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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zeitzeugen der ostdeutschen Revolution teilen ihre Eindrücke
Als Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR, am 29. April 1990 bei Michail Gorbatschow seinen Antrittsbesuch machte, schickte er seine stellvertretende Pressesprecherin Angela Merkel zu einer Erkundungstour durch Moskauer U-Bahnen und Busse: Sie sollte mit ihren perfekten Russischkenntnissen herausfinden, was normale Sowjetbürger über ihre politische Führung dachten. Das Ergebnis ihrer Sondierungen war einigermaßen beunruhigend: Die Moskauer, so berichtete sie, seien offensichtlich der Meinung: "Josef Stalin hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen, und Gorbatschow ist dabei, ihn zu verlieren."
Für de Maizière war damit klar, "dass wir uns beeilen müssen". Der Reformer an der Spitze der Sowjetunion würde sich nicht mehr lange an der Macht halten können, und dann wäre die deutsche Einheit nicht mehr zu erreichen. Entsprechend drang er auf einen schnellen Abschluss des Einigungsvertrages und reduzierte damit notgedrungen auch sein Gewicht als Verhandlungspartner der Bundesregierung. Ursprünglich hatte er eine Übergangszeit von zwei oder drei Jahren für notwendig gehalten; jetzt vergingen zwischen dem Inkrafttreten der Währungsunion und dem Vollzug der Einheit gerade noch drei Monate.
Der Bericht über Merkels Moskauer Mission ist nicht etwa ein Vorab-Stück aus den Memoiren, die man von der ehemaligen Kanzlerin erwarten darf. Er ist einem voluminösen Band von Zeitzeugen-Interviews entnommen, die der Historiker Michael Gehler und der Journalist Oliver Dürkop über ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen mit Akteuren der Einigung geführt haben. Sprecher der Bürgerrechtsbewegung wie Vera Lengsfeld und Richard Schröder sind dabei, Akteure des Übergangs wie Hans Modrow und Gregor Gysi, aber auch ein völlig unbelehrbarer Egon Krenz, westdeutsche Spitzenpolitiker wie Theo Waigel und Norbert Blüm, Architekten der Einheit wie Horst Teltschik und Günther Krause und viele Akteure der zweiten Reihe, die aus ihrer spezifischen Erfahrung einzigartige Einblicke bieten.
Die 52 Interviews, zum Teil sehr ausführlich und mit weiterführenden Hinweisen versehen, bilden eine Fundgrube für Historiker und bieten allen eine spannende Lektüre, die mehr über Hintergründe und Handlungsspielräume des Vereinigungsprozesses erfahren wollen. Mit dem Abstand von 25 oder 30 Jahren zu den Ereignissen ist der Drang zur Rechtfertigung und zur Festigung des eigenen Bildes in der Geschichte nicht mehr so stark, und so erfährt man vieles, was nicht in den Akten steht. Vor allem die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Akteure treten deutlich hervor, ihre Ambitionen, Hoffnungen, Enttäuschungen und Ängste in einem Wandlungsprozess von ungeheurer Dynamik.
So erinnert Rainer Eppelmann daran, wie begrenzt der Erwartungshorizont der ersten Bürgerrechtsgruppen angesichts der Vorbereitungen für eine "Tiananmen-Lösung" nach chinesischem Vorbild war und wie unterschiedlich die Hoffnungen und Wünsche derjenigen blieben, die zu den Gruppen stießen und sich auf der Straße versammelten. Nationale Einigung war da zunächst nur eine ferne Utopie und auch nach der Befreiung von der Angst nach der Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 kaum ein Thema. Das änderte sich erst nach dem Mauerfall, aber auch danach konnte sich die Einheitsforderung in den Demonstrationen erst nach und nach durchsetzen.
Von einer Polarisierung zwischen einheitsorientierten Massen und einer reformsozialistischen Elite, wie sie gelegentlich in der Literatur behauptet wird, kann nach Ausweis der hier versammelten Zeugnisse keine Rede sein. Noch Mitte Dezember wollten 71 Prozent der befragten DDR-Bürger, dass ihr Land "ein souveräner Staat bleiben" sollte; nur 27 Prozent wollten "mit der BRD einen gemeinsamen Staat" bilden. Gleichzeitig drang die SPD-Führung um Markus Meckel und Martin Gutzeit auf freie Wahlen, um auf Verhandlungen über die Vereinigung vorbereitet zu sein. Nur eine gewählte Regierung, so ihr Argument, wäre legitimiert, mit der Bundesregierung auf Augenhöhe zu verhandeln.
In diesem Zusammenhang fällt auch neues Licht auf die Führungsrolle von Helmut Kohl. Als Eberhard Diepgen ihn wegen seiner vagen Äußerungen zur Wiedervereinigung in seinem Zehn-Punkte-Programm kritisierte, nahm sich der Bundeskanzler den ehemaligen (und zukünftigen) Regierenden Bürgermeister von Berlin am Rande einer Bundesvorstandssitzung der CDU zur Brust: Wiedervereinigung "dürften wir aus dem Westen nicht fordern. Wenn, dann müsse die Forderung aus der DDR kommen. Nie würden wir sonst die Zustimmung von Thatcher, Mitterrand oder auch Italiens erreichen." Es muss offenbleiben, ob Kohl Anfang Dezember 1989 schon mit einer solchen Forderung rechnete. Aber als sie dann kam, hat er sie gegenüber den westlichen Verbündeten und auch gegenüber Gorbatschow beherzt genutzt.
Kohls strategische Begabung wird auch bei der Vorbereitung der Volkskammerwahlen deutlich. Gegen großen Widerstand in der CDU und insbesondere ihres Generalsekretärs Volker Rühe, so übereinstimmend Diepgen und de Maizière, setzte er Anfang Februar 1990 die Bildung der "Allianz für Deutschland" durch, eines Wahlbündnisses der Partei-Neugründungen Demokratischer Aufbruch und DSU mit der Ost-CDU. Auf diese Weise konnte er sich die etablierte Infrastruktur der bisherigen Blockpartei zunutze machen und zugleich im Wahlkampf als der eigentliche Führer einer christdemokratischen Alternative zu den Sozialdemokraten und zur vordergründig reformierten SED auftreten. Die Frage der Kompromittierung der Ost-CDU war elegant umschifft worden.
Insgesamt bestärken die vielen Beobachtungen, die der Band bietet, den Eindruck, dass es letztlich die Ostdeutschen waren, die die Durchsetzung, den Zeitpunkt und die Form der Wiedervereinigung bestimmten. Ihre Wahlentscheidung vom 18. März 1990 bildete den Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Insofern sollte man eine Anregung Diepgens aufgreifen, der dezidiert von einer "ostdeutschen Revolution" spricht, nicht von einer "friedlichen Revolution". Die Selbstbezeichnung, die einige Wortführer der Demokratiebewegung gewählt haben, läuft Gefahr, das Gewaltpotential zu verharmlosen, vor dessen Hintergrund sie agieren mussten, und die Überwindung der SED-Diktatur vom raschen Vollzug der Einheit zu trennen.
Tatsächlich wirkte beides ineinander - nicht notwendigerweise, aber aufgrund der Entscheidungen, die im Laufe des revolutionären Prozesses getroffen wurden. Dies anzuerkennen böte einen Ansatzpunkt, um die immer noch andauernden Klagen über die Geringschätzung der Lebensleistung gelernter DDR-Bürger, über Kolonisierung und Übernahme zu überwinden. Die deutsche Einheit des Jahres 1990 gehört auch zur Lebensleistung der damaligen DDR-Bürger. WILFRIED LOTH.
Michael Gehler / Oliver Dürkop (Hrsg.): Deutsche Einigung 1989/1990. Zeitzeugen aus Ost und West im Gespräch.
Lau-Verlag, Reinbek 2021, 1844 S., 48,- Euro.
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