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Nicht jugendfrei: Neue Erzählungen von Julian Barnes
Wann genau beginnt eigentlich das Alter, und woran stellen wir es fest? Als Ludwig XIV. eine neue Ehe schloß, nannte Madame de Sévigné ihn einen Greis - da war der Sonnenkönig 47 Jahre alt. In "Der Obstbaumkäfig" von Julian Barnes macht der Erzähler die Entdeckung, daß sein einundachtzigjähriger Vater seit langem eine Beziehung zu einer sechzehn Jahre jüngeren Frau pflegt. Was den Sohn aber beschäftigt, ist die Frage, wie sich Leidenschaft im Alter überhaupt gestaltet: "Wie komme ich zu der Annahme, daß mit den Genitalien auch das Herz den Betrieb einstellt? Weil wir das Alter als eine Zeit der heiteren Gelassenheit sehen wollen - sehen müssen? Inzwischen glaube ich, daß das eine der großen Verschwörungen der Jugend ist. Nicht nur der Jugend, auch der mittleren Jahre, und das geht so weiter bis zu dem Moment, in dem wir zugeben, selbst alt zu sein." Dieser Moment ist gewiß leichter für andere zu beschreiben als für sich persönlich zu bestimmen. Barnes kreist ihn spielerisch ein.
In elf unterschiedlichen Szenarien nähert sich der Autor dem Thema, mal auf die komische oder skurrile Wirkung setzend, manchmal auf reichlich vordergründige Pointen zielend, zuweilen aber auch auf so dezente und anrührende Art, daß diese Erzählungen vom Altern selbst heitere Gelassenheit, gepaart mit leidenschaftlicher Intensität, verströmen. Wozu immer sich die Jugend oder die mittleren Jahre auch verschwören mögen: Wer dieses Buch in seinen besten Lebensjahren liest, erfährt, daß ihnen das Alter an Wahn und Witz und Lebenslust in nichts nachzustehen hat.
Da ist zum Beispiel jener allseits respektierte Schriftsteller im zaristischen Rußland, der mit fortgeschrittener Lebensreife plötzlich am eigenen Leib erfahren muß, was er einst in jungen Jahren altklug vom Wesen der Liebe niederschrieb. Jetzt, da mit einem Mal sein frühes Bühnenstück zur Aufführung gelangt, entfesselt eine junge Schauspielerin in ihm ganz ungehörige Gefühle und stürzt den ehrbaren Intellektuellen in schmerzhafte Verlegenheiten, die er längst hinter sich zu haben glaubte. Skizzenhaft, fast flüchtig, verfährt Barnes in der Erzählung "Aufleben" und gibt nur ganz diskrete Blicke auf diese biographischen Verwicklungen Iwan Turgenjews frei. Aber wie er hier das große Thema auf engstem Raum entfaltet und in all seinen traurig-komischen Zügen gekonnt zwischen Tschechow und Woody Allen moduliert, ist so souverän wie herzbewegend. Auf solcher Höhe allerdings bewegen sich nur wenige der Geschichten, denn insgesamt erhebt der Band das Disparate zum Programm.
Barnes gehört zu den nicht eben zahlreichen britischen Autoren, die sich die Bezeichnung "postmodern" so bereitwillig wie zutreffend nachsagen lassen, vielleicht weil dies zu seinen französischen Vorlieben zählen mag. Allerdings kommen die selbstreflexiven Gesten des Erzählens bei ihm eher beiläufig ins Spiel. Seinen besten Werken gelingt es nämlich, die vorsätzliche Weigerung, eine große Geschichte zu erzählen, so amüsant zu übermitteln, daß die Girlande aus historischen Vignetten, die er ersatzweise bietet, erhellender und fesselnder wirkt als jede Universalgeschichte.
Nun wählt Barnes den umgekehrten Weg. Zur Bearbeitung des universellen Themas präsentiert er eine bunte Folge ganz unterschiedlicher Formate: kleinste Familiendramen, dramatische Monologe, komische Sketche, einen Briefroman en miniature, Kalendergeschichten, Künstlerdramen - alles in knapper erzählerischer Form gehalten. Der inhaltliche Bogen spannt sich von einer "Kurzen Geschichte des Haareschneidens", den vielsagenden Gedankenprotokollen anläßlich dreier Friseurbesuche in verschiedenen Lebensaltern, über die Lebenslügen schwedischer Holzfäller im neunzehnten Jahrhundert bis hin zu den verlorenen Hoffnungen eines alten britischen Kriegskameraden, der beim jährlichen London-Ausflug seine Lieblingshure nicht mehr antrifft. Die Vielzahl der Verfahren und Tonlagen ist Programm. Allerdings leistet Barnes sich dabei auch einige grobe, eher karikaturistische Effekte.
Die Leichtigkeit, mit der dieser Autor derlei Kabinettstücke verfertigen kann, scheint ihn manchmal anzustiften, seine Figuren wie von oben herab anzusehen. Das tut den Erzählungen nicht gut. Seinen besten Texten dagegen gelingt es, die jeweiligen Lebenskrisen mit Distanz, jedoch auf gleicher Augenhöhe mit den Betroffenen zu betrachten und zu beschreiben. Wenn etwa in "Appetit" eine jüngere Frau erzählt, wie sie zu ihrem zunehmend verwirrten, bettlägerigen, dabei koboldhaft lüsternen Ehemann nur noch Zugang findet, indem sie ihm aus alten Kochbüchern vorliest, werden Schmerz und Lust gleichermaßen sublimiert und in eine kulinarische Geheimsprache übertragen. So entstehen Elegien, die ohne Larmoyanz von der Gewißheit künden, daß beim Altern wie beim Kochen allein die Reife zählt.
Julian Barnes steht mittlerweile selbst im sechzigsten Lebensjahr. "Der Zitronentisch", sein zehntes Buch, gehört wohl nicht zu seinen stärksten. Doch solange er die Vielfalt seiner Einfälle in so weltweisen Geschichten bändigen kann, verspricht sein Werk noch reiche Früchte.
Julian Barnes: "Der Zitronentisch". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 255 S., geb., 18,90 [Euro].
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"Alle Erzählungen sind von photographischer Klarheit und einem großartigen Realismus bei der Darstellung extremer Gefühle." The Observer
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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