparat?
Die Spekulationslust Rudolphs führt ihn in seinem zweiten Essay so streng genommen in Widerspruch zu seinem ersten Text: Denn dort erschien China als Synthese aus Kommunismus und Kapitalismus. Und wenn man den ausgefeilten Luxuskonsum der chinesischen höheren Mittelklasse betrachtet, der Europa mittlerweile um Längen schlägt, bleiben einem Zweifel, warum ausgerechnet China wieder in eine neomaoistische Mangelwirtschaft wird zurückkehren wollen. Aber sei's drum. Gewisses Stirnrunzeln beim Lesen sind der Preis für Rudolphs Assoziationsfülle. Von einem Essay ist nicht abgesichertes Wissen, sondern Ideenreichtum zu erwarten. Und so viel spielerisch-gebildete Lust an der Geschichtsphilosophie und am lässigen Abräumen diverser Wunschvorstellungen, wie Rudolph sie bietet, findet man selten. Man möchte mehr davon lesen. ANDREAS RECKWITZ.
Moritz Rudolph: "Der Weltgeist als Lachs".
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 126 S., br., 12,- Euro.
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