Dieses Buch füllt eine Lücke. Die Zivilbevölkerung in den nationalsozialistisch besetzten europäischen Nationen spielt in der Erinnerung an die Opfer bislang kaum eine Rolle. Im Mittelpunkt dieser nach Ländern und Regionen gegliederten Darstellung stehen daher nicht militärische Ereignisse, sondern das Schicksal der Zivilbevölkerung, der Alltag unter der Okkupation, der Widerstand der Besetzten sowie der Terror der Besatzungsmacht. Das Buch leistet einen notwendigen Beitrag zur aktuellen und andauernden Debatte über ein Polendenkmal und das Dokumentationszentrum für alle Opfer der NS-Besatzungspolitik in Berlin.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Auch angesichts der russischen Invasion in der Ukraine findet der hier rezensierende Historiker Florian Keisinger den von Wolfgang Benz herausgegebenen Band zur NS-Besatzung in Europa sehr hilfreich. Die BeiträgerInnen zeichnen nach, wie unterschiedlich sich die deutsche Politik in den verschiedenen Ländern gestaltete: Während im Osten Deportationen und Liquidierungen unmittelbar nach der militärischen Besatzung mit größter "Härte und Rücksichtlosigkeit" durchgeführt wurden, setzten Gewalt und Repression im Westen schrittweise ein. Betonen möchte Keisinger auch, dass die exzessive Gewalt kein exklusives Kennzeichen der SS gewesen sei, sondern auch Wehrmacht und zivilen Behörden eigen.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2022Barbarisierung des Krieges
Ein Sammelband, herausgegeben von Wolfgang Benz, analysiert die Methoden
der NS-Besatzungspolitik. Durch den Angriff Putins auf die Ukraine ein Buch von hoher Relevanz
VON FLORIAN KEISINGER
Die 17 Autorinnen und Autoren des vom Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz herausgegebenen Bandes zur nationalsozialistischen Besatzungspraxis in Europa dürften sich beim Abfassen ihrer Beiträge nicht bewusst gewesen sein, dass ihr Thema bei Erscheinen des Buches gleich in dreifacher Hinsicht von politischer Relevanz sein würde. Erstens, und das war die ursprüngliche Absicht, liefert die Darstellung eine intellektuelle Flankierung und Unterfütterung des vom Bundestag 2020 beschlossenen Dokumentationszentrums zur deutschen Herrschaft in Europa 1938 bis 1945, dessen konzeptionelle Ausgestaltung derzeit in den Händen des Deutschen Historischen Museums (DHM) liegt. Nachdem sich das DHM in den vergangenen Jahren eher durch Personalquerelen als debattenprägende Ausstellungsformate hervorgetan hat, sieht dessen Präsident Raphael Gross im Aufzeigen des NS-Besatzungswesens nun eine Chance, mit „historische Urteilskraft die Auseinandersetzungen im Europa der Gegenwart“ zu stärken.
Die Chancen dafür stehen auf tragische Weise günstig, zumal, und das ist die zweite (unerwartete) politische Relevanz dieses Buches, das Thema der gewaltsamen Besatzungsherrschaft mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine auf brutale Weise auf die europäische Agenda zurückgekehrt ist. Was sich Putin für die Ukraine vorstellt, ist völlig offen; dass es mit Unterdrückung und Leid der Bevölkerung einhergehen wird, darf als sicher gelten.
In Deutschland wiederum, das ist die dritte politische Komponente, fand im Vorfeld der russischen Invasion eine Debatte darüber statt, ob deutsche Waffen an die Ukraine geliefert werden dürften. Ein zentrales Argument der Gegner von Waffenlieferungen lautete, dass Deutschland aufgrund der unermesslichen Gräuel der Besatzungsherrschaft im Osten moralisch nicht befugt sei, Kriegsmaterial bereitzustellen, das gegen Russland eingesetzt werde. Dass diese Logik historisch zumindest einseitig ist, verdeutlicht der Beitrag von Frank Golczewski, der sich mit der NS-Besatzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg befasst. Diese unterschied sich in ihrer Brutalität und Vernichtungskraft nicht von der Praxis anderswo im Osten; die Deportation und Auslöschung der Juden hatte Priorität, die ukrainische Bevölkerung wurde systematisch ausgehungert, Verdächtige gezielt eliminiert. Der Rückzug der deutschen Streitkräfte ab September 1943 war begleitet von einer Politik der „verbrannten Erde“ – „kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene“ sollte nach dem deutschen Abzug in der Ukraine zurückbleiben, so die Anweisung des Reichsführers SS Heinrich Himmler.
Die Lektüre der chronologisch angeordneten, überwiegend länderbezogenen, teilweise strukturell einordnenden Beiträge zeigt, dass sich die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft in Europa nicht über einen Kamm scheren ließ. Dasselbe gilt für die Reaktionen der jeweiligen Zivilgesellschaften und der teilweise im Amt belassenen Regierungen. Während im Osten und Südosten der Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg von Anfang an die Art der Besatzungsherrschaft prägte, wie Svetlana Burmistr für Belarus, Irina Rebrova für den Nordkaukasus und Sabine Rutar für Jugoslawien zeigen, kamen die Repressalien etwa in den Niederlanden und in Belgien (David Barnouw) oder in Frankreich (Bjoern Weigel) sukzessive – gegen echten oder imaginierten Widerstand, oft tatkräftig unterstützt von Teilen der einheimischen Bevölkerungen. Mit Nachsicht wurden allenfalls jene Gebiete bedacht, die aus Gründen der Ernährung oder Rohstoffversorgung für den Kriegsapparat bedeutsam waren. Die gezielte wirtschaftliche Ausbeutung war ein wesentliches Strukturelement der NS-Besatzungspolitik, wie Wolfgang Benz betont.
Eine weitere Konstante, die seit Beginn der deutschen Besatzungsherrschaft Bestand hatte und erstmals mit dem „Anschluss“ Österreichs (Oliver Rathkolb) augenscheinlich wurde, war die Unterdrückung und Verfolgung der Juden und politischer Gegner; spätestens ab 1942 gehörte die Liquidierung beziehungsweise organisierte Deportation der jüdischen Bevölkerungen zum Wesenskern der NS-Besatzungspolitik. Während jedoch im Osten derlei Maßnahmen von Anfang an mit größter Härte und Rücksichtslosigkeit durchgesetzt wurden, war die Entfesselung der Gewalt im Westen ein schrittweiser Prozess, welcher durch die Kriegslage ab 1942/43 und den dadurch angestachelten Widerstandswillen in den besetzten Ländern forciert wurde. Ein Beispiel ist Dänemark (Birgit Müller), das sich trotz deutscher Besatzung eine gewisse Autonomie mit (sozialdemokratischer) Regierung zu bewahren und so seine jüdische Bevölkerung zu schützen vermocht hatte. Doch bedeutete auch hier die deutsche Niederlage bei Stalingrad das Ende der „Friedensbesetzung“. Im September 1943 begann die Deportation dänischer Jüdinnen und Juden durch die Gestapo, wobei der Mut der dänischen Bevölkerung sowie schnelle Fluchtwege nach Schweden dazu führten, dass 90 Prozent der dänischen Juden überlebten. Darin unterschied sich die Besatzung Dänemarks grundlegend von jener anderer europäischer Staaten.
Und noch eines zeigen die Beiträge: Rücksichtslose Gewaltexzesse gegen die Bevölkerungen der besetzten Länder waren kein exklusives Kennzeichen der SS. Wehrmacht, zivile Besatzungsbehörden und auch einheimische Kollaborateure waren aktiv beteiligt, wenn es darum ging, die Unterdrückung und teilweise Vernichtung der Zivilbevölkerungen Europas voranzutreiben.
Dafür zur Rechenschaft gezogen wurden die Täter nur in den seltensten Fällen.
Florian Keisinger ist Historiker.
In Osteuropa ging es von Anfang
an um Vernichtung, anders war
es in Westeuropa – zunächst
Erinnerung an ein unvorstellbares Massaker: Gedenkskulptur in Babyn Jar bei Kiew, wo die deutschen Besatzer an zwei Septembertagen im Jahr 1941 mehr als 33 000 ukrainische Jüdinnen und Juden ermordeten.
Foto: Imago
Wolfgang Benz (Hg.):
Deutsche Herrschaft.
Nationalsozialistische
Besatzung in Europa und die Folgen. Herder-Verlag, Freiburg 2022.
480 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Sammelband, herausgegeben von Wolfgang Benz, analysiert die Methoden
der NS-Besatzungspolitik. Durch den Angriff Putins auf die Ukraine ein Buch von hoher Relevanz
VON FLORIAN KEISINGER
Die 17 Autorinnen und Autoren des vom Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz herausgegebenen Bandes zur nationalsozialistischen Besatzungspraxis in Europa dürften sich beim Abfassen ihrer Beiträge nicht bewusst gewesen sein, dass ihr Thema bei Erscheinen des Buches gleich in dreifacher Hinsicht von politischer Relevanz sein würde. Erstens, und das war die ursprüngliche Absicht, liefert die Darstellung eine intellektuelle Flankierung und Unterfütterung des vom Bundestag 2020 beschlossenen Dokumentationszentrums zur deutschen Herrschaft in Europa 1938 bis 1945, dessen konzeptionelle Ausgestaltung derzeit in den Händen des Deutschen Historischen Museums (DHM) liegt. Nachdem sich das DHM in den vergangenen Jahren eher durch Personalquerelen als debattenprägende Ausstellungsformate hervorgetan hat, sieht dessen Präsident Raphael Gross im Aufzeigen des NS-Besatzungswesens nun eine Chance, mit „historische Urteilskraft die Auseinandersetzungen im Europa der Gegenwart“ zu stärken.
Die Chancen dafür stehen auf tragische Weise günstig, zumal, und das ist die zweite (unerwartete) politische Relevanz dieses Buches, das Thema der gewaltsamen Besatzungsherrschaft mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine auf brutale Weise auf die europäische Agenda zurückgekehrt ist. Was sich Putin für die Ukraine vorstellt, ist völlig offen; dass es mit Unterdrückung und Leid der Bevölkerung einhergehen wird, darf als sicher gelten.
In Deutschland wiederum, das ist die dritte politische Komponente, fand im Vorfeld der russischen Invasion eine Debatte darüber statt, ob deutsche Waffen an die Ukraine geliefert werden dürften. Ein zentrales Argument der Gegner von Waffenlieferungen lautete, dass Deutschland aufgrund der unermesslichen Gräuel der Besatzungsherrschaft im Osten moralisch nicht befugt sei, Kriegsmaterial bereitzustellen, das gegen Russland eingesetzt werde. Dass diese Logik historisch zumindest einseitig ist, verdeutlicht der Beitrag von Frank Golczewski, der sich mit der NS-Besatzung der Ukraine im Zweiten Weltkrieg befasst. Diese unterschied sich in ihrer Brutalität und Vernichtungskraft nicht von der Praxis anderswo im Osten; die Deportation und Auslöschung der Juden hatte Priorität, die ukrainische Bevölkerung wurde systematisch ausgehungert, Verdächtige gezielt eliminiert. Der Rückzug der deutschen Streitkräfte ab September 1943 war begleitet von einer Politik der „verbrannten Erde“ – „kein Mensch, kein Vieh, kein Zentner Getreide, keine Eisenbahnschiene“ sollte nach dem deutschen Abzug in der Ukraine zurückbleiben, so die Anweisung des Reichsführers SS Heinrich Himmler.
Die Lektüre der chronologisch angeordneten, überwiegend länderbezogenen, teilweise strukturell einordnenden Beiträge zeigt, dass sich die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft in Europa nicht über einen Kamm scheren ließ. Dasselbe gilt für die Reaktionen der jeweiligen Zivilgesellschaften und der teilweise im Amt belassenen Regierungen. Während im Osten und Südosten der Weltanschauungs- und Vernichtungskrieg von Anfang an die Art der Besatzungsherrschaft prägte, wie Svetlana Burmistr für Belarus, Irina Rebrova für den Nordkaukasus und Sabine Rutar für Jugoslawien zeigen, kamen die Repressalien etwa in den Niederlanden und in Belgien (David Barnouw) oder in Frankreich (Bjoern Weigel) sukzessive – gegen echten oder imaginierten Widerstand, oft tatkräftig unterstützt von Teilen der einheimischen Bevölkerungen. Mit Nachsicht wurden allenfalls jene Gebiete bedacht, die aus Gründen der Ernährung oder Rohstoffversorgung für den Kriegsapparat bedeutsam waren. Die gezielte wirtschaftliche Ausbeutung war ein wesentliches Strukturelement der NS-Besatzungspolitik, wie Wolfgang Benz betont.
Eine weitere Konstante, die seit Beginn der deutschen Besatzungsherrschaft Bestand hatte und erstmals mit dem „Anschluss“ Österreichs (Oliver Rathkolb) augenscheinlich wurde, war die Unterdrückung und Verfolgung der Juden und politischer Gegner; spätestens ab 1942 gehörte die Liquidierung beziehungsweise organisierte Deportation der jüdischen Bevölkerungen zum Wesenskern der NS-Besatzungspolitik. Während jedoch im Osten derlei Maßnahmen von Anfang an mit größter Härte und Rücksichtslosigkeit durchgesetzt wurden, war die Entfesselung der Gewalt im Westen ein schrittweiser Prozess, welcher durch die Kriegslage ab 1942/43 und den dadurch angestachelten Widerstandswillen in den besetzten Ländern forciert wurde. Ein Beispiel ist Dänemark (Birgit Müller), das sich trotz deutscher Besatzung eine gewisse Autonomie mit (sozialdemokratischer) Regierung zu bewahren und so seine jüdische Bevölkerung zu schützen vermocht hatte. Doch bedeutete auch hier die deutsche Niederlage bei Stalingrad das Ende der „Friedensbesetzung“. Im September 1943 begann die Deportation dänischer Jüdinnen und Juden durch die Gestapo, wobei der Mut der dänischen Bevölkerung sowie schnelle Fluchtwege nach Schweden dazu führten, dass 90 Prozent der dänischen Juden überlebten. Darin unterschied sich die Besatzung Dänemarks grundlegend von jener anderer europäischer Staaten.
Und noch eines zeigen die Beiträge: Rücksichtslose Gewaltexzesse gegen die Bevölkerungen der besetzten Länder waren kein exklusives Kennzeichen der SS. Wehrmacht, zivile Besatzungsbehörden und auch einheimische Kollaborateure waren aktiv beteiligt, wenn es darum ging, die Unterdrückung und teilweise Vernichtung der Zivilbevölkerungen Europas voranzutreiben.
Dafür zur Rechenschaft gezogen wurden die Täter nur in den seltensten Fällen.
Florian Keisinger ist Historiker.
In Osteuropa ging es von Anfang
an um Vernichtung, anders war
es in Westeuropa – zunächst
Erinnerung an ein unvorstellbares Massaker: Gedenkskulptur in Babyn Jar bei Kiew, wo die deutschen Besatzer an zwei Septembertagen im Jahr 1941 mehr als 33 000 ukrainische Jüdinnen und Juden ermordeten.
Foto: Imago
Wolfgang Benz (Hg.):
Deutsche Herrschaft.
Nationalsozialistische
Besatzung in Europa und die Folgen. Herder-Verlag, Freiburg 2022.
480 Seiten, 28 Euro.
E-Book: 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"[...] ein Buch von hoher Relevanz." Florian Keisinger Süddeutsche Zeitung 20220321