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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Seelische Reinigung war nachgefragt: Monica Black widmet sich Gesundbetern und Hexenangst im Nachkriegsdeutschland.
Von Oliver Jungen
Was 1949 auf dem Traberhof in Rosenheim geschah, erinnert an ekstatische Popstar-Verehrung. Tausende Menschen versammelten sich Tag für Tag, um einen Blick auf den dort Hof haltenden Geistheiler Bruno Gröning zu erhaschen. Der langhaarige Sonderling aus Danzig - ehemals einfaches NSDAP-Mitglied, Kriegsgefangener, Vertriebener - war dafür bekannt, Krankheiten qua Energiestrom heilen zu können. Einige Anwesende legten sich, wie ein Polizeibericht mitteilt, sogar mit einer eindeutigen Forderung vor den Wagen des Heilers: "Er solle sie heilen oder über sie hinwegfahren." Die Aufläufe wurden zur Gefahr für die öffentliche Ordnung. Nur das noch aus der NS-Zeit stammende Heilpraktikergesetz machte es möglich, den neuen deutschen Seelen-Messias juristisch unter Druck zu setzen.
Skeptiker gab es durchaus, der bayerische Innenminister sprach von "Massenpsychose", doch viele Politiker und Publizisten glaubten an Gröning, für sie ein Vertreter der ganzheitlichen Naturmedizin. Mit Psychosomatik hatte Grönings Wirken indes wenig zu tun. Böse Menschen könne er nicht heilen, behauptete er. Misserfolge mussten Patienten also ihren Sünden zuschreiben. Offenbar traf diese Gut-Böse-Dichotomie den Zeitgeist. In der von Trümmerfrauen, der (Pseudo-)Stunde null oder einer Rekatholisierung unter Adenauer geprägten Historiografie war bislang wenig von Wunderheilern oder Teufelszauber zu lesen. Das ändert sich nun mit dem Buch von Monica Black, einer Historikerin für moderne europäische Geschichte an der University of Tennessee in Knoxville.
Vor einigen Jahren wurde darüber gestritten, inwiefern der Nationalsozialismus als "Politische Religion" - Eric Voegelin prägte diesen Begriff 1938 - begriffen werden kann: Claus-Ekkehard Bärsch und Michael Burleigh etwa waren entschieden dafür, Hans Mommsen dagegen. Unbestritten aber ist, dass in der Völkischen Bewegung auch spiritistische und esoterische Strömungen aufgingen und der Nationalsozialismus samt Führerkult religiöse Merkmale aufwies. Daraus leitet sich die Grundfrage des vorliegenden Buches ab: Was passiert mit einer Gesellschaft, die von einem Tag auf den nächsten ihrer Heilsmetaphysik abschwören muss?
Blacks unbefangener Blick auf die besiegte, nur partiell entnazifizierte Nation zeigt einen bekannten Mechanismus: "Die Angst vor einem dauerhaften, sogar eine ganze Generation belastenden Makel erzeugt machtvolle Tabus." Die Schuld, die der Bevölkerung allmählich bewusst (gemacht) wurde, war so gewaltig, dass sie sich nur verdrängen ließ. So entstand in der politisch, wirtschaftlich und sozial verunsicherten Nachkriegszeit ein gespenstisches Schweigen über die allen nur zu präsente Vergangenheit. Eine Unfähigkeit, zu trauern, und die Abdrängung der individuellen Schuld in eine folgenlose Kollektivschuld haben freilich schon Hannah Arendt und die Mitscherlichs diagnostiziert.
Die gewissermaßen tiefenpsychologische Arbeitshypothese in diesem Buch lautet darüber hinaus, dass sich das Verdrängte eigene Wege an die Oberfläche suchte. Dass die Dämonen der Deutschen also wiederkehrten, und zwar in der Doppelgestalt von Hexenangst und Wunderglaube: das eine so etwas wie das Nachleben der Denunziation jüdischer Nachbarn - eine "horizontale" Angelegenheit -, das andere, "vertikal" ausgerichtet in Form einer Verehrung von Gesundbetern, als volksfromme Neuformatierung des Führerkults. Und das mit Wucht: der Charismatiker Gröning war laut der "Neuen Illustrierten" im ersten Nachkriegsjahrzehnt "bekannter als Adenauer und Erhard".
Ausgiebig erläutert die Historikerin ihre These, dass die erstaunliche Zahl von "übernatürlichen Massenereignissen" ihre Wurzel "in grauenhaften Erlebnissen, in Formen von Schuld und Scham, Verantwortlichkeit, Misstrauen und Verlust" während der nationalsozialistischen Epoche hat. Und doch liegt der Wert dieser selbst für angloamerikanische Verhältnisse besonders lebensnah erzählenden Studie nicht im Aufstellen einer weiteren steilen These zu den Nachwirkungen der Hitler-Diktatur, sondern in ihrem Detailreichtum, der sich aufwendiger Archivarbeit verdankt. Monica Black zitiert aus unzähligen Berichten, Briefen, Prozessen und Zeitungsartikeln.
Wir begleiten den privatreligiös gottesfürchtigen, jenseits einer Fangemeinde heute fast vergessenen Bruno Gröning vom ersten größeren Heilungserfolg (der nicht lange anhielt) - ein Junge in Herford, der nicht mehr laufen konnte oder wollte - über sämtliche Stationen seines Wegs, den er mit wechselnden Managern zurücklegte (darunter stramme Nationalsozialisten wie der ehemalige SS-Mann Otto Meckelburg), bis zu jenem 1957 beginnenden und mit Grönings Tod (1959) endenden Prozess, in dem er sich für den Tod einer von ihm "therapierten" Jugendlichen verantworten musste. Sie hatte ihre Tuberkulose-Medikamente verweigert.
Nicht nur die Sehnsucht vieler Deutscher nach "seelischer Reinigung" wird in dem Buch deutlich, sondern auch die Zerrissenheit der sich neukonstituierenden Gesellschaft. So zählten zu Grönings Anhängern auch Antinazisten; die Kurierfreiheit war schließlich unter Hitler abgeschafft worden. Vielfach drehten sich die hitzigen Debatten, das zeigt Blacks Analyse, verkappt um tabuisierte Fragen von Schuld und Identität.
So erhellend diese Neuinterpretation der Phase zwischen Kapitulation und Wirtschaftswunder im Lichte einer Erregungsgeschichte ist, bleiben auch Desiderate. Mitunter mutet die Übersetzung etwas störrisch an: "Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass irgendetwas davon mit der Art, wie Gröning Frau Joest oder irgendeine andere Person behandelte, irgendetwas zu tun hatte." Unausgewogen wirkt zudem die Verteilung der Passagen im Hinblick auf horizontale und vertikale Irrationalität: Der um Seitenblicke auf Marienwunder und weitere Heiler ergänzte Gröning-Abschnitt macht den Löwenanteil aus; für die verdeckten Bezüge zum Antisemitismus aufzeigenden Betrachtungen zum "Hexenwahn", der bis Mitte der Fünfzigerjahre zu massiven Ausgrenzungen und wohl mehr als hundert Gerichtsverfahren führte, bleiben nur kurze Zwischenkapitel.
Vor allem aber setzt die Autorin die untersuchten Ereignisse und Debatten nicht in Beziehung zu dem in Südostasien, Afrika oder Lateinamerika bis heute verbreiteten Hexenglauben oder zur weiteren Entwicklung der ganzheitlichen Alternativmedizin in Deutschland. Das wäre wichtig gewesen, weil ja die mentalitätsgeschichtliche Sonderstellung des ersten Nachkriegsjahrzehnts demonstriert werden soll.
Insgesamt aber justiert die Untersuchung den Blick auf die aus Ruinen hervorkriechende (west-)deutsche Gesellschaft neu. Sie zeigt nicht nur, dass der Prozess der Zivilisation weniger stetig verlief, als sich Norbert Elias das vorgestellt hat (was es seit Hans Peter Duerr nicht mehr braucht), sondern vor allem, dass ein Teufelspakt, wie die Deutschen ihn eingegangen sind, über den Untergang hinauswirkt. Gröning war der Therapeut, den der traumatisierte Volkskörper sich selbst erfand; damit war er allerdings Teil des Traumas, nicht der Erneuerung.
Monica Black: "Deutsche Dämonen". Hexen, Wunderheiler und die Geister der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland.
Aus dem Englischen von Werner Roller. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021. 432 S., geb., 26,- Euro.
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