»Erzählungen von großer Meisterschaft, mit Witz, mit Tempo, mit Frechheit« Elke Heidenreich Julian Barnes wird immer wieder gepriesen für seine stilistische Brillanz, für die scharfe Beobachtungsgabe, die Ironie und den oft schwarzen Humor. Der Erzählungsband mit dem geheimnisvollen Titel Der Zitronentisch zeigt Julian Barnes in seiner ganzen Meisterschaft. Jede Erzählung steht für sich, doch sind alle durch das Thema miteinander verbunden - das Altern. Ob die Erzählungen nun im 19. Jahrhundert oder in unserer Zeit spielen, die Menschen nähern sich dem Ende ihres Lebens, dem Ende, das sich in besonderen Erfahrungen und oft irrwitzigen Situationen ankündigt. Sie gehen damit gelassen um oder aufbegehrend, resigniert oder bitter. Die Zitrone, erfährt der Leser in der letzten Erzählung Stille, ist für die Chinesen das Symbol des Todes. In dieser Erzählung über den ausgebrannten Komponisten Sibelius treffen sich die alten Männer an einem (nicht Stamm-, sondern) Zitronentisch, um über ihr Ende zu sprechen: »Kopf hoch! Der Tod ist nicht mehr fern.« Julian Barnes erhielt 2004 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Der Preis wurde im August 2005 verliehen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.08.2005Süßer Vogel Rente
Nicht jugendfrei: Neue Erzählungen von Julian Barnes
Wann genau beginnt eigentlich das Alter, und woran stellen wir es fest? Als Ludwig XIV. eine neue Ehe schloß, nannte Madame de Sévigné ihn einen Greis - da war der Sonnenkönig 47 Jahre alt. In "Der Obstbaumkäfig" von Julian Barnes macht der Erzähler die Entdeckung, daß sein einundachtzigjähriger Vater seit langem eine Beziehung zu einer sechzehn Jahre jüngeren Frau pflegt. Was den Sohn aber beschäftigt, ist die Frage, wie sich Leidenschaft im Alter überhaupt gestaltet: "Wie komme ich zu der Annahme, daß mit den Genitalien auch das Herz den Betrieb einstellt? Weil wir das Alter als eine Zeit der heiteren Gelassenheit sehen wollen - sehen müssen? Inzwischen glaube ich, daß das eine der großen Verschwörungen der Jugend ist. Nicht nur der Jugend, auch der mittleren Jahre, und das geht so weiter bis zu dem Moment, in dem wir zugeben, selbst alt zu sein." Dieser Moment ist gewiß leichter für andere zu beschreiben als für sich persönlich zu bestimmen. Barnes kreist ihn spielerisch ein.
In elf unterschiedlichen Szenarien nähert sich der Autor dem Thema, mal auf die komische oder skurrile Wirkung setzend, manchmal auf reichlich vordergründige Pointen zielend, zuweilen aber auch auf so dezente und anrührende Art, daß diese Erzählungen vom Altern selbst heitere Gelassenheit, gepaart mit leidenschaftlicher Intensität, verströmen. Wozu immer sich die Jugend oder die mittleren Jahre auch verschwören mögen: Wer dieses Buch in seinen besten Lebensjahren liest, erfährt, daß ihnen das Alter an Wahn und Witz und Lebenslust in nichts nachzustehen hat.
Da ist zum Beispiel jener allseits respektierte Schriftsteller im zaristischen Rußland, der mit fortgeschrittener Lebensreife plötzlich am eigenen Leib erfahren muß, was er einst in jungen Jahren altklug vom Wesen der Liebe niederschrieb. Jetzt, da mit einem Mal sein frühes Bühnenstück zur Aufführung gelangt, entfesselt eine junge Schauspielerin in ihm ganz ungehörige Gefühle und stürzt den ehrbaren Intellektuellen in schmerzhafte Verlegenheiten, die er längst hinter sich zu haben glaubte. Skizzenhaft, fast flüchtig, verfährt Barnes in der Erzählung "Aufleben" und gibt nur ganz diskrete Blicke auf diese biographischen Verwicklungen Iwan Turgenjews frei. Aber wie er hier das große Thema auf engstem Raum entfaltet und in all seinen traurig-komischen Zügen gekonnt zwischen Tschechow und Woody Allen moduliert, ist so souverän wie herzbewegend. Auf solcher Höhe allerdings bewegen sich nur wenige der Geschichten, denn insgesamt erhebt der Band das Disparate zum Programm.
Barnes gehört zu den nicht eben zahlreichen britischen Autoren, die sich die Bezeichnung "postmodern" so bereitwillig wie zutreffend nachsagen lassen, vielleicht weil dies zu seinen französischen Vorlieben zählen mag. Allerdings kommen die selbstreflexiven Gesten des Erzählens bei ihm eher beiläufig ins Spiel. Seinen besten Werken gelingt es nämlich, die vorsätzliche Weigerung, eine große Geschichte zu erzählen, so amüsant zu übermitteln, daß die Girlande aus historischen Vignetten, die er ersatzweise bietet, erhellender und fesselnder wirkt als jede Universalgeschichte.
Nun wählt Barnes den umgekehrten Weg. Zur Bearbeitung des universellen Themas präsentiert er eine bunte Folge ganz unterschiedlicher Formate: kleinste Familiendramen, dramatische Monologe, komische Sketche, einen Briefroman en miniature, Kalendergeschichten, Künstlerdramen - alles in knapper erzählerischer Form gehalten. Der inhaltliche Bogen spannt sich von einer "Kurzen Geschichte des Haareschneidens", den vielsagenden Gedankenprotokollen anläßlich dreier Friseurbesuche in verschiedenen Lebensaltern, über die Lebenslügen schwedischer Holzfäller im neunzehnten Jahrhundert bis hin zu den verlorenen Hoffnungen eines alten britischen Kriegskameraden, der beim jährlichen London-Ausflug seine Lieblingshure nicht mehr antrifft. Die Vielzahl der Verfahren und Tonlagen ist Programm. Allerdings leistet Barnes sich dabei auch einige grobe, eher karikaturistische Effekte.
Die Leichtigkeit, mit der dieser Autor derlei Kabinettstücke verfertigen kann, scheint ihn manchmal anzustiften, seine Figuren wie von oben herab anzusehen. Das tut den Erzählungen nicht gut. Seinen besten Texten dagegen gelingt es, die jeweiligen Lebenskrisen mit Distanz, jedoch auf gleicher Augenhöhe mit den Betroffenen zu betrachten und zu beschreiben. Wenn etwa in "Appetit" eine jüngere Frau erzählt, wie sie zu ihrem zunehmend verwirrten, bettlägerigen, dabei koboldhaft lüsternen Ehemann nur noch Zugang findet, indem sie ihm aus alten Kochbüchern vorliest, werden Schmerz und Lust gleichermaßen sublimiert und in eine kulinarische Geheimsprache übertragen. So entstehen Elegien, die ohne Larmoyanz von der Gewißheit künden, daß beim Altern wie beim Kochen allein die Reife zählt.
Julian Barnes steht mittlerweile selbst im sechzigsten Lebensjahr. "Der Zitronentisch", sein zehntes Buch, gehört wohl nicht zu seinen stärksten. Doch solange er die Vielfalt seiner Einfälle in so weltweisen Geschichten bändigen kann, verspricht sein Werk noch reiche Früchte.
Julian Barnes: "Der Zitronentisch". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 255 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nicht jugendfrei: Neue Erzählungen von Julian Barnes
Wann genau beginnt eigentlich das Alter, und woran stellen wir es fest? Als Ludwig XIV. eine neue Ehe schloß, nannte Madame de Sévigné ihn einen Greis - da war der Sonnenkönig 47 Jahre alt. In "Der Obstbaumkäfig" von Julian Barnes macht der Erzähler die Entdeckung, daß sein einundachtzigjähriger Vater seit langem eine Beziehung zu einer sechzehn Jahre jüngeren Frau pflegt. Was den Sohn aber beschäftigt, ist die Frage, wie sich Leidenschaft im Alter überhaupt gestaltet: "Wie komme ich zu der Annahme, daß mit den Genitalien auch das Herz den Betrieb einstellt? Weil wir das Alter als eine Zeit der heiteren Gelassenheit sehen wollen - sehen müssen? Inzwischen glaube ich, daß das eine der großen Verschwörungen der Jugend ist. Nicht nur der Jugend, auch der mittleren Jahre, und das geht so weiter bis zu dem Moment, in dem wir zugeben, selbst alt zu sein." Dieser Moment ist gewiß leichter für andere zu beschreiben als für sich persönlich zu bestimmen. Barnes kreist ihn spielerisch ein.
In elf unterschiedlichen Szenarien nähert sich der Autor dem Thema, mal auf die komische oder skurrile Wirkung setzend, manchmal auf reichlich vordergründige Pointen zielend, zuweilen aber auch auf so dezente und anrührende Art, daß diese Erzählungen vom Altern selbst heitere Gelassenheit, gepaart mit leidenschaftlicher Intensität, verströmen. Wozu immer sich die Jugend oder die mittleren Jahre auch verschwören mögen: Wer dieses Buch in seinen besten Lebensjahren liest, erfährt, daß ihnen das Alter an Wahn und Witz und Lebenslust in nichts nachzustehen hat.
Da ist zum Beispiel jener allseits respektierte Schriftsteller im zaristischen Rußland, der mit fortgeschrittener Lebensreife plötzlich am eigenen Leib erfahren muß, was er einst in jungen Jahren altklug vom Wesen der Liebe niederschrieb. Jetzt, da mit einem Mal sein frühes Bühnenstück zur Aufführung gelangt, entfesselt eine junge Schauspielerin in ihm ganz ungehörige Gefühle und stürzt den ehrbaren Intellektuellen in schmerzhafte Verlegenheiten, die er längst hinter sich zu haben glaubte. Skizzenhaft, fast flüchtig, verfährt Barnes in der Erzählung "Aufleben" und gibt nur ganz diskrete Blicke auf diese biographischen Verwicklungen Iwan Turgenjews frei. Aber wie er hier das große Thema auf engstem Raum entfaltet und in all seinen traurig-komischen Zügen gekonnt zwischen Tschechow und Woody Allen moduliert, ist so souverän wie herzbewegend. Auf solcher Höhe allerdings bewegen sich nur wenige der Geschichten, denn insgesamt erhebt der Band das Disparate zum Programm.
Barnes gehört zu den nicht eben zahlreichen britischen Autoren, die sich die Bezeichnung "postmodern" so bereitwillig wie zutreffend nachsagen lassen, vielleicht weil dies zu seinen französischen Vorlieben zählen mag. Allerdings kommen die selbstreflexiven Gesten des Erzählens bei ihm eher beiläufig ins Spiel. Seinen besten Werken gelingt es nämlich, die vorsätzliche Weigerung, eine große Geschichte zu erzählen, so amüsant zu übermitteln, daß die Girlande aus historischen Vignetten, die er ersatzweise bietet, erhellender und fesselnder wirkt als jede Universalgeschichte.
Nun wählt Barnes den umgekehrten Weg. Zur Bearbeitung des universellen Themas präsentiert er eine bunte Folge ganz unterschiedlicher Formate: kleinste Familiendramen, dramatische Monologe, komische Sketche, einen Briefroman en miniature, Kalendergeschichten, Künstlerdramen - alles in knapper erzählerischer Form gehalten. Der inhaltliche Bogen spannt sich von einer "Kurzen Geschichte des Haareschneidens", den vielsagenden Gedankenprotokollen anläßlich dreier Friseurbesuche in verschiedenen Lebensaltern, über die Lebenslügen schwedischer Holzfäller im neunzehnten Jahrhundert bis hin zu den verlorenen Hoffnungen eines alten britischen Kriegskameraden, der beim jährlichen London-Ausflug seine Lieblingshure nicht mehr antrifft. Die Vielzahl der Verfahren und Tonlagen ist Programm. Allerdings leistet Barnes sich dabei auch einige grobe, eher karikaturistische Effekte.
Die Leichtigkeit, mit der dieser Autor derlei Kabinettstücke verfertigen kann, scheint ihn manchmal anzustiften, seine Figuren wie von oben herab anzusehen. Das tut den Erzählungen nicht gut. Seinen besten Texten dagegen gelingt es, die jeweiligen Lebenskrisen mit Distanz, jedoch auf gleicher Augenhöhe mit den Betroffenen zu betrachten und zu beschreiben. Wenn etwa in "Appetit" eine jüngere Frau erzählt, wie sie zu ihrem zunehmend verwirrten, bettlägerigen, dabei koboldhaft lüsternen Ehemann nur noch Zugang findet, indem sie ihm aus alten Kochbüchern vorliest, werden Schmerz und Lust gleichermaßen sublimiert und in eine kulinarische Geheimsprache übertragen. So entstehen Elegien, die ohne Larmoyanz von der Gewißheit künden, daß beim Altern wie beim Kochen allein die Reife zählt.
Julian Barnes steht mittlerweile selbst im sechzigsten Lebensjahr. "Der Zitronentisch", sein zehntes Buch, gehört wohl nicht zu seinen stärksten. Doch solange er die Vielfalt seiner Einfälle in so weltweisen Geschichten bändigen kann, verspricht sein Werk noch reiche Früchte.
Julian Barnes: "Der Zitronentisch". Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 255 S., geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Trotz des düsteren Themas - bezaubernd und merkwürdig erheiternd." The New Statesman
"Alle Erzählungen sind von photographischer Klarheit und einem großartigen Realismus bei der Darstellung extremer Gefühle." The Observer
"Alle Erzählungen sind von photographischer Klarheit und einem großartigen Realismus bei der Darstellung extremer Gefühle." The Observer
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.08.2005Die Zeitverfluggeschwindigkeit
In seinen Erzählungen über das Alter baut Julian Barnes Kulissen der Lebensweisheit
„Das Alter”, sagt der Baccalaureus im Faust II, sei „ein kaltes Fieber. Hat einer dreißig Jahr vorüber, so ist er schon so gut wie tot.” Und er fügt zuspitzend hinzu: „Am besten wärs, euch zeitig totzuschlagen.” Das ist, in echt, natürlich keine Lösung des Generationenkonflikts. Solch drastische Maßnahmen waren zu Goethes Zeiten und noch bis vor Kurzem auch gar nicht nötig. Stets kamen mehr junge Menschen nach, als es Alte gab. Die Jugend behielt die Oberhand und prägte die Lebenswirklichkeit.
Das hat sich geändert. Im Jahr 2040, sagen Demographen voraus, wird die Bevölkerungspyramide erstmals auf dem Kopf stehen. Schon heute dominieren nicht mehr die jungen, sondern die mittelalten und alten Menschen das Straßenbild. Altwerden besetzt einen größeren Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit Deutschlands als Jungsein. Zugleich wird das Alter durch den medizinischen Fortschritt zu einer immer länger anhaltenden Lebensphase.
Was Alter jenseits von Rentenformel, Pflegeversicherung und Gesundheitskompromiss meinen kann, dazu braucht es prognostische Einbildungskraft. Bücher wie Frank Schirrmachers „Methusalem-Komplott” leben davon, sich die Konsequenzen der Überalterung auszumalen - und zugleich Alter nicht nur als Bedrohung, sondern auch als neuen Gewinn zu begreifen. Ein bisschen schreibt man sich mit solchen Büchern aber auch das Grauen vor dem eigenen Altern weg.
Genau das war einmal ein sehr ehrwürdiges literarisches Genre und es hieß ars moriendi. In ihr ging es nicht eigentlich um Sterbetechniken als vielmehr um die innere Vorbereitung, vom Leben Abschied zu nehmen. War man mit sich selbst im Reinen und hatte sein Haus bestellt, dann konnte man den Lebensabend versöhnt genießen, weil der Tod seinen Stachel verloren hatte.
Wie müsste heute eine zeitgemäße ars moriendi aussehen? Der englische Schriftsteller Julian Barnes, der nächste Woche den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur verliehen bekommt, ist Jahrgang 1946. Damit ist man noch nicht alt, aber natürlich in einem Alter, in dem die Frage des Altwerdens sich nicht mehr so leicht zur Seite schieben lässt. Die Erzählungen, die Julian Barnes jetzt in seinem Erzählungsband „Der Zitronentisch” versammelt hat, sind denn auch häufig aus der Perspektive eines jüngeren Menschen geschrieben, der am Beispiel seiner Eltern staunend und verstört zugleich zu verstehen versucht, was Altwerden heißt. Und manchmal hat man den Eindruck, es seien Antizipationen eines Lebensabschnitts, zu dem sich der Erzähler literarisch Mut zu machen versucht. Kann das funktionieren?
In der Erzählung „Der Obstbaumkäfig” entdeckt der Erzähler zu Beginn im Badezimmerschränkchen seiner Eltern eine Tube mit empfängnisverhütendem Gel. Er ist irritiert, auch abgestoßen. In dem Alter? Damals waren die Eltern Mitte sechzig. Fünfzehn Jahre später muss er erfahren, dass sein Vater seine Mutter verlassen will, um mit Elsie zusammen zu leben. Alarmiert fragt der Sohn: „Dad, es geht mich ja nichts an und so weiter, aber ist die Sache . . . körperlich?” Als der Sohn Elsie besucht, erklärt sie, für Moralpredigten sei sie zu alt. Natürlich will der Sohn kein Spießer sein. Aber wenn er die hysterischen Verhaltensweisen aller drei Beteiligten anschaut, dann muss er auch sehen, dass die Gleichung „Sexuelle Aktivität = erfüllter Lebensabend” so einfach nicht aufgeht.
Alles nur Entsagung?
Das Gegenstück wird in „Die Geschichte von Mats Israelson” erzählt. Sie spielt im 19. Jahrhundert. Da war das Prinzip Entsagung noch ein positiver Wert. Ein Ehemann liegt im Sterben. Über Jahrzehnte liebte er die Frau des Apothekers. Sein Liebe wurde unausgesprochen, aber spürbar erwidert. Doch beide versagten sich ihr Begehren - im Interesse der jeweiligen Familie und der Kinder. Nun liegt der Mann im Sterben und bitte die geliebte Frau an sein Krankenbett. Die nicht ausgelebte Liebe soll nun ausgesprochen und so wenigstens symbolisch angenommen werden. Doch es fällt ein falsches Wort - und die Frau verlässt empört das Krankenhaus. Auf einen Schlag ist - für beide - die lebenssinnstiftende Passion ihrer ganzen Existenz vernichtet. Nichts bleibt, nichts gilt mehr, ihre Leben sind plötzlich ein einziger Irrtum. - Das kann es auch nicht sein.
Die beste Geschichte des Bandes erzählt von Iwan Turgenjews letzter Liebe. Sie ist aus der Perspektive der Gegenwart geschrieben, und der Erzähler fragt sich die ganze Zeit entnervt, warum Turgenjew der schönen jungen Schauspielerin immer nur seine Liebe gesteht und hitzig ihre Hände küsst, es aber nie zum Sex kommt. Turgenjew notiert: „Ab dem Alter von vierzig Jahren lässt sich das Grundprinzip des Lebens mit einem einzigen Begriff zusammenfassen: Entsagung.” Warum das aber so sein soll, dafür weiß Turgenjew auch keinen rechten Grund anzugeben. Diese ungleichen Liebenden schmücken in Briefen ihre Leidenschaft stürmisch aus und phantasieren gemeinsame Reisen, die sie aber nie ausführen. Was sie aber haben, ist „die Narrheit der Erwartung, die Erbärmlichkeit des Scheiterns, das Winselns der Reue und die törichte Zärtlichkeit des Erinnerns.” Also gewissermaßen der Liebe bestes Teil: Ein intensives Gefühl.
Die ars moriendi ist im Kern eine tautologische Technik. Ihr Prinzip lautet: Die einzige Möglichkeit, das Vergehen der Zeit zu akzeptieren, ist, zu akzeptieren, dass die Zeit vergeht. Davon erzählen Barnes Geschichten. Ihr Blick auf die Menschen ist zärtlich, aber nicht verklärend. Als große Literatur überzeugen sie gleichwohl nicht. Das liegt daran, dass Barnes immer eine kleine, mal verschmitzte, mal melancholische Erkenntnis auf Lager hat. Zum Beispiel, dass man im Alter zusehends störrischer, verbissener und skurriler wird. Dafür entfaltet er in „Wachdienst” ein langatmiges Set, in dem ein Liebhaber klassischer Musik immer hysterischer auf die Huster während der Konzerte reagiert und sich vor lauter Ärger und Racheplänen gegen die achtlosen Störenfriede nicht mehr an der Musik erfreuen kann. Man spürt in vielen dieser Erzählkonstellationen vor allem den Versuch, bestimmte Einsichten ins Leben anschaulich zu illustrieren. Deshalb wirken die Kulissen, die Barnes liebevoll errichtet ausmalt, wie Dekorationen einer nur mitteloriginellen Lebensweisheit.
IJOMA MANGOLD
JULIAN BARNES: Der Zitronentisch. Erzählungen. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 255 S., 18,90 Euro.
„Otium cum dignitate” - Muße mit Würde, lautete Ciceros Empfehlung an das Alter
Foto: Regina Schmeken
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
In seinen Erzählungen über das Alter baut Julian Barnes Kulissen der Lebensweisheit
„Das Alter”, sagt der Baccalaureus im Faust II, sei „ein kaltes Fieber. Hat einer dreißig Jahr vorüber, so ist er schon so gut wie tot.” Und er fügt zuspitzend hinzu: „Am besten wärs, euch zeitig totzuschlagen.” Das ist, in echt, natürlich keine Lösung des Generationenkonflikts. Solch drastische Maßnahmen waren zu Goethes Zeiten und noch bis vor Kurzem auch gar nicht nötig. Stets kamen mehr junge Menschen nach, als es Alte gab. Die Jugend behielt die Oberhand und prägte die Lebenswirklichkeit.
Das hat sich geändert. Im Jahr 2040, sagen Demographen voraus, wird die Bevölkerungspyramide erstmals auf dem Kopf stehen. Schon heute dominieren nicht mehr die jungen, sondern die mittelalten und alten Menschen das Straßenbild. Altwerden besetzt einen größeren Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit Deutschlands als Jungsein. Zugleich wird das Alter durch den medizinischen Fortschritt zu einer immer länger anhaltenden Lebensphase.
Was Alter jenseits von Rentenformel, Pflegeversicherung und Gesundheitskompromiss meinen kann, dazu braucht es prognostische Einbildungskraft. Bücher wie Frank Schirrmachers „Methusalem-Komplott” leben davon, sich die Konsequenzen der Überalterung auszumalen - und zugleich Alter nicht nur als Bedrohung, sondern auch als neuen Gewinn zu begreifen. Ein bisschen schreibt man sich mit solchen Büchern aber auch das Grauen vor dem eigenen Altern weg.
Genau das war einmal ein sehr ehrwürdiges literarisches Genre und es hieß ars moriendi. In ihr ging es nicht eigentlich um Sterbetechniken als vielmehr um die innere Vorbereitung, vom Leben Abschied zu nehmen. War man mit sich selbst im Reinen und hatte sein Haus bestellt, dann konnte man den Lebensabend versöhnt genießen, weil der Tod seinen Stachel verloren hatte.
Wie müsste heute eine zeitgemäße ars moriendi aussehen? Der englische Schriftsteller Julian Barnes, der nächste Woche den Österreichischen Staatspreis für europäische Literatur verliehen bekommt, ist Jahrgang 1946. Damit ist man noch nicht alt, aber natürlich in einem Alter, in dem die Frage des Altwerdens sich nicht mehr so leicht zur Seite schieben lässt. Die Erzählungen, die Julian Barnes jetzt in seinem Erzählungsband „Der Zitronentisch” versammelt hat, sind denn auch häufig aus der Perspektive eines jüngeren Menschen geschrieben, der am Beispiel seiner Eltern staunend und verstört zugleich zu verstehen versucht, was Altwerden heißt. Und manchmal hat man den Eindruck, es seien Antizipationen eines Lebensabschnitts, zu dem sich der Erzähler literarisch Mut zu machen versucht. Kann das funktionieren?
In der Erzählung „Der Obstbaumkäfig” entdeckt der Erzähler zu Beginn im Badezimmerschränkchen seiner Eltern eine Tube mit empfängnisverhütendem Gel. Er ist irritiert, auch abgestoßen. In dem Alter? Damals waren die Eltern Mitte sechzig. Fünfzehn Jahre später muss er erfahren, dass sein Vater seine Mutter verlassen will, um mit Elsie zusammen zu leben. Alarmiert fragt der Sohn: „Dad, es geht mich ja nichts an und so weiter, aber ist die Sache . . . körperlich?” Als der Sohn Elsie besucht, erklärt sie, für Moralpredigten sei sie zu alt. Natürlich will der Sohn kein Spießer sein. Aber wenn er die hysterischen Verhaltensweisen aller drei Beteiligten anschaut, dann muss er auch sehen, dass die Gleichung „Sexuelle Aktivität = erfüllter Lebensabend” so einfach nicht aufgeht.
Alles nur Entsagung?
Das Gegenstück wird in „Die Geschichte von Mats Israelson” erzählt. Sie spielt im 19. Jahrhundert. Da war das Prinzip Entsagung noch ein positiver Wert. Ein Ehemann liegt im Sterben. Über Jahrzehnte liebte er die Frau des Apothekers. Sein Liebe wurde unausgesprochen, aber spürbar erwidert. Doch beide versagten sich ihr Begehren - im Interesse der jeweiligen Familie und der Kinder. Nun liegt der Mann im Sterben und bitte die geliebte Frau an sein Krankenbett. Die nicht ausgelebte Liebe soll nun ausgesprochen und so wenigstens symbolisch angenommen werden. Doch es fällt ein falsches Wort - und die Frau verlässt empört das Krankenhaus. Auf einen Schlag ist - für beide - die lebenssinnstiftende Passion ihrer ganzen Existenz vernichtet. Nichts bleibt, nichts gilt mehr, ihre Leben sind plötzlich ein einziger Irrtum. - Das kann es auch nicht sein.
Die beste Geschichte des Bandes erzählt von Iwan Turgenjews letzter Liebe. Sie ist aus der Perspektive der Gegenwart geschrieben, und der Erzähler fragt sich die ganze Zeit entnervt, warum Turgenjew der schönen jungen Schauspielerin immer nur seine Liebe gesteht und hitzig ihre Hände küsst, es aber nie zum Sex kommt. Turgenjew notiert: „Ab dem Alter von vierzig Jahren lässt sich das Grundprinzip des Lebens mit einem einzigen Begriff zusammenfassen: Entsagung.” Warum das aber so sein soll, dafür weiß Turgenjew auch keinen rechten Grund anzugeben. Diese ungleichen Liebenden schmücken in Briefen ihre Leidenschaft stürmisch aus und phantasieren gemeinsame Reisen, die sie aber nie ausführen. Was sie aber haben, ist „die Narrheit der Erwartung, die Erbärmlichkeit des Scheiterns, das Winselns der Reue und die törichte Zärtlichkeit des Erinnerns.” Also gewissermaßen der Liebe bestes Teil: Ein intensives Gefühl.
Die ars moriendi ist im Kern eine tautologische Technik. Ihr Prinzip lautet: Die einzige Möglichkeit, das Vergehen der Zeit zu akzeptieren, ist, zu akzeptieren, dass die Zeit vergeht. Davon erzählen Barnes Geschichten. Ihr Blick auf die Menschen ist zärtlich, aber nicht verklärend. Als große Literatur überzeugen sie gleichwohl nicht. Das liegt daran, dass Barnes immer eine kleine, mal verschmitzte, mal melancholische Erkenntnis auf Lager hat. Zum Beispiel, dass man im Alter zusehends störrischer, verbissener und skurriler wird. Dafür entfaltet er in „Wachdienst” ein langatmiges Set, in dem ein Liebhaber klassischer Musik immer hysterischer auf die Huster während der Konzerte reagiert und sich vor lauter Ärger und Racheplänen gegen die achtlosen Störenfriede nicht mehr an der Musik erfreuen kann. Man spürt in vielen dieser Erzählkonstellationen vor allem den Versuch, bestimmte Einsichten ins Leben anschaulich zu illustrieren. Deshalb wirken die Kulissen, die Barnes liebevoll errichtet ausmalt, wie Dekorationen einer nur mitteloriginellen Lebensweisheit.
IJOMA MANGOLD
JULIAN BARNES: Der Zitronentisch. Erzählungen. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 255 S., 18,90 Euro.
„Otium cum dignitate” - Muße mit Würde, lautete Ciceros Empfehlung an das Alter
Foto: Regina Schmeken
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Zwar gehört dieses Buch aus der Sicht von Rezensent Tobias Döring nicht zu den stärksten von Julian Barnes. Trotzdem können seiner Einschätzung zufolge reifere Leser daraus entnehmen, dass das Alter der Jugend oder den mittleren Jahren "an Wahn und Witz und Lebenslust" in nichts nachsteht. In elf unterschiedlichen Erzählungen nähere sich Barnes diesem Thema "mal auf komische oder skurrile Wirkung" setzend, manchmal leider auch auf "reichlich vordergründige Pointen" zielend. Aber mitunter eben auch "auf so dezente und anrührende Art", dass diese Erzählungen vom Altern "heitere Gelassenheit, gepaart mit leidenschaftlicher Intensität" verströmen. In seinen besten Geschichten entfaltet Barnes sein Thema auf engstem Raum und "gekonnt " traurig-komisch zwischen Tschechow und Woody Allen oszillieren. Deshalb bedauert der Rezensent ganz besonders, dass sich nur so wenige Texte des Bandes "auf dieser Höhe" bewegen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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»Julian Barnes stellt seine Virtuosität erneut unter Beweis.« The Guardian