Der Wiener Kongress markiert einen Wendepunkt in der Geschichte Europas. Dort gelang es, eine einzigartige dauerhafte Friedensordnung zu stiften, die erst mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges endete. Eberhard Straub zeichnet ein farbiges Sittengemälde einer ganzen Epoche, in der ein politisches Europa Wirklichkeit wurde. Der Wiener Kongress tanzte nicht nur, er arbeitete auch. Nach den Napoleonischen Kriegen, die Europa in vollständige Unordnung gestürzt hatten, bemühten sich Könige und Diplomaten, aus den Trümmern der alten Welt ein neues Europa der Sicherheit und Solidarität zu schaffen. Eberhard Straub porträtiert die großen Akteure (u. a. Metternich, Talleyrand, Hardenberg, Humboldt) und zeigt, wie sie die Grundlagen dafür legten, dass Europa sich noch einmal 100 Jahre souverän als Einheit in der Mannigfaltigkeit behaupten konnte. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg erlagen die Siegermächte nicht der Versuchung, den unterlegenen Feind zu dämonisieren und zu bestrafen. Noch einmal siegte die Vernunft der Nationen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2014Ohne Tyrannei der Werte
Ritterliche Behandlung des geschlagenen Gegners: Heinz Duchhardt und Eberhard Straub
sehen den Wiener Kongress als europäisches Modell
VON GUSTAV SEIBT
Der Wiener Kongress, der vor 200 Jahren den Umsturz der europäischen Staatenordnung reparierte, den die französischen Revolutionskriege und Napoleon bewirkt hatten, bleibt eines der klassischen Beispiele internationaler Politik. Als solches hat er immer auch die Praktiker der Diplomatie interessiert, was sich daran zeigt, dass jeweils am Ende von Erstem und Zweitem Weltkrieg ambitionierte Darstellungen vorgelegt wurden, als Anregungen für die Diplomatie. 1946 erschien ein Buch von Harold Nicolson, dem flamboyanten Briten, der schon 1919 in Versailles die monströse Behandlung mitnotiert hatte, die man den bedauernswerten Vertretern der deutschen Republik (und nicht etwa Exponenten des besiegten Kaiserreichs) zumutete. Der junge Henry Kissinger promovierte zum Wiener Kongress – der Ausgangspunkt seiner diplomatiehistorischen Standardwerke.
Die beiden Jubiläumsbücher von Eberhard Straub und Heinz Duchhardt kennen diese Rezeptionsgeschichte, machen aber etwas jeweils Eigenes und Neues. Straubs Buch ist eigentlich ein Essay zur europäischen Außenpolitik zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg, der mit breitem Pinsel und oft polemischen Antithesen – gegen das nationale Selbstbestimmungsrecht und die Moralisierung der internationalen Beziehungen – das Konzert der Großmächte im 19. Jahrhundert feiert. Die „Pentarchie“, das europäische Direktorium von Frankreich, Russland, Preußen, Österreich und England ordnete sich zu einem beruhigten Mobile des Ausgleichs um die strategische Mitte Deutschland.
Dieses blieb geteilt zwischen Preußen, das bis ins Rheinland erweitert wurde, um Frankreich in Schach zu halten, und Österreich, das Russland abwehren und Italien überwachen sollte. Deutschland war so gesichert, konnte aber seinerseits niemanden bedrohen. England, in Straubs Sicht kaum noch gebraucht, monopolisierte die Meere und die liberale Moral. Vor allem dass Russland nicht aus Europa ausgeschlossen wurde, ist Straub wichtig – gegen das Aufgehen des alten Kontinents in einem atlantischen „Westen“ samt zugehöriger „Tyrannei der Werte“ bleibt der politisch inkorrekte Essayist skeptisch, durchaus mit Blick auf heutige Fragen. Die autonome Sphäre der alteuropäischen Diplomatie allerdings macht Straub edler als sie war: Denn die Vorgeschichte der „Pentarchie“ – Preußens räuberischer Aufstieg zur Großmacht und die polnischen Teilungen – vollzog sich in schweren Rechtsbrüchen.
Die Darstellung von Heinz Duchhardt, einem ausgewiesenen Kenner, ist kleinteiliger, dabei sehr unterhaltend. Der Leser wird nicht nur in die vielen großen und kleinen Sachfragen eingeführt – die Streitigkeiten um Polen und Sachsen, die den Kongress fast gesprengt hätten, die Probleme von Juden-Rechten, Sklaverei oder Buchhandel –, sondern auch in die Sozial- und Kulturgeschichte dieses europäischen Großereignisses. Eine Serie von Porträts stellt die männlichen Akteure vor, aber auch die Salonièren und Schauspielerinnen, die für Geselligkeit und Vergnügen auf dem Kongress sorgten, dessen Sacharbeiten überwiegend von Spezialisten in Kommissionen erledigt wurden.
Neben den direkten Verhandlungen sorgte ein florierendes Spitzelwesen für zügigen Informationsaustausch, auch unter Freunden. Die heimlichen Beobachter scheuten kräftige Worte nicht: „Er sieht aus wie ein Sagentier“, schrieb Metternichs Konfident über den hinkenden französischen Minister Talleyrand, „halb Mensch, halb Schlange (weil er die Beine so nachzieht), oder wie ein alter, lahmer, betrunkener Dorfschulmeister.“
So bewundernswert das Gemälde von Staatsklugheit ist, das die beiden konservativen Historiker zeichnen – die ritterliche Behandlung des geschlagenen Frankreich bleibt ein Ruhmestitel des Wiener Kongresses –, und so sehr wir gelernt haben, beim „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ zwischen Nation und Verfassung zu unterscheiden: Eine internationale Ordnung, die ein großes Volk mit alter Staatlichkeit wie die Polen einfach von der Landkarte verschwinden ließ, die Italien zum geografischen Begriff reduzierte und auf fremde Dynastien verteilte, bleibt nicht nur moralisch angreifbar.
Schon 1815 war deutlich, dass man sich das Nationale im nachrevolutionären Staatenverkehr nicht mehr einfach wegwünschen konnte, schon weil eine Hauptmacht der Pentarchie, nämlich Frankreich, sich als Nation konstituiert hatte. Der Begriff der „Legitimität“, der dagegen einen gemeinsamen Boden sichern sollte, blieb blass, eine Sache der Kanzleien.
Das Nationale wäre möglicherweise weniger giftig geworden, wenn man es als Faktor nicht nur defensiv behandelt hätte. Trotzdem bleibt wahr, was Eberhard Straub gegen kleindeutsche Fanatiker festhält: Der 1815 gegründete „Deutsche Bund“ war die beste Ordnung für Deutschland und seine Stellung in Europa, die auf lange Zeit denkbar war. Hätte dieses Konstrukt für eine moderne liberale Gesellschaft fit gemacht werden können? Das ist eine der interessanten Fragen, die der Kongress hinterlassen hat.
Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15. Verlag C. H. Beck (Beck Wissen), München 2013. 128 Seiten, 8,95 Euro.
Eberhard Straub : Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 255 Seiten, 21,95 Euro.
„Er sieht aus wie ein Fabelwesen“,
schrieb ein heimlicher Beobachter
über Talleyrand
Sie verhandelten die neue Ordnung des Kontinents: Die Delegierten des Wiener Kongresses auf einem zeitgenössischen Kupferstich.
Foto: getty images
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Ritterliche Behandlung des geschlagenen Gegners: Heinz Duchhardt und Eberhard Straub
sehen den Wiener Kongress als europäisches Modell
VON GUSTAV SEIBT
Der Wiener Kongress, der vor 200 Jahren den Umsturz der europäischen Staatenordnung reparierte, den die französischen Revolutionskriege und Napoleon bewirkt hatten, bleibt eines der klassischen Beispiele internationaler Politik. Als solches hat er immer auch die Praktiker der Diplomatie interessiert, was sich daran zeigt, dass jeweils am Ende von Erstem und Zweitem Weltkrieg ambitionierte Darstellungen vorgelegt wurden, als Anregungen für die Diplomatie. 1946 erschien ein Buch von Harold Nicolson, dem flamboyanten Briten, der schon 1919 in Versailles die monströse Behandlung mitnotiert hatte, die man den bedauernswerten Vertretern der deutschen Republik (und nicht etwa Exponenten des besiegten Kaiserreichs) zumutete. Der junge Henry Kissinger promovierte zum Wiener Kongress – der Ausgangspunkt seiner diplomatiehistorischen Standardwerke.
Die beiden Jubiläumsbücher von Eberhard Straub und Heinz Duchhardt kennen diese Rezeptionsgeschichte, machen aber etwas jeweils Eigenes und Neues. Straubs Buch ist eigentlich ein Essay zur europäischen Außenpolitik zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg, der mit breitem Pinsel und oft polemischen Antithesen – gegen das nationale Selbstbestimmungsrecht und die Moralisierung der internationalen Beziehungen – das Konzert der Großmächte im 19. Jahrhundert feiert. Die „Pentarchie“, das europäische Direktorium von Frankreich, Russland, Preußen, Österreich und England ordnete sich zu einem beruhigten Mobile des Ausgleichs um die strategische Mitte Deutschland.
Dieses blieb geteilt zwischen Preußen, das bis ins Rheinland erweitert wurde, um Frankreich in Schach zu halten, und Österreich, das Russland abwehren und Italien überwachen sollte. Deutschland war so gesichert, konnte aber seinerseits niemanden bedrohen. England, in Straubs Sicht kaum noch gebraucht, monopolisierte die Meere und die liberale Moral. Vor allem dass Russland nicht aus Europa ausgeschlossen wurde, ist Straub wichtig – gegen das Aufgehen des alten Kontinents in einem atlantischen „Westen“ samt zugehöriger „Tyrannei der Werte“ bleibt der politisch inkorrekte Essayist skeptisch, durchaus mit Blick auf heutige Fragen. Die autonome Sphäre der alteuropäischen Diplomatie allerdings macht Straub edler als sie war: Denn die Vorgeschichte der „Pentarchie“ – Preußens räuberischer Aufstieg zur Großmacht und die polnischen Teilungen – vollzog sich in schweren Rechtsbrüchen.
Die Darstellung von Heinz Duchhardt, einem ausgewiesenen Kenner, ist kleinteiliger, dabei sehr unterhaltend. Der Leser wird nicht nur in die vielen großen und kleinen Sachfragen eingeführt – die Streitigkeiten um Polen und Sachsen, die den Kongress fast gesprengt hätten, die Probleme von Juden-Rechten, Sklaverei oder Buchhandel –, sondern auch in die Sozial- und Kulturgeschichte dieses europäischen Großereignisses. Eine Serie von Porträts stellt die männlichen Akteure vor, aber auch die Salonièren und Schauspielerinnen, die für Geselligkeit und Vergnügen auf dem Kongress sorgten, dessen Sacharbeiten überwiegend von Spezialisten in Kommissionen erledigt wurden.
Neben den direkten Verhandlungen sorgte ein florierendes Spitzelwesen für zügigen Informationsaustausch, auch unter Freunden. Die heimlichen Beobachter scheuten kräftige Worte nicht: „Er sieht aus wie ein Sagentier“, schrieb Metternichs Konfident über den hinkenden französischen Minister Talleyrand, „halb Mensch, halb Schlange (weil er die Beine so nachzieht), oder wie ein alter, lahmer, betrunkener Dorfschulmeister.“
So bewundernswert das Gemälde von Staatsklugheit ist, das die beiden konservativen Historiker zeichnen – die ritterliche Behandlung des geschlagenen Frankreich bleibt ein Ruhmestitel des Wiener Kongresses –, und so sehr wir gelernt haben, beim „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ zwischen Nation und Verfassung zu unterscheiden: Eine internationale Ordnung, die ein großes Volk mit alter Staatlichkeit wie die Polen einfach von der Landkarte verschwinden ließ, die Italien zum geografischen Begriff reduzierte und auf fremde Dynastien verteilte, bleibt nicht nur moralisch angreifbar.
Schon 1815 war deutlich, dass man sich das Nationale im nachrevolutionären Staatenverkehr nicht mehr einfach wegwünschen konnte, schon weil eine Hauptmacht der Pentarchie, nämlich Frankreich, sich als Nation konstituiert hatte. Der Begriff der „Legitimität“, der dagegen einen gemeinsamen Boden sichern sollte, blieb blass, eine Sache der Kanzleien.
Das Nationale wäre möglicherweise weniger giftig geworden, wenn man es als Faktor nicht nur defensiv behandelt hätte. Trotzdem bleibt wahr, was Eberhard Straub gegen kleindeutsche Fanatiker festhält: Der 1815 gegründete „Deutsche Bund“ war die beste Ordnung für Deutschland und seine Stellung in Europa, die auf lange Zeit denkbar war. Hätte dieses Konstrukt für eine moderne liberale Gesellschaft fit gemacht werden können? Das ist eine der interessanten Fragen, die der Kongress hinterlassen hat.
Heinz Duchhardt: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15. Verlag C. H. Beck (Beck Wissen), München 2013. 128 Seiten, 8,95 Euro.
Eberhard Straub : Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014. 255 Seiten, 21,95 Euro.
„Er sieht aus wie ein Fabelwesen“,
schrieb ein heimlicher Beobachter
über Talleyrand
Sie verhandelten die neue Ordnung des Kontinents: Die Delegierten des Wiener Kongresses auf einem zeitgenössischen Kupferstich.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Weniger ein klassisches Geschichtsbuch als ein Essay zur europäischen Außenpolitik zwischen der Französischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg ist dieser Band von Eberhard Straub, erklärt Rezensent Gustav Seibt, der damit auf seine Kosten gekommen zu sein scheint. Straub feiert die ausgleichende, stabilisierende Wirkung des Wiener Kongresses und schießt dabei scharf gegen alle Versuche, nationale Selbstbestimmungsrechte gegen die Imperien durchzusetzen und gegen die "Moralisierung der internationalen Beziehungen", so Seibt, der dem "politisch inkorrekten" Autor seine Thesen nicht übelnimmt, auch wenn er die Diplomaten der Großmächte bei Straub etwas schöngezeichnet findet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Eberhard Straub hat einen exzellenten Essay geschrieben über den Wiener Kongress, über "Rauschende Bälle, Intrigen, Affären und Diplomatie" (Einbandtext) mit einer dezidierten, politischen Botschaft aus der Welt von Gestern für unser Heute.« Manfred Hanisch, Sehepunkte.de, Juli 2015 Manfred Hanisch Sehepunkte 20150701