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Antijüdische Boykotte in Deutschland 1924 bis 1935
Jeder kennt die Fotos der grimmigen SA-Posten vor jüdischen Geschäften während des Boykotts vom 1. April 1933. Was spielte sich aber hinter der Ladentüre ab? Die Ernst-Fraenkel-Preisträgerin Hannah Ahlheim legt in ihrer Untersuchung der antijüdischen Boykotte in Deutschland zwischen 1924 und 1935 den Schwerpunkt auf die "Perspektive der jüdischen Betroffenen". Sie reagiert damit auf den berechtigten Ruf nach einer ausgewogenen Interpretation des Antisemitismus durch Einbeziehung der Sicht der Opfer. Detailreich werden die verschiedenen antijüdischen Boykotte in ihren regionalen Ausprägungen untersucht. Frau Ahlheim hat in großer Fleißarbeit auch entlegene Dokumente aufgespürt, die sie dem Leser nicht vorenthält. Positiv zu vermerken ist insbesondere der Versuch, nicht allein Erfolg oder Misserfolg einzelner Boykottaktionen zu untersuchen, sondern das Phänomen einer schleichenden Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung insgesamt nachzuzeichnen.
Die öffentliche Stigmatisierung eines Geschäftes als "jüdisch" konnte dazu führen, dass eine antisemitisch geprägte Kundschaft ihre Einkäufe in Zukunft bei der "christlichen" Konkurrenz tätigte. Durch den gewählten Untersuchungszeitraum durchbricht Ahlheim dabei wohltuend die gängige Periodisierung und richtet den Blick auf die Kontinuitäten vor und nach 1933. Problematisch erscheint jedoch die grundlegende Schlussfolgerung, die Deutschen hätten allein dadurch, dass sie sich während der Boykotte sensationslüstern zusammenrotteten, ihre Funktion im Sinne der Nationalsozialisten "vorbildlich" erfüllt. Isolierte die NSDAP jüdische Unternehmer wirklich umfassend, wenn die Bevölkerung die Ereignisse während der Boykotte ausgiebig debattierte? Deren Auswirkungen sollten doch weit vielschichtiger bewertet werden. Ist es nicht viel verwunderlicher, dass noch 1935 in beinahe jedem NS-Stimmungsbericht beklagt wird, dass die Menschen, sogar Parteigenossen, unbeirrt weiter in jüdischen Geschäften einkauften?
Durch die Fokussierung auf die Sicht der Boykottgeschädigten verliert die Autorin leider den Blick für das Ganze. Eine Systematisierung der Wirkmächtigkeit der Boykottaktionen nimmt sie nicht vor. Ihre wenig überraschenden Schlussfolgerungen laufen darauf hinaus, dass die Situation von Ort zu Ort verschieden gewesen sei und die jüdische Bevölkerung durch die antisemitische Agitation im Verlauf der dreißiger Jahre immer stärker in die Isolation getrieben worden wäre. Frau Ahlheim verharrt stark auf einer narrativen Ebene, gibt ausführlich Originaldokumente und Forschungsdebatten wieder, leistet jedoch zu wenig eigene analytische Arbeit. Zugleich vermisst man eine Einordnung des Themas in größere politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Boykotte scheinen geradezu aus dem Nichts aufzutauchen. Es wird nicht geklärt, in welchem Zusammenhang diese Maßnahmen etwa mit dem "Legalitätskurs" der NSDAP vor 1933 standen oder welche Rolle die Boykotte im Prozess der "Machtergreifung" spielten. Weshalb kam es gerade 1935 zu einem erneuten Aufflammen der Bewegung? Die Autorin verweist hier unter anderem auf eine vermeintlich hohe Arbeitslosigkeit, was in Zeiten annähernder Vollbeschäftigung nicht überzeugt.
Wenig ertragreich ist auch der Ansatz, das Wesen der NSDAP vorwiegend über die Äußerungen der Gegner und Opfer des Nationalsozialismus zu ergründen. Die verwendeten Quellen ergehen sich in abfälligen Äußerungen über die Partei, denen man in menschlicher Hinsicht nur beipflichten möchte. Dem Wissenschaftler bietet diese Sichtweise jedoch kaum aussagekräftige Erklärungsmuster. So bleibt denn auch die Beschreibung des Antisemitismus in der NSDAP bis 1933 seltsam blass und wird nur teilweise durch die Wiedergabe der gängigen Forschungsinterpretationen aufgebessert. Es wird keinerlei Differenzierung zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb der Partei vorgenommen, so etwa den Vertretern des unteren Mittelstandes, primäre Befürworter der Boykotte, und den stärker "legalistisch" orientierten bürgerlichen Kreisen.
Frau Ahlheim arbeitet auch für die Zeit nach 1933 keine unterschiedlichen Gruppen von Akteuren mit verschiedenartigen Zielsetzungen heraus. Die Frage der Boykotte hätte sich jedoch in idealer Weise dazu angeboten, die fatale Interaktion zwischen Normen- und Maßnahmenstaat anhand dieses konkreten Beispiels zu untersuchen. Damit hätten die scheinbaren Widersprüche zwischen den Anweisungen der Reichsbehörden und den Handlungen radikaler Antisemiten auf lokaler Ebene eine einleuchtende Erklärung gefunden. Die Autorin verweist hier auf eine vermeintlich "flexible Politik der Nationalsozialisten". Zugleich stellt sie verwundert fest, dass etwa das Reichswirtschaftsministerium eng mit jüdischen Organisationen zusammenarbeite. Bei einer Differenzierung zwischen radikalen Nationalsozialisten und stärker "legalistisch" orientierten Kreisen hätte dies wenig überrascht.
Die Reichsverwaltung wollte Störungen im Wirtschaftskreislauf - ausgelöst durch die in den Augen der Ministerialen überflüssigen Boykotte - vermeiden und versuchte deshalb, mäßigend auf antisemitische Agitatoren einzuwirken. Die antijüdische Segregationspolitik sollte schließlich streng "gesetzeskonform" umgesetzt werden. Illegale Handlungen wie Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte wollte man nicht tolerieren, auch wenn eine Beschränkung des "jüdischen Einflusses" im Wirtschaftsleben durchaus befürwortet wurde. Dieser sollte jedoch auf einem anderen Weg erreicht werden.
MICHAEL MAYER
Hannah Ahlheim: "Deutsche, kauft nicht bei Juden!" Antisemitismus und politischer Boykott in Deutschland 1924 bis 1935. Verlag Wallstein, Göttingen 2011. 448 S., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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