Peter Rühmkorf und Walther von der Vogelweide: eine freundschaftliche Annäherung zweier großer Lyriker über die Jahrhunderte hinweg, erzählt anhand von Gedichten, Briefen und Tagebuchnotizen. Peter Rühmkorf fand in den 1970er Jahren eine erstaunliche und für sein weiteres literarisches Werk bedeutsame Nähe zu Walther von der Vogelweide. Davon erzählt dieses Buch. Rühmkorfs Anverwandtschaft über einen Zeitraum von acht Jahrhunderten hinweg zeigt sich in seinen Übersetzungen der mittelhochdeutschen Gedichte Walthers von der Vogelweide, »des Reiches genialster Schandschnauze«. Parallel dazu schrieb Rühmkorf einen auch literaturwissenschaftlich bemerkenswerten Essay über den »Reichssänger und Hausierer«, für den er sich von dem bedeutenden Mediävisten Peter Wapnewski Rat holte. Der Briefwechsel zwischen Dichter und Wissenschaftler, in dem sie über den ›richtigen‹ Zugang zu Walther streiten, wird hier dem Essay zur Seite gestellt. Die Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Dichterkollegen half Rühmkorf auch bei der Überwindung seiner ›poetischen Krise‹: Erstmals nach zehn Jahren entstanden um 1975 wieder eigene Gedichte. Diesen Zusammenhang belegen Passagen aus den unpublizierten Tagebüchern Rühmkorfs, die in diesem Band auszugsweise dokumentiert sind.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2017Ich war zu lange blank
Peter Rühmkorfs Texte zu Walther von der Vogelweide sind in einer neuen Ausgabe erschienen.
Sie dokumentiert eine Freundschaft über Jahrhunderte hinweg und ist ein Fest des Witzes
VON GUSTAV SEIBT
In der Mitte der Siebzigerjahre ging es dem Lyriker Peter Rühmkorf nicht gut. Die letzten Gedichte lagen ein ganzes Jahrzehnt zurück, Erfolge feierte er mit Prosawerken wie „Die Jahre, die ihr kennt“. Zugleich dokterte er an einer Minnesänger-Oper herum, die nicht gelang, und er versuchte, seine mageren Einkünfte mit Funk- und Filmarbeiten aus diesem Themenkreis und sonstiger Literaturgeschichte aufzubessern. Daraus wurde 1975 der Band „Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich“, ein interessanter Hybrid aus Gelehrsamkeit, Nachdichtung und Selbsterklärung, aber doch eine Verlegenheitslösung. Sie wurde zu einem überraschenden, breit akklamierten Erfolg. Noch lebte man im Zeitalter Arno Schmidts.
Und wie bei Schmidt war der Geist materialistisch. Es ging ums finanzielle Überleben. „Ich hân mîn lehen, al die werlt, ich hân mîn lehen.“ Walthers Dank an Kaiser Friedrich II. für die Versorgung mit einem Leihgut musste bei dem von Honorarsorgen geplagten Rühmkorf auf inniges Verständnis stoßen. Entsprechend feurig geriet die Übersetzung: „Ich hab mein Lehen, Gottnochmal, ich hab mein Lehen./ Jetzt brauch ich nicht mehr furchtsam in den Frost zu sehen/ und reichen Knickern um den Bart zu gehen. (…) Wie jedermann sich davon imponieren lässt: auf einmal bin ich nicht mehr dieser graue Trauerschatten./ Mein Los war dies: ich war zu lange blank./ Daß ich vor Mißgunst manchmal aus dem Rachen stank./ Heut kann ich wieder atmen, Friederich sei Dank.“
Wie frisch, wie neu das ist, erfährt man erst, wenn man ältere gereimte und rhythmisierte Übersetzungen vergleicht. Die Fachgermanistik war längst zu Prosaversionen übergegangen, aber das genügte Rühmkorf nicht. Darum konsultierte er Vorläufer wie Ludwig Uhland und Karl Simrock, gelehrte Kenner und unverächtliche Poeten. Hier eine Klangprobe von Uhland: „Ich hab’ mein Lehen, all die Welt! ich hab’ mein Lehen!/ Nun fürchte ich nicht den Hornung an die Zehen …/ Nun dünke ich meinen Nachbarn vieles baß gethan/ Sie sehn mich nicht mehr an in Unholds Weise, wie sie weiland taten/ Ich bin zu lange arm gewesen ohne meinen Dank/ Ich war so voller Scheltens, dass mein Athem stank.“
„Hornung“, „baß“, „weiland“, der teilweise altgermanistische Satzbau – das ist eine Butzenscheibenversion der Vergangenheit, des am Ende scheiternden Versuchs, aus einer älteren Stufe der eigenen Sprache nicht zu übersetzen, sondern ein Mischidiom herzustellen. Rühmkorf übersetzt wirklich, darum darf er Worte wie „imponieren“ und „blank“ verwenden.
Die neue kritische Ausgabe von Rühmkorfs Walther-Text samt Vorstufen, Tagebuchmaterialien und dem Briefwechsel, den er dazu mit dem Germanisten Peter Wapnewski führte, ist rundum zu loben, sie ist ein Fest des Witzes und der Gelehrsamkeit. Das Nachwort von Stephan Opitz führt tief in Biografie und Quellen Rühmkorfs ein. Darum fällt der einzige Mangel auf: Trotz des moderaten Umfangs der Ausgabe hat man darauf verzichtet, die Vorläufer des Übersetzers Rühmkorf wenigsten mit ein paar Proben vorzustellen, um Lesern, die nicht Scans im Internet durchwühlen wollen, noch präziser ins Gehör zu bringen, was für eine begeisternde Leistung Rühmkorfs Anverwandlung darstellt.
Wobei Anverwandlung die Sache zu lässig klingen lässt. Rühmkorf war studierter Germanist (wenn auch ohne Abschluss), er wusste, wie man sich kundig macht. Dass er den urbanen Wapnewski zielgerichtet einspannte (woraus nach einigen Spreizungen der Herren eine Duz-Freundschaft wurde), beweist strategisches Geschick. Man holt die Konkurrenz ins Boot (Wapnewskis Walther-Taschenbuch ist bis heute die erfolgreichste Ausgabe des mittelalterlichen Dichters), vor allem sichert man sich ab. Dass Wapnewski und Rühmkorf sich zum guten Abschluss gegenseitig rezensierten, und zwar in der freiesten, keineswegs unkritischen Weise, beleuchtet nebenbei eine erstaunliche Unbefangenheit im damaligen Literaturbetrieb. Der neue Band dokumentiert die beiden brillanten, riesenhaft langen Texte aus Zeit und FAZ.
Rühmkorfs Ernsthaftigkeit zeigt sich nicht zuletzt in dem scharfen Zusammenstoß, der den Briefwechsel mit Wapnewski fast zum Erliegen brachte. Dieser hatte ihm nach ersten Übersetzungsproben vorgehalten: „Du aber tust, als seist Du positivistischer Forscher (…), aber ohne Netz, ohne Basis, ohne Fundament.“ Und er belegte dies mit allerlei Einwänden, um den Rat zu geben: „Nachdichtungen in Walthers Ton: Das ist Deine Chance, das macht dir keiner nach.“ Die Substanz solle er herausfiltern. „Aber gereimte Treue ist keine.“ Das war der damals längst geläufige Einwand gegen sprachliches Neomittelalter in Uhlands Manier.
Doch solche Verschiebungen ins Frei-Poetische lehnt Rühmkorf geradezu empört ab: „Ich bin fast ein klassischer Neopositivist.“ „Ich bleibe überprüfbar.“ „Dieses ,Nichtaufdasregelwerkeinlassen‘, lieber Wapnewski-Peter liegt mir nicht; ich lasse mich ein, wer wäre ich denn; ich bin der Wissenschaft zuinnerst verpflichtet.“
Das ist groß, wie die ganze von kaum gehaltener Wut getriebene Epistel. Und die Materialien, die Opitz in seinen Kommentaren beibringt, zeigen, dass Rühmkorf recht hatte mit seinem professionellen Stolz – was Wapnewski als Eigenmächtigkeiten tadelte, war gedeckt durch faktische Ungewissheiten in der Walther-Kenntnis, an denen sich bis heute nichts geändert hat.
Dazu aber kam natürlich doch etwas nur dem Dichter Eigenes, über das Rühmkorf nicht mehr im Streit mit Wapnewski, sondern im Selbstgespräch seiner Tagebücher nachdachte. Opitz zitiert sie ausführlich, mit dem Hinweis, dass kein anderer Werkteil eine so dichte Reflexionsspur in den nicht-publizierten Tagebüchern hinterließ wie der Walther-Komplex. Da spricht Rühmkorf vom „mythologischen Wurzelziehen. Ich trete den Alten als Kollege nahe … ich höre ihren Atem an meinem Ohr. Ihre Klagen sind für mich keine Untersuchungs-, sondern Sympathiegegenstände.“ „Entwicklung einer Freundschaft über Jahrhunderte hinweg“, nennt Opitz das in schöner Zusammenfassung.
Der Atem Walthers an Rühmkorfs Ohr: Er darf vor Missgunst stinken, und überhaupt hat er die böse Bitterkeit von Walthers meist als devot missverstandenem Dank zum ersten Mal zu Gehör gebracht. Das Bänkelsanghafte, oft grell Satirische, andererseits den Schlagerschmelz der Liebesdichtung, das empörte Pathos der politischen Gedichte – den enormen Tonreichtum Walthers hat Rühmkorf mit leidenschaftlicher Gelenkigkeit wiedererstehen lassen. Das ist unbedingt laut zu lesen, ein Fest der Sprache. Woraus sich übrigens ein zweiter kleiner Einwand gegen diese Ausgabe verbindet: Warum hat man nicht auf einer Seite die Ausspracheregeln des Mittelhochdeutschen beigefügt, da man die originalen Texte ja anbietet? Wer Rühmkorf laut liest, der würde es gewiss gern auch mit Walther versuchen.
Für dessen bis heute berühmtestes Gedicht, die Altersklage über die verschwundenen Jahre, rauchte und soff sich Rühmkorf bis in die frühen Morgenstunden des 16. Mai 1974 in eine „angeregte Vanitas-Stimmung“, so sagt es das Tagebuch, immer mit Blick auf die Vorläufer.
Das Resultat hat eine bezwingende Unmittelbarkeit: „Die sich meine Freunde nannten, sind blöde, sind alt./ Plattgewalzte Felder – gerodeter Wald …/ Wenn da nicht noch Wasser strömte wo es immer floß,/ wahrlich, mein Unglück schiene übergangslos./ Wieder ging einer vorüber, der wußte mal, wer ich war./ Die Welt ist allenthalben unberechenbar./ Manche schönen Tage gehen mir noch durch den Sinn/ Wie ein Schlag ins Wasser sind sie dahin.“
Bei Walther sind die „schönen Tage“ „wünneclich“, und natürlich macht Uhland daraus „wonniglich“. Das zeigt in einem einzigen Wort das Problem, das Rühmkorf so beherzt löste.
Verschiebungen ins
Frei-Poetische lehnte Rühmkorf
ab: „Ich bleibe überprüfbar.“
„Die sich meine
Freunde nannten, sind
blöde, sind alt …“
„Ich bin fast ein klassischer Neopositivist.“ – Peter Rühmkorf, geboren 1929, gestorben 2008.
Foto: Regina Schmeken
Peter Rühmkorf: Des Reiches genialste Schandschnauze. Texte und Briefe zu Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Stephan Opitz, Mitarbeit von Christoph Hilse. Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
280 S. 19,90 Euro,
E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Peter Rühmkorfs Texte zu Walther von der Vogelweide sind in einer neuen Ausgabe erschienen.
Sie dokumentiert eine Freundschaft über Jahrhunderte hinweg und ist ein Fest des Witzes
VON GUSTAV SEIBT
In der Mitte der Siebzigerjahre ging es dem Lyriker Peter Rühmkorf nicht gut. Die letzten Gedichte lagen ein ganzes Jahrzehnt zurück, Erfolge feierte er mit Prosawerken wie „Die Jahre, die ihr kennt“. Zugleich dokterte er an einer Minnesänger-Oper herum, die nicht gelang, und er versuchte, seine mageren Einkünfte mit Funk- und Filmarbeiten aus diesem Themenkreis und sonstiger Literaturgeschichte aufzubessern. Daraus wurde 1975 der Band „Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich“, ein interessanter Hybrid aus Gelehrsamkeit, Nachdichtung und Selbsterklärung, aber doch eine Verlegenheitslösung. Sie wurde zu einem überraschenden, breit akklamierten Erfolg. Noch lebte man im Zeitalter Arno Schmidts.
Und wie bei Schmidt war der Geist materialistisch. Es ging ums finanzielle Überleben. „Ich hân mîn lehen, al die werlt, ich hân mîn lehen.“ Walthers Dank an Kaiser Friedrich II. für die Versorgung mit einem Leihgut musste bei dem von Honorarsorgen geplagten Rühmkorf auf inniges Verständnis stoßen. Entsprechend feurig geriet die Übersetzung: „Ich hab mein Lehen, Gottnochmal, ich hab mein Lehen./ Jetzt brauch ich nicht mehr furchtsam in den Frost zu sehen/ und reichen Knickern um den Bart zu gehen. (…) Wie jedermann sich davon imponieren lässt: auf einmal bin ich nicht mehr dieser graue Trauerschatten./ Mein Los war dies: ich war zu lange blank./ Daß ich vor Mißgunst manchmal aus dem Rachen stank./ Heut kann ich wieder atmen, Friederich sei Dank.“
Wie frisch, wie neu das ist, erfährt man erst, wenn man ältere gereimte und rhythmisierte Übersetzungen vergleicht. Die Fachgermanistik war längst zu Prosaversionen übergegangen, aber das genügte Rühmkorf nicht. Darum konsultierte er Vorläufer wie Ludwig Uhland und Karl Simrock, gelehrte Kenner und unverächtliche Poeten. Hier eine Klangprobe von Uhland: „Ich hab’ mein Lehen, all die Welt! ich hab’ mein Lehen!/ Nun fürchte ich nicht den Hornung an die Zehen …/ Nun dünke ich meinen Nachbarn vieles baß gethan/ Sie sehn mich nicht mehr an in Unholds Weise, wie sie weiland taten/ Ich bin zu lange arm gewesen ohne meinen Dank/ Ich war so voller Scheltens, dass mein Athem stank.“
„Hornung“, „baß“, „weiland“, der teilweise altgermanistische Satzbau – das ist eine Butzenscheibenversion der Vergangenheit, des am Ende scheiternden Versuchs, aus einer älteren Stufe der eigenen Sprache nicht zu übersetzen, sondern ein Mischidiom herzustellen. Rühmkorf übersetzt wirklich, darum darf er Worte wie „imponieren“ und „blank“ verwenden.
Die neue kritische Ausgabe von Rühmkorfs Walther-Text samt Vorstufen, Tagebuchmaterialien und dem Briefwechsel, den er dazu mit dem Germanisten Peter Wapnewski führte, ist rundum zu loben, sie ist ein Fest des Witzes und der Gelehrsamkeit. Das Nachwort von Stephan Opitz führt tief in Biografie und Quellen Rühmkorfs ein. Darum fällt der einzige Mangel auf: Trotz des moderaten Umfangs der Ausgabe hat man darauf verzichtet, die Vorläufer des Übersetzers Rühmkorf wenigsten mit ein paar Proben vorzustellen, um Lesern, die nicht Scans im Internet durchwühlen wollen, noch präziser ins Gehör zu bringen, was für eine begeisternde Leistung Rühmkorfs Anverwandlung darstellt.
Wobei Anverwandlung die Sache zu lässig klingen lässt. Rühmkorf war studierter Germanist (wenn auch ohne Abschluss), er wusste, wie man sich kundig macht. Dass er den urbanen Wapnewski zielgerichtet einspannte (woraus nach einigen Spreizungen der Herren eine Duz-Freundschaft wurde), beweist strategisches Geschick. Man holt die Konkurrenz ins Boot (Wapnewskis Walther-Taschenbuch ist bis heute die erfolgreichste Ausgabe des mittelalterlichen Dichters), vor allem sichert man sich ab. Dass Wapnewski und Rühmkorf sich zum guten Abschluss gegenseitig rezensierten, und zwar in der freiesten, keineswegs unkritischen Weise, beleuchtet nebenbei eine erstaunliche Unbefangenheit im damaligen Literaturbetrieb. Der neue Band dokumentiert die beiden brillanten, riesenhaft langen Texte aus Zeit und FAZ.
Rühmkorfs Ernsthaftigkeit zeigt sich nicht zuletzt in dem scharfen Zusammenstoß, der den Briefwechsel mit Wapnewski fast zum Erliegen brachte. Dieser hatte ihm nach ersten Übersetzungsproben vorgehalten: „Du aber tust, als seist Du positivistischer Forscher (…), aber ohne Netz, ohne Basis, ohne Fundament.“ Und er belegte dies mit allerlei Einwänden, um den Rat zu geben: „Nachdichtungen in Walthers Ton: Das ist Deine Chance, das macht dir keiner nach.“ Die Substanz solle er herausfiltern. „Aber gereimte Treue ist keine.“ Das war der damals längst geläufige Einwand gegen sprachliches Neomittelalter in Uhlands Manier.
Doch solche Verschiebungen ins Frei-Poetische lehnt Rühmkorf geradezu empört ab: „Ich bin fast ein klassischer Neopositivist.“ „Ich bleibe überprüfbar.“ „Dieses ,Nichtaufdasregelwerkeinlassen‘, lieber Wapnewski-Peter liegt mir nicht; ich lasse mich ein, wer wäre ich denn; ich bin der Wissenschaft zuinnerst verpflichtet.“
Das ist groß, wie die ganze von kaum gehaltener Wut getriebene Epistel. Und die Materialien, die Opitz in seinen Kommentaren beibringt, zeigen, dass Rühmkorf recht hatte mit seinem professionellen Stolz – was Wapnewski als Eigenmächtigkeiten tadelte, war gedeckt durch faktische Ungewissheiten in der Walther-Kenntnis, an denen sich bis heute nichts geändert hat.
Dazu aber kam natürlich doch etwas nur dem Dichter Eigenes, über das Rühmkorf nicht mehr im Streit mit Wapnewski, sondern im Selbstgespräch seiner Tagebücher nachdachte. Opitz zitiert sie ausführlich, mit dem Hinweis, dass kein anderer Werkteil eine so dichte Reflexionsspur in den nicht-publizierten Tagebüchern hinterließ wie der Walther-Komplex. Da spricht Rühmkorf vom „mythologischen Wurzelziehen. Ich trete den Alten als Kollege nahe … ich höre ihren Atem an meinem Ohr. Ihre Klagen sind für mich keine Untersuchungs-, sondern Sympathiegegenstände.“ „Entwicklung einer Freundschaft über Jahrhunderte hinweg“, nennt Opitz das in schöner Zusammenfassung.
Der Atem Walthers an Rühmkorfs Ohr: Er darf vor Missgunst stinken, und überhaupt hat er die böse Bitterkeit von Walthers meist als devot missverstandenem Dank zum ersten Mal zu Gehör gebracht. Das Bänkelsanghafte, oft grell Satirische, andererseits den Schlagerschmelz der Liebesdichtung, das empörte Pathos der politischen Gedichte – den enormen Tonreichtum Walthers hat Rühmkorf mit leidenschaftlicher Gelenkigkeit wiedererstehen lassen. Das ist unbedingt laut zu lesen, ein Fest der Sprache. Woraus sich übrigens ein zweiter kleiner Einwand gegen diese Ausgabe verbindet: Warum hat man nicht auf einer Seite die Ausspracheregeln des Mittelhochdeutschen beigefügt, da man die originalen Texte ja anbietet? Wer Rühmkorf laut liest, der würde es gewiss gern auch mit Walther versuchen.
Für dessen bis heute berühmtestes Gedicht, die Altersklage über die verschwundenen Jahre, rauchte und soff sich Rühmkorf bis in die frühen Morgenstunden des 16. Mai 1974 in eine „angeregte Vanitas-Stimmung“, so sagt es das Tagebuch, immer mit Blick auf die Vorläufer.
Das Resultat hat eine bezwingende Unmittelbarkeit: „Die sich meine Freunde nannten, sind blöde, sind alt./ Plattgewalzte Felder – gerodeter Wald …/ Wenn da nicht noch Wasser strömte wo es immer floß,/ wahrlich, mein Unglück schiene übergangslos./ Wieder ging einer vorüber, der wußte mal, wer ich war./ Die Welt ist allenthalben unberechenbar./ Manche schönen Tage gehen mir noch durch den Sinn/ Wie ein Schlag ins Wasser sind sie dahin.“
Bei Walther sind die „schönen Tage“ „wünneclich“, und natürlich macht Uhland daraus „wonniglich“. Das zeigt in einem einzigen Wort das Problem, das Rühmkorf so beherzt löste.
Verschiebungen ins
Frei-Poetische lehnte Rühmkorf
ab: „Ich bleibe überprüfbar.“
„Die sich meine
Freunde nannten, sind
blöde, sind alt …“
„Ich bin fast ein klassischer Neopositivist.“ – Peter Rühmkorf, geboren 1929, gestorben 2008.
Foto: Regina Schmeken
Peter Rühmkorf: Des Reiches genialste Schandschnauze. Texte und Briefe zu Walther von der Vogelweide. Hrsg. von Stephan Opitz, Mitarbeit von Christoph Hilse. Wallstein Verlag, Göttingen 2017.
280 S. 19,90 Euro,
E-Book 15,99 Euro.
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»(macht) nicht zuletzt dank des kundigen Nachworts von Herausgeber Stephan Opitz (Jg. 1951) umfassend mit der Materie vertraut« (Kai U. Jürgens, Kieler Nachrichten, 20.05.2017) »rundum zu loben, (...) ein Fest des Witzes und der Gelehrsamkeit« (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 29.05.2017) »Die Edition ist wahrhaft ein Gewinn« (Ulrich Greiner, Die Zeit, 03.08.2017) »Es ist ein großer Spaß, gerade auch den Briefwechsel zu lesen.« (Lübecker Nachrichten, 29.06.17) »Ein sehr amüsantes Buch; es gibt nichts daran zu bekrak-mäkeln« (Thomas Schäfer, Titanic, September 2017) »eine nahezu perfekte Edition« (Martin Schubert, literaturkritik.de, 11.01.2018)