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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mitteilungen aus dem Berner Jenseits: Ein dunkel rumpelnder Familienroman der Schweizerin Silvia Tschui
Tief, schon deutlich in der zweiten Hälfte von Silvia Tschuis Zweitling "Der Wod", findet man sich unversehens in einem Berner Atelier wieder, in dem eine ungenannt bleibende Frau damit beschäftigt ist, Linien zu verflechten, hellblaue, braungrüne, rote. Natürlich handelt es sich um eine Norne, um eine Fiktion des Erzählens, die Handlungsstränge, Lebensstränge ordnet, trennt und zusammenführt - irgendwo außerhalb der Geschichte, "an einem anderen Ort und in einer anderen Zeit". Tschuis Roman, eine vier Generationen umspannende deutsch-schweizerische Familiensaga, wird von diesem Berner Jenseits her ersprochen und erschrieben. Antrieb ist ihm das Geheimnis oder, um es präzise zu fassen: das Okkulte. Die Frau mit den rotbraunen Haaren glaubt man an dieser Stelle schon zu kennen: Recht am Anfang des Erzählstroms taucht sie auf - eine Hohepriesterin des Templerordens, die dem gerade frisch ins Reichspropagandaministerium berufenen und in Trance gefallenen Julius bei einem Initiationsritual die bunten Bänder durch die Brust zieht, über die fortan Schicksal geschrieben wird.
Die Mesalliance von Okkultismus und Erzählen gibt zu denken, sie ist kein Zufall, sondern ein Programm, das Tschui bereits in ihrem Debüt "Jakobs Ross" (2014) erprobt hatte. Wenn "Der Wod" die dunklen Künste abermals fest in seine poetische Matrix verwebt, dann ist es ihm nicht um Effekthascherei zu tun, sondern um ein Versprechen: Historischer Sinn wird dir gegeben - der Preis dafür ist das Blutopfer, der "scharlachrote Schatten", in dem sich Lust und Tod verbinden und der sich fortan über Julius' Nachkommenschaft legen wird.
In einem an szenisch verdichteten Episoden nicht gerade armen Text gerät solch ein Schatten leicht aus dem Blick, ließe sich "Der Wod" doch vermeintlich auch ohne ihn lesen und verstehen. Was geschieht: Julius zeugt mit zwei Frauen drei Kinder. Das älteste, Lilli, trägt die Genealogie und Geographie des Romans: Ihr Schicksal führt sie von der Nordsee über das Berner Oberland nach Zürich, wo sie, in skrupelloser Wandlung, sowohl ihre Tochter als auch ihre Enkelin um die leiblichen Väter bringen wird, sexuellen Missbrauch dabei strategisch unterstellend wie duldend. Das Brüderpaar Nis und Karl hingegen arbeitet sich an der Imago des Vaters ab: Nis nimmt schon früh dessen Stelle ein, erweist sich in den letzten Kriegstagen als ein Meister der Tarnung und Akquise und macht folgerichtig Karriere beim bundesdeutschen Geheimdienst. Der Jüngste, Karl, verwaltet hingegen den Schrecken: Er ist es, dem die Geschichte vom "Wod" und seiner wilden Jagd erzählt und damit ein wirkungsmächtiges Deutungsmuster für diesen Familienroman mitgegeben wird. Schon als Knabe, vom älteren Bruder verachtet und terrorisiert, erkennt Karl Fluch und Verwerfung seines Geschlechts, Verbrechen und Strafe, Heimsuchung und Unheilszeichen. Wer das Wüetisheer einmal gesehen hat, der weiß um den Zusammenhang von Lust und Gewalt (der Karl einmal in der Leiche einer geschändeten Frau ansichtig wird) und sucht Schutz. Dieser Mensch wird ins Kloster gehen und später in kirchlichen Diensten sich in der Drogenhilfe engagieren. Seine Caritas gilt denjenigen, die auf dem Mittelweg liegengeblieben sind, dort, wo sie der Wod jederzeit zu sich holen kann.
In der Verschränkung dieser drei Lebenslinien durchpflügt der Roman ein gutes Jahrhundert Kulturgeschichte: Entnazifizierung und Hells Angels, Mauer und Globuskrawalle, Heroin und Bolschoi-Ballett. Zwischen Burleske und Brutalität gelingt es Tschui dabei, eine Vielzahl komplexer Figuren immer wieder momenthaft ans Licht zu ziehen: Zuvorderst sicher Lillis Tochter Sünje, die von der Familienbande systematisch zugrunde gerichtet wird und als Psychiatriefall endet, nicht minder faszinierend aber auch Lillis Schwägerin Marie-Theres, ein verschlagenes Geschöpf der Schweizer Uhrenindustrie, das nach und nach zum eigentlichen Gewissen des Romans avanciert. Dessen ungeachtet besitzt "Der Wod" weder heimliche noch echte Helden und Heldinnen, denn die Souveränität dieses Textes liegt allein bei jenem dunklen Zentrum, das seine Figuren auftauchen, in Konstellationen treten und wieder verschwinden lässt. Das Leben der Menschen gerät zum Tarot. In Tschuis Legeordnung erscheinen manche Figuren, Symbole und Farben (etwa das Gold, das nur so durch die Zeiten fließt) öfter und manche nur einmal, mal an dieser oder an jener Position, manche als Boten der Zukunft oder als Zeugen der Vergangenheit, verbunden allesamt im steten Wechsel der freien indirekten Rede.
Wer aber schaut ihnen hier über die Schulter? Welcher Weissagung dient ihr Spiel, und wem wird diese zuteil? Am Ende findet der Roman ins Berner Atelier zurück, zu Charlotte, der Urenkelin von Julius. Sie, eine ferne Spiegelung der Hohepriesterin, zieht die farbigen Linien erneut, bemüht sich, das Geschick ihrer Vorfahren zu entwirren - nur um am Ende "mit der Unmöglichkeit von Familie, mit der Unmöglichkeit von Erinnerung, mit der totalen Unmöglichkeit einer Erzählung" konfrontiert zu sein. Die Kapitulation vor dem Unmöglichen, vor den "Lügen", aus denen Familie sich hier zusammensetzt, wird scheinbar kurzerhand zum Buch verwandelt, das Knäuel von "purpurrot gekleideten Brüdern und schwarz gekleideten Schwestern" samt dem Lachen des Wods einfach "zwischen zwei Buchdeckel" gelegt.
Man ist geneigt, diesen etwas brachialen Schluss als Bekenntnis zur Entgenealogisierung der eigenen Existenz zu lesen, wie es sich durchaus als eine Tendenz der jüngsten Literatur abzeichnet. Ahnen, Erbe, Blutlinien, Omen - das bliebe alles nur wahnhafte Inszenierung, wie auch die geopferte Jungfrau im Templerritual nur eine von Kunstblut besudelte Schauspielerin war. Indessen hat Silvia Tschui nun bereits zum zweiten Mal ihr Publikum in einen erzählmagischen Pakt miteingeschlossen. Von jenen, die über 270 Seiten die dunkle Macht der Familie in sich eingesogen haben, die - wie Karl - den Wod und sein Heer bezeugen können, mag dieser Pakt vielleicht verdammt werden: Lösen kann man ihn aber nicht mehr. Dazu hat dieser Roman viel zu viel Kraft. PHILIPP THEISOHN
Silvia Tschui: "Der Wod". Roman.
Rowohlt Hundert Augen, Hamburg 2021. 272 S., geb., 22,- Euro.
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