Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm Jean-Claude Romand scheint sein Leben im Griff zu haben. Nachbarn und Bekannte schätzen den erfolgreichen Arzt, seine Bescheidenheit und Intelligenz. Doch plötzlich ermordet er seine Frau und seine beiden kleinen Kinder, seine Eltern und deren Hund. Der Versuch, seine Geliebte und sich selbst zu töten, misslingt, möglicherweise gewollt. Die Ermittlungen der Polizei lassen innerhalb von wenigen Stunden die äußere Fassade einstürzen, dahinter gähnt Leere: Romands Leben ist seit 17 Jahren auf Lügen und Betrug gebaut. "Seine Forscherstelle bei der WHO, Geschäftsreisen, Konferenzen mit hochrangigen Kollegen – all das hatte es nie gegeben." Und niemand hatte je Verdacht geschöpft. Die Nachricht geht durch die Presse und veranlasst Carrère zu seinem ersten Tatsachenroman. Doch nicht die Fakten ziehen ihn in den Bann, sondern die dunklen Triebkräfte dahinter, "der Widersacher". Er schreibt Romand, trifft ihn, wohnt seinem Prozess bei, befragt ehemalige Freunde, versucht zu verstehen. Mit einem schonungslosen Blick für die Abgründe unserer Psyche und die Rolle des Sprechens und Schweigens zeigt Emmanuel Carrère die Zerbrechlichkeit unserer sozialen Maske – in einer direkten, rohen Sprache, die seine eigene Fassungslosigkeit spürbar macht und von Claudia Hamm für die Neuausgabe kongenial ins Deutsche übertragen wurde.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2018Nicht jeder Hochstapler ist charmant
Neu übersetzt: In seinem Roman „Der Widersacher“ erprobte Emmanuel Carrère die Kunst der Verwandlung des Faktischen
Geschichten über Hochstapler haben einen harten Kern. Dieser Kern ist aus dem Geld gemacht, mit dem sich Hochstapler Zugang zu einem Leben und einer sozialen Klasse erkaufen, in die sie nicht hineingeboren wurden und an der sie sich für diese niemals wieder gutzumachende Ungerechtigkeit rächen. Dass es die Welt sei, die betrogen werden wolle, gibt Thomas Manns Romanfigur Felix Krull als Parole aus, führt sein Hochstaplerleben dabei aber mit größtmöglicher Lässigkeit.
Anders liegt der Fall von Jean-Claude Romand, dem Protagonisten in Emmanuel Carrères Roman „L’ Adversaire“ (2000), der auf Deutsch erstmals 2003 unter dem Titel „Amok“ erschien und jetzt neu übersetzt wurde, diesmal unter dem Titel „Der Widersacher“. Jean-Claude Romand entspringt nicht der Fantasie des Autors, seine Biografie ist aktenkundig. Carrère zeigt ihn nicht als leichtfüßigen Filou, sondern als depressiven Brüter, der bis zuletzt nur ungenügend Auskunft darüber geben kann, warum er seine Freunde und Familie finanziell ausgenommen und belogen hat.
Carrère erfuhr von der Geschichte im Gerichtsprozess gegen Romand und im Gespräch mit ihm. Er erzählt und zeigt zugleich, welche Grenzen die Wirklichkeitsbeschreibung hat und wie er sie ästhetisiert und bearbeitet. Eine Methode, die er erst mit „Der Widersacher“ zu seinem literarischen Verfahren gemacht hat. Seine Bücher sind in Deutschland durch die Übersetzerin Claudia Hamm bekannt geworden, in deren elegantem Deutsch inzwischen wichtige Teile von Carrères Werk vorliegen.
Jean-Claude Romand hatte sich als erfolgreicher Arzt der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgegeben und ermordete seine Frau, Kinder und Eltern, als seine Mythomanie aufzufliegen begann. Diese Morde geschahen jedoch nicht, weil sich Romand geschämt hätte, als chronischer Lügner und Poseur enttarnt zu werden. Vielmehr wollte er vermeiden, eine andere als seine ausgedachte Lebensgeschichte erzählen zu müssen.
Die Stationen seines Lebens sind schnell erzählt. Romand wächst als Sohn eines Forstarbeiters auf und ist als Medizinstudent ein klassischer Bildungsaufsteiger, der im akademischen Milieu mit seiner eigenen Unsicherheit ebenso zu kämpfen hat wie mit den Anforderungen seines Studiums. Beim Übergang ins dritte Studienjahr verpasst er eine wichtige Prüfung. Seinen Eltern und seiner Freundin Florence, die später seine Ehefrau wird, erzählt er trotzdem, er habe bestanden. Diese Szene ist entscheidend, denn in diesem Moment legt Romand einen Schalter um.
Während er zuvor nur manchmal die Unwahrheit sagte, geht er nun dazu über, eine immer komplexere Lebenslüge aufzubauen, die gern geglaubt wird und so geschmeidig läuft, dass er selbst sie von der Wahrheit nur schwer unterscheiden kann. Um glaubhaft zu machen, dass er täglich zur WHO pendelt, setzt er sich jeden Tag in sein Auto und fährt Richtung Genf, verbringt seine Arbeitstage auf Parkplätzen, geht in den Wäldern spazieren, unterhält später auch eine Affäre.
Wenn er angeblich auf Dienstreisen ist, liegt er in Hotelzimmern auf dem Bett und sieht fern. Da er kein Einkommen hat, muss er viel Geld beschaffen, um das Leben eines erfolgreichen Arztes vorspiegeln zu können. Und so veruntreut Romand große Summen, die ihm seine Familie vertrauensvoll überschreibt. Irgendwann ist dieses Geld aufgebraucht, und er sieht keine Möglichkeiten mehr, an neues zu gelangen. Weil er davon ausgeht, dass seine Nächsten die Wahrheit nicht ertragen können, bringt er sie um, scheitert an einem halbherzigen Selbstmordversuch und wird vor Gericht gestellt. Dort trifft er auf Carrère. Die entscheidende Frage in der Geschichte Romands ist: Warum wurde ihm geglaubt?
Für Carrère ist diese Frage nicht in praktischer Hinsicht interessant. Romand ist es unter anderem zugutegekommen, noch nicht in Zeiten ständiger Erreich- und Auffindbarkeit durch Mobiltelefone gelebt zu haben. Carrère stellt vielmehr allgemeinere Probleme des Umgangs mit Wahrheit, Plausibilität und Fiktion in den Vordergrund, die in allen seinen Büchern verhandelt werden.
In einem Interview mit Claudia Hamm, das der Ausgabe beigegeben ist, sagt Carrère: „Die Fiktion ist an Plausibilität gebunden, die Wirklichkeit nicht.“ Hätte er sich die Geschichte Romands ausgedacht, wäre es schwer gewesen, sie seinem Verleger zu verkaufen, fügt er hinzu, zu drastisch und deshalb unglaubwürdig habe sie gewirkt.
Und auch auf eine religiöse Dimension von Carrères Schreiben weist der von Hamm korrigierte Titel hin: Der „Widersacher“ ist einer der vielen biblischen Namen des Teufels, der als großer Versucher der Menschen auftritt. Dieser Verweis ist zentral für Carrère, der an einer französischen Übersetzung des Markusevangeliums mitgewirkt hat. Romands Geschichte ist für ihn nicht in erster Linie ein interessanter Kriminalfall, sondern eine Charakterstudie, und zwar nicht nur die des Mythomanen Roman, sondern auch eine des Erzählers, der geraume Zeit seines Lebens mit der Geschichte eines Hochstaplers und Mörders verbringt. Eines Mannes, der sogar seine Familie ermordet hat, um eine fiktive Biografie aufrechterhalten zu kön-nen. Und in gewisser Weise hat Romand ja selbst sein Leben mit dem eines anderen, eines ausgedachten Mannes verbracht, der er gern gewesen wäre. Carrère geht diesem Sich-Spiegeln in einem anderen nach und stellt die Frage, warum es in Romands Fall zu Lüge und Mord, in seinem eigenen Fall aber zu einem literarischen Verfahren wurde.
Carrères Werk ist voller psychischer Extreme. Zu diesen gehört auch seine eigene Arbeitsweise. Die Verstrickung seiner eigenen Lebensgeschichte mit der seiner Figuren hat sich mit jedem seiner Bücher zugespitzt. Er studiert die intimsten Eigenschaften seiner Figuren ebenso intensiv wie seine eigenen. Nicht alle Personen, die er zu literarischen Figuren gemacht hat, waren darüber so erfreut wie Jean-Claude Romand. Dessen Eitelkeit schmeichelte es, Protagonist eines Buches zu werden. Carrères Familienmitglieder dagegen waren, wie der Autor in Interviews berichtete, zum Teil sehr verletzt von der Art und Weise, wie sie in seinen Büchern auftauchten.
Der literarische Reichtum, den er auf seiner unaufhörlichen Wahrheitssuche ansammelt, entsteht wie jeder Reichtum auf Kosten anderer. Auch dies ist ein Thema, das Carrère in „Der Widersacher“ angelegt hat.
HANNA ENGELMEIER
Emmanuel Carrère: Der Widersacher. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 195 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Neu übersetzt: In seinem Roman „Der Widersacher“ erprobte Emmanuel Carrère die Kunst der Verwandlung des Faktischen
Geschichten über Hochstapler haben einen harten Kern. Dieser Kern ist aus dem Geld gemacht, mit dem sich Hochstapler Zugang zu einem Leben und einer sozialen Klasse erkaufen, in die sie nicht hineingeboren wurden und an der sie sich für diese niemals wieder gutzumachende Ungerechtigkeit rächen. Dass es die Welt sei, die betrogen werden wolle, gibt Thomas Manns Romanfigur Felix Krull als Parole aus, führt sein Hochstaplerleben dabei aber mit größtmöglicher Lässigkeit.
Anders liegt der Fall von Jean-Claude Romand, dem Protagonisten in Emmanuel Carrères Roman „L’ Adversaire“ (2000), der auf Deutsch erstmals 2003 unter dem Titel „Amok“ erschien und jetzt neu übersetzt wurde, diesmal unter dem Titel „Der Widersacher“. Jean-Claude Romand entspringt nicht der Fantasie des Autors, seine Biografie ist aktenkundig. Carrère zeigt ihn nicht als leichtfüßigen Filou, sondern als depressiven Brüter, der bis zuletzt nur ungenügend Auskunft darüber geben kann, warum er seine Freunde und Familie finanziell ausgenommen und belogen hat.
Carrère erfuhr von der Geschichte im Gerichtsprozess gegen Romand und im Gespräch mit ihm. Er erzählt und zeigt zugleich, welche Grenzen die Wirklichkeitsbeschreibung hat und wie er sie ästhetisiert und bearbeitet. Eine Methode, die er erst mit „Der Widersacher“ zu seinem literarischen Verfahren gemacht hat. Seine Bücher sind in Deutschland durch die Übersetzerin Claudia Hamm bekannt geworden, in deren elegantem Deutsch inzwischen wichtige Teile von Carrères Werk vorliegen.
Jean-Claude Romand hatte sich als erfolgreicher Arzt der Weltgesundheitsorganisation WHO ausgegeben und ermordete seine Frau, Kinder und Eltern, als seine Mythomanie aufzufliegen begann. Diese Morde geschahen jedoch nicht, weil sich Romand geschämt hätte, als chronischer Lügner und Poseur enttarnt zu werden. Vielmehr wollte er vermeiden, eine andere als seine ausgedachte Lebensgeschichte erzählen zu müssen.
Die Stationen seines Lebens sind schnell erzählt. Romand wächst als Sohn eines Forstarbeiters auf und ist als Medizinstudent ein klassischer Bildungsaufsteiger, der im akademischen Milieu mit seiner eigenen Unsicherheit ebenso zu kämpfen hat wie mit den Anforderungen seines Studiums. Beim Übergang ins dritte Studienjahr verpasst er eine wichtige Prüfung. Seinen Eltern und seiner Freundin Florence, die später seine Ehefrau wird, erzählt er trotzdem, er habe bestanden. Diese Szene ist entscheidend, denn in diesem Moment legt Romand einen Schalter um.
Während er zuvor nur manchmal die Unwahrheit sagte, geht er nun dazu über, eine immer komplexere Lebenslüge aufzubauen, die gern geglaubt wird und so geschmeidig läuft, dass er selbst sie von der Wahrheit nur schwer unterscheiden kann. Um glaubhaft zu machen, dass er täglich zur WHO pendelt, setzt er sich jeden Tag in sein Auto und fährt Richtung Genf, verbringt seine Arbeitstage auf Parkplätzen, geht in den Wäldern spazieren, unterhält später auch eine Affäre.
Wenn er angeblich auf Dienstreisen ist, liegt er in Hotelzimmern auf dem Bett und sieht fern. Da er kein Einkommen hat, muss er viel Geld beschaffen, um das Leben eines erfolgreichen Arztes vorspiegeln zu können. Und so veruntreut Romand große Summen, die ihm seine Familie vertrauensvoll überschreibt. Irgendwann ist dieses Geld aufgebraucht, und er sieht keine Möglichkeiten mehr, an neues zu gelangen. Weil er davon ausgeht, dass seine Nächsten die Wahrheit nicht ertragen können, bringt er sie um, scheitert an einem halbherzigen Selbstmordversuch und wird vor Gericht gestellt. Dort trifft er auf Carrère. Die entscheidende Frage in der Geschichte Romands ist: Warum wurde ihm geglaubt?
Für Carrère ist diese Frage nicht in praktischer Hinsicht interessant. Romand ist es unter anderem zugutegekommen, noch nicht in Zeiten ständiger Erreich- und Auffindbarkeit durch Mobiltelefone gelebt zu haben. Carrère stellt vielmehr allgemeinere Probleme des Umgangs mit Wahrheit, Plausibilität und Fiktion in den Vordergrund, die in allen seinen Büchern verhandelt werden.
In einem Interview mit Claudia Hamm, das der Ausgabe beigegeben ist, sagt Carrère: „Die Fiktion ist an Plausibilität gebunden, die Wirklichkeit nicht.“ Hätte er sich die Geschichte Romands ausgedacht, wäre es schwer gewesen, sie seinem Verleger zu verkaufen, fügt er hinzu, zu drastisch und deshalb unglaubwürdig habe sie gewirkt.
Und auch auf eine religiöse Dimension von Carrères Schreiben weist der von Hamm korrigierte Titel hin: Der „Widersacher“ ist einer der vielen biblischen Namen des Teufels, der als großer Versucher der Menschen auftritt. Dieser Verweis ist zentral für Carrère, der an einer französischen Übersetzung des Markusevangeliums mitgewirkt hat. Romands Geschichte ist für ihn nicht in erster Linie ein interessanter Kriminalfall, sondern eine Charakterstudie, und zwar nicht nur die des Mythomanen Roman, sondern auch eine des Erzählers, der geraume Zeit seines Lebens mit der Geschichte eines Hochstaplers und Mörders verbringt. Eines Mannes, der sogar seine Familie ermordet hat, um eine fiktive Biografie aufrechterhalten zu kön-nen. Und in gewisser Weise hat Romand ja selbst sein Leben mit dem eines anderen, eines ausgedachten Mannes verbracht, der er gern gewesen wäre. Carrère geht diesem Sich-Spiegeln in einem anderen nach und stellt die Frage, warum es in Romands Fall zu Lüge und Mord, in seinem eigenen Fall aber zu einem literarischen Verfahren wurde.
Carrères Werk ist voller psychischer Extreme. Zu diesen gehört auch seine eigene Arbeitsweise. Die Verstrickung seiner eigenen Lebensgeschichte mit der seiner Figuren hat sich mit jedem seiner Bücher zugespitzt. Er studiert die intimsten Eigenschaften seiner Figuren ebenso intensiv wie seine eigenen. Nicht alle Personen, die er zu literarischen Figuren gemacht hat, waren darüber so erfreut wie Jean-Claude Romand. Dessen Eitelkeit schmeichelte es, Protagonist eines Buches zu werden. Carrères Familienmitglieder dagegen waren, wie der Autor in Interviews berichtete, zum Teil sehr verletzt von der Art und Weise, wie sie in seinen Büchern auftauchten.
Der literarische Reichtum, den er auf seiner unaufhörlichen Wahrheitssuche ansammelt, entsteht wie jeder Reichtum auf Kosten anderer. Auch dies ist ein Thema, das Carrère in „Der Widersacher“ angelegt hat.
HANNA ENGELMEIER
Emmanuel Carrère: Der Widersacher. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 195 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.01.2019Mensch oder Monster?
Emmanuel Carrères berühmte Studie über einen französischen Mörder neu übersetzt: "Der Widersacher"
Am 18. September 2018 wurde die Entscheidung über den Antrag auf Haftentlassung von Jean-Claude Romand zunächst vertagt; eine weitere Prüfung sei nötig, ein neues Datum wurde nicht genannt. Diese Vorsicht ist mehr als geboten im Fall eines Mannes, der Eltern, Frau und Kinder ermordet hat. Romand, geboren 1954, hatte ihnen gegenüber achtzehn Jahre lang vorgegeben, Arzt und medizinischer Experte der Weltgesundheitsorganisation in Genf zu sein, obwohl er sein Medizinstudium frühzeitig abgebrochen hatte. Als die Lebenslüge 1993 aufzufliegen drohte, brachte er seine Nächsten kurzerhand um. 1996 wurde er zu lebenslanger Haft mit zweiundzwanzig Jahren Sicherheitsverwahrung verurteilt. Im Gefängnis hat er seitdem den katholischen Glauben wiederentdeckt.
Der Schriftsteller Emmanuel Carrère (geboren 1957) hatte sich schon damals für den Fall interessiert, vor Ort recherchiert, dem Prozess beigewohnt, Romand kontaktiert und getroffen. Das daraus entstandene Buch "L'Adversaire" (2000) ist ihm schwergefallen: Sieben Jahre brauchte die Niederschrift und gelang erst, als er das Projekt bereits aufgegeben hatte und nur die wichtigsten Punkte für sich resümieren wollte. Das berichtet Carrère im Gespräch mit Claudia Hamm, der Übersetzerin, die das Buch nun unter dem Titel "Der Widersacher" neu übertragen hat; das Gespräch ist aufschlussreich und bereichert den Band ungemein. Die neue Übersetzung erscheint bei Matthes & Seitz und ersetzt die vergriffene von Irmengard Gabler, die 2001 von S. Fischer als "Amok" publiziert wurde.
Im Rückblick sieht man die Bedeutung von "Der Widersacher". Carrère liefert sein persönliches Äquivalent zu Truman Capotes "In Cold Blood" (1965): die Wendung zur "non-fiction novel", dem Tatsachenroman, den er in Frankreich populär macht. Die Unterschiede stechen ebenso ins Auge, etwa, dass Carrère sich selbst weniger einbringt als Capote; zugleich stellt Carrère seine persönliche Interaktion mit dem Mörder viel skrupulöser dar als der manipulative Capote, wie der Franzose überhaupt seine eigene Position und Betroffenheit klar benennt. Bei der Ersterscheinung wurde Carrère das mitunter angekreidet; Romands Bekehrung stieß bei ihm, der selbst eine religiöse Krise durchgemacht hatte, zumindest auf Gehör, während kritische Beobachter sie als weitere Tartüfferie eines pathologischen Lügners abtaten.
Schließlich hatte "Doktor Romand" seine kleine Welt in Ferney-Voltaire über eine halbe Generation hinweg gründlich an der Nase herumgeführt. Er hat nicht nur seinen Eltern, seiner Ehefrau Florence, seinen Kindern Caroline und Antoine, seiner Geliebten Corinne, seinen Freunden und Bekannten eine brillante internationale Karriere vorgetäuscht, sondern der vierköpfigen Familie einen satten Lebensstil im Speckgürtel der Schweizer Grenze finanziert - mit Geldern, die Nahestehende ihm zur Anlage anvertraut hatten. Was hat den Manipulator angetrieben, der aus der Ursprungstäuschung dauerhaft keinen Profit schlagen konnte, ja davon ausgehen musste, dass er eher früher als später entlarvt werden musste? "Eine Lüge dient normalerweise dazu, eine Wahrheit zu verbergen, etwas vielleicht Beschämendes, aber Wahres. Die seine verbarg nichts."
Carrère nähert sich der existentiellen Frage lebenspraktisch: "Was hatte sich während der Tage in seinem Kopf abgespielt, die er weder, wie behauptet, im Büro verbracht hatte noch mit Waffenschmuggel oder Industriespionage, wie man anfangs geglaubt hatte, sondern, wie man inzwischen annahm, damit, im Wald umherzustreunen?"
"Der Widersacher" steigt nach der Tat ein und berichtet sie aus der Perspektive der engsten Freunde Romands: Deren enttäuschtes Vertrauen setzt die Monstrosität des Geschehens effektvoll in Szene. Dann berichtet Carrère von seiner Kontaktaufnahme mit Romand, um schließlich das Leben des späteren Mörders zu erzählen: die Kindheit in einer Försterfamilie in Clairvaux-les-Lacs (Jura) - "sie arbeiten hart, sind gottesfürchtig und absolut verlässlich" -, eine einsame Jugend im Internat, das Medizinstudium, das er trotz erster Erfolge vom Ende des zweiten Jahres an ohne Prüfungen und Praktika weiterführt. Seine Frau - "sie war auf eine natürliche Art katholisch" - und später seine Geliebte verfolgt und langweilt Romand mehr, als dass er sie verführt. Seine Doppelexistenz geht so lange gut, bis das Geld knapp wird und Corinne ihre Anlage zurückfordert.
Kurz: Im Grunde gibt es wenig über Romand zu erzählen, wenn es nicht das große Ganze eines Lebens in völliger Lüge ist. Zwar kann Carrère auch dem blassen Alltag eines blassen Menschen - und sei dieser ein Mörder in spe - viel abgewinnen; das liegt an seinem eingängigen Stil, dessen leichte und ruhige Melodie in mancher Hinsicht an Patrick Modiano erinnert und der, siehe "Limonow" (2011), selbst über längere Strecken trägt. Zudem bringt die Konzentration auf die letzte Phase, als die Krise naht, dramatische Spannung in die Erzählung. Freilich bleibt die große Frage: Wie ist dieses Leben letzten Endes einzuordnen, ja zu bewerten? Die Entwicklung des Autors ist offenbar: Anfangs nähert Carrère sich Romand als Opfer, als "unseliges Spielzeug dämonischer Kräfte". Die ehemaligen Freunde Romands teilen dessen christliche Perspektive, sehen ihn aber als aktiven Teil im "Triumph der Lüge und des Bösen" - daher der Titel "Der Widersacher". Auch später ist Carrère für die religiöse Sicht zugänglich, als Gefängnispfarrer und -betreuerin dem mittlerweile Verurteilten die Bekehrung zum Christentum abnehmen; psychiatrische Experten sehen das anders. Am Ende von Carrères Beschäftigung mit dem Fall steht jedoch totale Desillusionierung: "Als ich nach Paris zurückfuhr, um mich an die Arbeit zu machen, konnte ich in seiner jahrelangen Hochstapelei kein Mysterium mehr erkennen, sondern nur noch eine armselige Mischung aus Verblendung, Not und Feigheit."
Was der Geschichte erhalten bleibt, ist das Potential, etwas über den Menschen als soziales Wesen zu sagen. Carrère im Gespräch: "Diese Geschichte wurzelt nicht nur in der Lüge, sondern in etwas, das der Ursprung der Lüge ist, nämlich der Kluft zwischen der sozialen Rolle, die man spielt, der Persona, der öffentlichen ,Maske', und dem Ich, das mit sich allein nachts auf dem Klo sitzt."
Diese soziologisch-anthropologische These hebt sich deutlich von der früheren religiösen Faszination ab. Sie erscheint als die eigentliche Quintessenz von "Der Widersacher", der im Rückblick als Wendepunkt in Carrères Werk erscheint: als der Moment, in dem sich der Schriftsteller erfolgreich in den Grenzbereich zwischen Fiktion und Fakten begeben hat, ein Gebiet, in dem sich ein wichtiger Anteil des literarischen Schaffens heute abspielt, nicht nur in Frankreich.
NIKLAS BENDER
Emmanuel Carrère: "Der Widersacher". Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 196 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Emmanuel Carrères berühmte Studie über einen französischen Mörder neu übersetzt: "Der Widersacher"
Am 18. September 2018 wurde die Entscheidung über den Antrag auf Haftentlassung von Jean-Claude Romand zunächst vertagt; eine weitere Prüfung sei nötig, ein neues Datum wurde nicht genannt. Diese Vorsicht ist mehr als geboten im Fall eines Mannes, der Eltern, Frau und Kinder ermordet hat. Romand, geboren 1954, hatte ihnen gegenüber achtzehn Jahre lang vorgegeben, Arzt und medizinischer Experte der Weltgesundheitsorganisation in Genf zu sein, obwohl er sein Medizinstudium frühzeitig abgebrochen hatte. Als die Lebenslüge 1993 aufzufliegen drohte, brachte er seine Nächsten kurzerhand um. 1996 wurde er zu lebenslanger Haft mit zweiundzwanzig Jahren Sicherheitsverwahrung verurteilt. Im Gefängnis hat er seitdem den katholischen Glauben wiederentdeckt.
Der Schriftsteller Emmanuel Carrère (geboren 1957) hatte sich schon damals für den Fall interessiert, vor Ort recherchiert, dem Prozess beigewohnt, Romand kontaktiert und getroffen. Das daraus entstandene Buch "L'Adversaire" (2000) ist ihm schwergefallen: Sieben Jahre brauchte die Niederschrift und gelang erst, als er das Projekt bereits aufgegeben hatte und nur die wichtigsten Punkte für sich resümieren wollte. Das berichtet Carrère im Gespräch mit Claudia Hamm, der Übersetzerin, die das Buch nun unter dem Titel "Der Widersacher" neu übertragen hat; das Gespräch ist aufschlussreich und bereichert den Band ungemein. Die neue Übersetzung erscheint bei Matthes & Seitz und ersetzt die vergriffene von Irmengard Gabler, die 2001 von S. Fischer als "Amok" publiziert wurde.
Im Rückblick sieht man die Bedeutung von "Der Widersacher". Carrère liefert sein persönliches Äquivalent zu Truman Capotes "In Cold Blood" (1965): die Wendung zur "non-fiction novel", dem Tatsachenroman, den er in Frankreich populär macht. Die Unterschiede stechen ebenso ins Auge, etwa, dass Carrère sich selbst weniger einbringt als Capote; zugleich stellt Carrère seine persönliche Interaktion mit dem Mörder viel skrupulöser dar als der manipulative Capote, wie der Franzose überhaupt seine eigene Position und Betroffenheit klar benennt. Bei der Ersterscheinung wurde Carrère das mitunter angekreidet; Romands Bekehrung stieß bei ihm, der selbst eine religiöse Krise durchgemacht hatte, zumindest auf Gehör, während kritische Beobachter sie als weitere Tartüfferie eines pathologischen Lügners abtaten.
Schließlich hatte "Doktor Romand" seine kleine Welt in Ferney-Voltaire über eine halbe Generation hinweg gründlich an der Nase herumgeführt. Er hat nicht nur seinen Eltern, seiner Ehefrau Florence, seinen Kindern Caroline und Antoine, seiner Geliebten Corinne, seinen Freunden und Bekannten eine brillante internationale Karriere vorgetäuscht, sondern der vierköpfigen Familie einen satten Lebensstil im Speckgürtel der Schweizer Grenze finanziert - mit Geldern, die Nahestehende ihm zur Anlage anvertraut hatten. Was hat den Manipulator angetrieben, der aus der Ursprungstäuschung dauerhaft keinen Profit schlagen konnte, ja davon ausgehen musste, dass er eher früher als später entlarvt werden musste? "Eine Lüge dient normalerweise dazu, eine Wahrheit zu verbergen, etwas vielleicht Beschämendes, aber Wahres. Die seine verbarg nichts."
Carrère nähert sich der existentiellen Frage lebenspraktisch: "Was hatte sich während der Tage in seinem Kopf abgespielt, die er weder, wie behauptet, im Büro verbracht hatte noch mit Waffenschmuggel oder Industriespionage, wie man anfangs geglaubt hatte, sondern, wie man inzwischen annahm, damit, im Wald umherzustreunen?"
"Der Widersacher" steigt nach der Tat ein und berichtet sie aus der Perspektive der engsten Freunde Romands: Deren enttäuschtes Vertrauen setzt die Monstrosität des Geschehens effektvoll in Szene. Dann berichtet Carrère von seiner Kontaktaufnahme mit Romand, um schließlich das Leben des späteren Mörders zu erzählen: die Kindheit in einer Försterfamilie in Clairvaux-les-Lacs (Jura) - "sie arbeiten hart, sind gottesfürchtig und absolut verlässlich" -, eine einsame Jugend im Internat, das Medizinstudium, das er trotz erster Erfolge vom Ende des zweiten Jahres an ohne Prüfungen und Praktika weiterführt. Seine Frau - "sie war auf eine natürliche Art katholisch" - und später seine Geliebte verfolgt und langweilt Romand mehr, als dass er sie verführt. Seine Doppelexistenz geht so lange gut, bis das Geld knapp wird und Corinne ihre Anlage zurückfordert.
Kurz: Im Grunde gibt es wenig über Romand zu erzählen, wenn es nicht das große Ganze eines Lebens in völliger Lüge ist. Zwar kann Carrère auch dem blassen Alltag eines blassen Menschen - und sei dieser ein Mörder in spe - viel abgewinnen; das liegt an seinem eingängigen Stil, dessen leichte und ruhige Melodie in mancher Hinsicht an Patrick Modiano erinnert und der, siehe "Limonow" (2011), selbst über längere Strecken trägt. Zudem bringt die Konzentration auf die letzte Phase, als die Krise naht, dramatische Spannung in die Erzählung. Freilich bleibt die große Frage: Wie ist dieses Leben letzten Endes einzuordnen, ja zu bewerten? Die Entwicklung des Autors ist offenbar: Anfangs nähert Carrère sich Romand als Opfer, als "unseliges Spielzeug dämonischer Kräfte". Die ehemaligen Freunde Romands teilen dessen christliche Perspektive, sehen ihn aber als aktiven Teil im "Triumph der Lüge und des Bösen" - daher der Titel "Der Widersacher". Auch später ist Carrère für die religiöse Sicht zugänglich, als Gefängnispfarrer und -betreuerin dem mittlerweile Verurteilten die Bekehrung zum Christentum abnehmen; psychiatrische Experten sehen das anders. Am Ende von Carrères Beschäftigung mit dem Fall steht jedoch totale Desillusionierung: "Als ich nach Paris zurückfuhr, um mich an die Arbeit zu machen, konnte ich in seiner jahrelangen Hochstapelei kein Mysterium mehr erkennen, sondern nur noch eine armselige Mischung aus Verblendung, Not und Feigheit."
Was der Geschichte erhalten bleibt, ist das Potential, etwas über den Menschen als soziales Wesen zu sagen. Carrère im Gespräch: "Diese Geschichte wurzelt nicht nur in der Lüge, sondern in etwas, das der Ursprung der Lüge ist, nämlich der Kluft zwischen der sozialen Rolle, die man spielt, der Persona, der öffentlichen ,Maske', und dem Ich, das mit sich allein nachts auf dem Klo sitzt."
Diese soziologisch-anthropologische These hebt sich deutlich von der früheren religiösen Faszination ab. Sie erscheint als die eigentliche Quintessenz von "Der Widersacher", der im Rückblick als Wendepunkt in Carrères Werk erscheint: als der Moment, in dem sich der Schriftsteller erfolgreich in den Grenzbereich zwischen Fiktion und Fakten begeben hat, ein Gebiet, in dem sich ein wichtiger Anteil des literarischen Schaffens heute abspielt, nicht nur in Frankreich.
NIKLAS BENDER
Emmanuel Carrère: "Der Widersacher". Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Mit einem Gespräch zwischen Emmanuel Carrère und Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 196 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Der Widersacher ist ein früher Roman Emmanuel Carrères, mit dem er das Genre des Tatsachenromans in Frankreich begründete, erzählt Rezensentin Sophie Jung. Carrère erzählt hier die - wahre - Geschichte des Hochstaplers und Mörders Jean-Claude Romand, erfahren wir. Romand hatte seiner Familie über 18 Jahre vorgespielt, er sei ein international renommierter Medizinforscher an der WHO in Genf , dabei hatte er nicht mal die Prüfung im zweiten Studienjahr bestanden. Als die Sache aufzufliegen drohte, tötete er seine Frau, die Kinder und seine Eltern, erzählt Jung. Carrère nähert sich dem Mann, so die Rezensentin indem er sich an alle möglichen unwirtlichen Orte begibt, an denen Romand seine Zeit vertrödelte, während die Familie ihn auf Reisen glaubte. Inwiefern ein Parkplatz dem Autor hilft, sich in einen Mörder zu versetzten, versteht vielleicht nicht jeder. Für die Rezensentin ist dies jedoch ein Buch über Schwächen und Lügen, die jeder kennt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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