Als Asfa-Wossen Asserate im Sommer 1968 zum Studieren aus Addis Abeba nach Tübingen kam, geriet er mitten hinein in die Studentenbewegung. Inzwischen besitzt der äthiopische Prinz die deutsche Staatsbürgerschaft, von seinen englischen Freunden wird er liebevoll »My favourite Kraut« genannt. Nach über fünfzig Jahren in Deutschland ist es an der Zeit für ein persönliches Fazit. Im vorliegenden Buch – der Autor nennt es ein Vademecum – geht er deutschen Eigenheiten, Marotten und Klischees auf den Grund und spart dabei seine eigenen Vorlieben nicht aus. Das Alphabet erlaubt es ihm, leichtfüßig von einem Thema zum nächsten zu springen: von der Autobahn zur Bratwurst, von der Freikörperkultur zum Gartenzwerg, von der Kehrwoche zur Kuckucksuhr, von der Waldeinsamkeit bis zum Zapfenstreich.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, B, BG, CY, CZ, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Asfa-Wossen Asserate versucht in „Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle“ eine Charakterstudie der Deutschen
Lange bevor es ein geeintes Deutschland als modernen Staat gab, wurden seine Bewohner mit Verwunderung und Bewunderung betrachtet. Seit Caesar und Tacitus den aufrichtigen treuen Charakter dieses heterogenen Volkes lobten, haben sich Klischees verfestigt, die bis heute Freund und Feind propagandistischen Gewinn versprechen. Auch zur satirischen Unterhaltung eignen sich Lageberichte aus Deutschland hervorragend, und je weniger man über das Land und seine Bewohner weiß oder wahrnehmen will, desto größer ist der Spaß. Darauf verweist schon 1810 die scharf beobachtende Madame de Staël-Holstein in ihrem noch immer lesenswerten Bestseller „De l’Allemagne“.
Auf den ersten Blick würde man auch Asfa-Wossen Asserates – als ethnologisches Lexikon getarntes – neues Buch „Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle“ dem schier unüberschaubaren Genre deutschkritischer Schenkelklopfprosa zuordnen. Die alphabetisch gereihten Kapitel heißen Autobahn, Bratwurst, Christkindlesmarkt, Dienstleistungswüste, Eckkneipe und so weiter. Wenn man sich dann aber das Literaturverzeichnis ansieht, in dem nicht nur der Literaturtheoretiker Karl Heinz Bohrer oder der Historiker Gordon A. Craig auftauchen, sondern noch weit Entlegeneres wie das eher Musikliebhabern vorbehaltene Buch „Autonomie und Gnade“ von Ivan Nagel über Mozarts Opern, wird man jedoch schon neugierig.
Asserate hat in den vergangenen 20 Jahren schon einige viel beachtete Bücher über Afrika, Europa und Deutschland veröffentlicht, und seine Biografie prädestiniert ihn zum Ethnologen im eigenen Land. Als Großneffe des äthiopischen Kaisers Haile Selassie kam er zum Studium nach Tübingen, wurde in Frankfurt in Geschichte promoviert, blieb nach dem Militärputsch in Äthiopien 1974 in Deutschland und wurde Deutscher. Inzwischen fühlt er sich auch als solcher, traut sich sogar die Rolle des teilnehmenden Beobachters kaum noch zu, wie er schreibt: „Zu sehr fühle ich mich längst in dem Dschungel all dessen, was deutsch ist, mit Haut und Haaren verstrickt.“
Wer Deutscher sei, bemesse sich längst nicht mehr an der Hautfarbe, sondern in der juristischen Praxis meist daran, ob jemand hier geboren sei. Den entscheidenden Identitätskampf sieht Asserate grundsätzlich aber in der komplexen deutschen Seelenlage begründet. Nicht erst seit „der moralischen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs“ seien die Deutschen rigoros mit den führenden Köpfen ihrer Nation ins Gericht gegangen. Was er bisweilen etwas übertrieben findet: „Deutschland hat sich dem finstersten Kapitel seiner Geschichte gestellt, es ausgeleuchtet und aufgearbeitet – so mustergültig und akribisch, dass dabei zuweilen die hellen Seiten der deutschen Geschichte aus dem Blick geraten sind.“ Ein Satz, der in dieser Freundlichkeit von anderen geäußert ungleich abgründiger gelesen würde.
Dort, wo es politisch wird, verortet sich Asserate eindeutig grün, seine Liebe zu Deutschland ist spürbar. Selbst den Maler deutschen Spießertums Carl Spitzweg verteidigt er leidenschaftlich, findet die Kritik an diesem selbst spießig und sieht in den dargestellten Figuren die Fähigkeit zur Selbstironie. Etwas, was den Deutschen sonst ja gerne abgesprochen werde.
Nebenbei erfährt man allerlei historische Details, dass die Franzosen etwa viel mehr Sauerkraut essen als die Deutschen, dass die erste Autobahn nicht in Deutschland, sondern im Jahr 1924 in Italien eröffnet wurde (die Berliner Avus von 1921 war ursprünglich eine private Rennstrecke).
Etwas in die Jahre gekommen scheint die Beobachtung zu sein, die Deutschen beschäftigten sich am Samstagnachmittag vor allem mit der Pflege ihrer Automobile, für die sie „freie Fahrt“ verlangten. Was Asserate doch seltsam findet. Im Übrigen bringt er nämlich die Deutschen und die Freiheit kaum zusammen, bestenfalls noch assoziativ im Stichwort „Freikörperkultur“.
Franz Kafka, schreibt er, war begeisterter Nacktturner, konnte auch seine Schwestern dazu überreden und erfuhr schließlich in der Harzer Kuranstalt „Jungborn“ seine Erweckung: „In der Ferme spielen sie Fußball, die Vögel singen stark, einige Nackte liegen still vor meiner Tür.“ Einige Tage später stürzt sich auch Kafka hemmungslos hosenlos hinein in das aufregend urnatürliche Treiben.
Dass Asserate den letzten Absatz seines Buches dem Ukrainekrieg widmet, der die Deutschen wachgerüttelt habe, wirkt dann tatsächlich sehr unironisch deutsch. Bisher, schreibt Asserate, „rückte das Militärische“ nur beim Zapfenstreich „ins öffentliche Bewusstsein“. Nun aber hätten die Deutschen begonnen, „der Realität ins Auge zu sehen“. „Ob dies gelingen wird? Die Zukunft wird es zeigen.“ Die Vergangenheit der Deutschen hat leider gezeigt: nichts leichter als das.
HELMUT MAURÓ
Asfa-Wossen Asserate: Deutsch vom Scheitel bis zur Sohle. Die Andere Bibliothek, Aufbau Verlage, Berlin 2023. 287 Seiten, 48 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH