Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vielschichtiger als die politische Botschaft: Naoíse Mac Sweeney nimmt die Genealogien ins Visier, mit denen sich der Westen als Erbe einer griechisch-römischen Antike darstellte.
Halbe Sachen macht die am Institut für Klassische Archäologie in Wien tätige Naoíse Mac Sweeney nicht: Ohne Umschweife erklärt sie ihr Ziel: Dem "Westen", verstanden als eine geopolitische Formation, eine Reihe moderner Nationalstaaten mit gemeinsamen kulturellen Merkmalen sowie politischen und wirtschaftlichen Grundsätzen - darunter die repräsentative Demokratie, der Marktkapitalismus, ein "nominell säkularer Staat auf dem Fundament einer jüdisch-christlichen Moral" und eine psychologische Neigung zum Individualismus -, diesem Westen also müsse die ihn ideengeschichtlich legitimierende Erzählung genommen werden, welche maßgeblich auf einem bestimmten Bild der Antike beruhe. Ausdrücklich wähnt sich die Autorin qua ihrer Profession als Altertumswissenschaftlerin mitschuldig "an der Fortschreibung der Großen Erzählung von der Westlichen Zivilisation, eines intellektuellen Konstrukts, das ideologisch und sachlich zweifelhaft war". Diese habe "die Westliche Expansion und den Westlichen Imperialismus gerechtfertigt" und unterstütze bis heute "die fortdauernden Systeme Weißer Dominanz".
Ob die altgriechischen Zitate auf manchen Plakaten der trumpschen Kapitolstürmer und das spartanische Lambda der Alt-Right-Bewegung einen kulturkämpferischen Bildersturm rechtfertigen, mag in den Vereinigten Staaten anders beantwortet werden als hierzulande. Doch auch dort ist womöglich das Problem des historisch-geographischen Analphabetismus größer als das eines fest gefügten falschen Bewusstseins. Darauf deuten jedenfalls Resultate einer kürzlich bekannt gewordenen Befragung, welcher Fluss und welches Meer in der vielfach skandierten Parole "from the river to the sea" eigentlich gemeint seien.
Man kann das Buch, jenseits der Fanfare, auf der Inhaltsebene als eine kenntnisreiche, fundierte und originelle Spurensuche lesen, wie vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein kluge Köpfe den jeweils eigenen Standort in der Welt historisch und kulturell bestimmten, wobei die geistige Landkarte bei diesen Operationen einen Westen und einen Osten umfasste, später auch ein Altertum und die dieses Altertum ausmachenden Formationen. Die Autorin hat dafür eine Vignettenstruktur gewählt, wie sie mittlerweile in weit gespannten Darstellungen für ein breiteres Publikum gern verwendet wird: Jedes der vierzehn Kapitel stellt eine - oft weniger geläufige - historische Person vor. Dies erlaubt es auch, in der traditionellen Ideengeschichte meist kaum in Erscheinung tretende Frauen und Angehörige außereuropäischer Kulturen zu Wort kommen zu lassen. An diesen Menschen werden deren Selbstverortungen in der Welt vorgeführt, geographische wie genealogische, wobei Letztere sowohl die Fiktion einer tatsächlichen Abstammung wie geistige oder politische Kontinuitätsbehauptungen einschließen
So schuf der Gelehrte Al-Kindi im "Haus der Weisheit" zu Bagdad im neunten Jahrhundert ein Amalgam aus aristotelischer Naturwissenschaft, neuplatonischer Philosophie und islamischer Theologie; damit suchte er den Byzantinern das griechische Erbe zu entreißen und es für die muslimische Welt zu beanspruchen, während dreihundert Jahre später Gottfried von Viterbo die Griechen mittels einer Herkunftslinie Trojaner - Römer - Deutsche ganz aus der Erbengemeinschaft der Weltgeschichte streichen wollte. In einer wiederum ganz anderen Konstellation wurde Theodor Laskaris Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, als Konstantinopel von lateinischen Kreuzfahrern besetzt und gedemütigt worden war, zum Vordenker der Idee einer hellenischen Nation, also einer ethnischen, kulturellen und politischen Einheit der Griechen, deren geographisches Zentrum freilich in Asien liege.
Mit der Universalgelehrten und Dichterin Tullia d'Aragona schließlich begannen im sechzehnten Jahrhundert die vielen ideengeschichtlichen Flussläufe mit ihren Seitenarmen schließlich in den Hauptstrom einzumünden, habe sie doch aus einer islamophoben Haltung heraus an der Formulierung dieser "unseligen Hybridform" mitgewirkt, die später griechisch-römische Antike heißen sollte. Demgegenüber sei im Osmanischen Reich, da Safiye als Frau des Sultans maßgeblichen politischen Einfluss ausübte und mit Elisabeth I. Briefe sowie Geschenke austauschte, sogar eine antikatholische Allianz zwischen dem Reich und England zumindest denkmöglich gewesen, da nach mancher Ansicht Türken wie Engländer von Trojanern abstammten (die Troja-Genealogie spielt bei Mac Sweeney eine wichtige Rolle, erstmals im Kapitel über die Augustus-Enkelin Livilla). Doch mit Francis Bacon und Englands neuer imperialer Politik habe sich im frühen siebzehnten Jahrhundert eine neue Ahnentafel von Wissen und Erleuchtung endgültig durchgesetzt: von den Griechen über die Römer bis zu den westlichen Völkern Europas.
Die angolanische Fürstin Nzinga, getauft als Nzinga Correia de Sousa, gibt der Autorin Gelegenheit, Versklavung und Rassifizierung zu thematisieren. Das setzt sich fort in einem eindrucksvollen Kapitel über Phillis Wheatley, eine junge, aus Afrika verschleppte Sklavin, die in den frühen Vereinigten Staaten vor Gericht beweisen musste, Verfasserin eines Bandes mit Gedichten in klassizistischer Tradition zu sein. Die Vorkämpfer der amerikanischen Revolution (im Buch vertreten durch den weniger bekannten Joseph Warren) und Phillis Wheatley, die ihren Prozess gewann: Schlagendere Beispiele für Empowerment durch Antike werden sich kaum finden lassen.
Verstimmen kann hier und da, wie die Autorin aus ihrer Agenda heraus ein schiefes Bild zeichnet. Ihrer Annahme, Herodot habe sich im unteritalischen Thurioi angesiedelt, weil er die auf Imperialismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegründete Politik Athens ablehnte, fehlen Belege und Plausibilität. Und William Gladstone unterfütterte in gelehrten Traktaten seinen antiasiatischen und antiorientalischen "wissenschaftlichen" Rassismus zwar mit einem bestimmten Zuschnitt der griechisch-römischen Antike: Palästina, so zitiert ihn Mac Sweeney, "hatte keinen Anteil am Ruhm unserer Rasse; sondern dieser lodert auf jeder Seite der Geschichte Griechenlands mit überwältigendem Glanz". Doch sie unterschlägt den Kontext der Stelle, denn zuvor heißt es unmissverständlich, alle Wunder der griechischen Kultur seien weniger wundervoll als ein einziges Buch der Psalmen, und danach bekennt der eben auch und primär christlich geprägte Autor, die Blumen des Paradieses blühten allein in Palästina, so arm und verachtet dieses im Vergleich auch war.
"Unser" langer Weg nach Westen, nämlich der ideengenealogische Rückgriff auf eine griechisch-römisch verstandene Antike ohne deren asiatische und afrikanische Teile, wurde demnach also erst in der Zeit der Aufklärung zur sorgfältig gepflasterten, geraden Straße, während es zuvor noch Wert- und Selbstbestimmungen gegeben hat, die andere Akzente setzten. - Gut und schön und jede Idee für sich interessant. Doch durch die aneinandergereihten Vignetten wird leicht verdeckt, was langfristig wirksam wurde und was dagegen eine charmante Möglichkeit ohne Chance auf durchschlagende Wirkung blieb. Warum die "liberale" Interpretation der Antike in England und den frühen Vereinigten Staaten von Amerika seit dem achtzehnten Jahrhundert so erfolgreich war, lässt sich maßgeblich mit dem wirtschaftlichen und machtpolitischen Siegeszug dieser beiden Großakteure erklären, wie die Autorin einräumt. Notorisch schwer zu bestimmen ist, welche Rückkoppelungen es zwischen der materiellen Ebene und den auf die Antike projizierten Ideen gegeben haben könnte. Hier muss Mac Sweeney bei ihrem Panorama das meiste schuldig bleiben; nicht zuletzt die institutionelle Dimension, zumal das Bildungssystem und seine Eigendynamiken, die nicht in ideologischer Zurichtung aufgehen, bleiben weitgehend ausblendet - ebenso die Frage, ob der Drache, auf den sie so hartnäckig einsticht, heute überhaupt noch lebt.
Was schwerer wiegt: Neben dem durchgängigen Furor gegen die unbezweifelbare Zurichtung der Antike für kolonialistische und rassistische Unterdrückung kommt das subversive Potential zumal des republikanischen Denkens entschieden zu kurz. Zwar zitiert die Autorin Thomas Hobbes' Warnung vor der Lektüre mancher antiken Schriftsteller, durch die es den Menschen von Kindheit an unter dem Einfluss eines falschen Freiheitsbilds zur Gewohnheit werde, Aufruhr zu billigen und die Handlungen ihres Souveräns zu kritisieren, "was mit so viel Blutvergießen verbunden ist, dass ich wohl recht habe, wenn ich sage, dass niemals etwas so teuer erkauft wurde wie das Erlernen der griechischen und lateinischen Sprache von der westlichen Welt". Auch wird registriert, dass klassische Rhetorik, Beispiele und Lehrer nicht selten dazu dienten, für die Abschaffung der Sklaverei, die Emanzipation der Frauen und die Verbesserung der Lage der Arbeiter zu plädieren. Doch das erfolgt eher beiläufig.
Fast hat man den Eindruck, Mac Sweeney stoße so laut in die Posaune, um im intellektuellen Klima amerikanischer und englischer Universitäten nicht als wachsweiche Zentristin oder gar Traditionsbewahrerin zu gelten. Dabei ist ihr Buch viel reicher, klüger und differenzierter als die Parole. Sie plädiert dafür, den Westen zeitgemäß neu zu denken und seine Prinzipien zu feiern; niemals seien zivilisatorische Grenzen und Definitionen statisch gewesen, ihr Werk sei deswegen ein Plädoyer, die Welt der Antike "in ihrer ganzen schwindelerregenden Vielfalt zu akzeptieren" und die verschiedenen seither entfalteten Genealogien zu hinterfragen und zu kritisieren. Ob man dafür "eine neue große Erzählung ausarbeiten" muss, die in ihrer Geschlossenheit doch ähnlich autoritativ und eben löchrig sein müsste wie die alte, erscheint indes fraglich. UWE WALTER
Naoíse Mac Sweeney: "Der Westen". Die neue Geschichte einer alten Idee.
Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz und Jens Hagestedt. Propyläen Verlag, Berlin 2023. 528 S., geb., 34,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main