Ein Leutnant des Kaiserreichs, ein Offizier der Wehrmacht und ein Zugführer der Task Force Kunduz des Jahres 2010 haben mehr gemeinsam, als wir glauben. Zu diesem überraschenden Schluss kommt Sönke Neitzel, der die deutsche "Kriegerkultur" in all ihren Facetten untersucht. Seine Bilanz: Soldaten folgen der Binnenlogik des Militärs, sie sollen kämpfen und auch töten. Das gilt für die großen Schlachten im Ersten Weltkrieg, den verbrecherischen Angriffskrieg der Wehrmacht und aber auch für die Auslandseinsätze der Bundeswehr. In einer großen historischen Analyse durchmisst Neitzel das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Militär und zeigt, wie sich die Kultur des Krieges über die Epochen veränderte. 75 Jahre nach Kriegsende geht es darum, das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu ihrer Armee neu zu bestimmen. Dieses Buch liefert die Grundlagen.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.11.2020„Nicht einmal genug Munition“
Kampflustig beleuchtet Sönke Neitzel das deutsche Militärwesen
Spätestens als in Haus und Garten eines Mitglieds des Kommandos Spezialkräfte (KSK) ein Waffenlager entdeckt wurde, war das Problem nicht mehr zu leugnen. Die Verteidigungsministerin löste eine KSK-Kompanie auf und setzte einen Reformprozess in Gang. Die rechtsradikalen Vorfälle hatten sich schon lange vor dem Fund im Mai gehäuft. Auch angesichts dieser jüngsten Debatten um das KSK stelle sich die Frage, so der Historiker Sönke Neitzel in seinem neuen Buch, wozu man die Einheit überhaupt benötige. Sie komme ohnehin kaum zum Zug und sei im Afghanistaneinsatz die meiste Zeit unzureichend ausgestattet gewesen: „Braucht man wirklich ein KSK, das World Champion of Training ist?“
Ähnlich beschreibt er die Lage der Bundeswehr insgesamt. Entweder sollte man nun „ernsthaft“ militärische Handlungsfähigkeit anstreben oder sich zur Rolle einer Zivilmacht bekennen. Letzteres sei immerhin ehrlich und konsequent. Denn für „den Kampf gegen einen hochgerüsteten Gegner hat die Bundeswehr nach wie vor noch nicht einmal genug Munition“.
Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, hat eine Monografie vorgelegt, die sich mit der Geschichte der deutschen Soldaten befasst: Sie setzt beim Militär im Kaiserreich an, führt über die Reichswehr der Weimarer Republik und die Wehrmacht im Nationalsozialismus zur Nationalen Volksarmee der DDR und zur Bundeswehr. Ihr ist die zweite Hälfte der Studie gewidmet, die sich auf Archivquellen, Literatur und (in der Hauptsache anonyme) Zeitzeugeninterviews stützt.
Neitzels Bücher „Abgehört“ und „Soldaten“, die Abhörprotokolle deutscher Soldaten in britischer und amerikanischer Gefangenschaft zur Grundlage haben, waren große Erfolge. Er schreibt direkt und flüssig, bemüht sich um Sprachbilder und spitzt zu. Das macht ihn zu einem beliebten Gesprächspartner. Wenn Entwicklungen rund um Bundeswehr und Verteidigungsministerium zu kommentieren sind, ist er nicht weit.
Wer sein Buch „Deutsche Krieger“ nennt, hat etwas vor. Neitzel geht es um Soldaten über die Zeiten und Systeme hinweg. Dabei will der Autor auf „bemerkenswerte Kontinuitäten“ hinweisen, die er im „grundsätzlichen Verständnis vom Krieg und dem daraus abgeleiteten Führungsdenken“ sieht. Das Militär sei eine „Welt mit eigenen Werten und Normen“: „Die reale oder potenzielle Erfahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben unterscheidet die Streitkräfte fundamental von anderen gesellschaftlichen Gruppen.“ Freilich geht es in diesem Buch nicht nur um eine besondere Berufsgruppe, die Klammer der Untersuchung ist die Nation.
Drei Aspekte sind Neitzel wichtig: die jeweiligen Rahmenbedingungen, die Binnenstruktur und die „handwerkliche Ebene“. In den Teilen über das Militär im Kaiserreich und die Wehrmacht gibt es außerdem Kapitel über Verbrechen, etwa zu den Kolonien und zum Vernichtungskrieg. Neitzel interessiert sich vor allem für militärische Traditionslinien. In der ersten Hälfte des Buches spielen Kriegsverläufe, Strategie, Taktik und Lernprozesse eine große Rolle, aber auch Aspekte wie Sozialstruktur und Kohäsion.
Der 1955 gegründeten Bundeswehr wurde dann, so Neitzel, meist Skepsis entgegengebracht, insbesondere Kampfeinsätzen stand man reserviert gegenüber. Intern gab es zwar Leitbilder wie „Staatsbürger in Uniform“ und Konzepte wie „Innere Führung“. Andererseits aber „knüpfte man an Vergangenes an, etwa die alte Führungskultur, übernahm Vorschriften der Wehrmacht und sonnte sich im Mythos ihrer handwerklichen Exzellenz“.
Besser kommt da in der historischen Rückschau die NVA weg. Bei ihrem Aufbau sei zwar mehr auf politische Zuverlässigkeit geachtet worden als auf militärische Fachkenntnisse. Ende der Sechzigerjahre waren die daraus entstandenen Nachteile allerdings, laut Neitzel, ausgeglichen. Die DDR habe gezeigt, dass man „Streitkräfte auch ohne überkommene Traditionen und weitgehend ohne die Elite der Vorgängerarmee, in diesem Fall der Wehrmacht“, aufbauen konnte. Von der Kasernierten Volkspolizei über eine Freiwilligenarmee sei sie zu einer Wehrpflichtarmee geworden (ab 1964 konnte ein waffenloser Wehrdienst als Bausoldat geleistet werden), die mit der preußisch-deutschen Tradition der Elitenrekrutierung gebrochen habe. Ihre Professionalität findet Neitzel bemerkenswert, so habe die NVA wesentlich schneller als die Bundeswehr mobilmachen können; erst seit den Achtzigern habe aufgrund ökonomischer Probleme die Gefechtsbereitschaft gelitten.
Das Buch ist zuallererst eine historische Gesamtdarstellung, es gelangt jedoch immer wieder in die Gegenwart. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Neitzel sich als Vermittler zwischen den Welten versucht. So erregte das Buch schon vor seinem Erscheinen Aufsehen. Anlass dafür bieten anonyme Berichte von Bundeswehrsoldaten aus dem Afghanistaneinsatz, die Neitzel wiedergibt: „Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin.“ Außerdem ist die Rede von in US-Gefangenschaft getöteten Taliban-Kämpfern. Dass Aussagen wie diese zu unspezifisch sind, räumte der Autor dann aber selbst ein.
ISABELL TROMMER
Sönke Neitzel:
Deutsche Krieger.
Vom Kaiserreich
zur Berliner Republik
– eine Militärgeschichte.
Propyläen Verlag,
Berlin 2020.
836 Seiten, 35 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kampflustig beleuchtet Sönke Neitzel das deutsche Militärwesen
Spätestens als in Haus und Garten eines Mitglieds des Kommandos Spezialkräfte (KSK) ein Waffenlager entdeckt wurde, war das Problem nicht mehr zu leugnen. Die Verteidigungsministerin löste eine KSK-Kompanie auf und setzte einen Reformprozess in Gang. Die rechtsradikalen Vorfälle hatten sich schon lange vor dem Fund im Mai gehäuft. Auch angesichts dieser jüngsten Debatten um das KSK stelle sich die Frage, so der Historiker Sönke Neitzel in seinem neuen Buch, wozu man die Einheit überhaupt benötige. Sie komme ohnehin kaum zum Zug und sei im Afghanistaneinsatz die meiste Zeit unzureichend ausgestattet gewesen: „Braucht man wirklich ein KSK, das World Champion of Training ist?“
Ähnlich beschreibt er die Lage der Bundeswehr insgesamt. Entweder sollte man nun „ernsthaft“ militärische Handlungsfähigkeit anstreben oder sich zur Rolle einer Zivilmacht bekennen. Letzteres sei immerhin ehrlich und konsequent. Denn für „den Kampf gegen einen hochgerüsteten Gegner hat die Bundeswehr nach wie vor noch nicht einmal genug Munition“.
Neitzel, Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam, hat eine Monografie vorgelegt, die sich mit der Geschichte der deutschen Soldaten befasst: Sie setzt beim Militär im Kaiserreich an, führt über die Reichswehr der Weimarer Republik und die Wehrmacht im Nationalsozialismus zur Nationalen Volksarmee der DDR und zur Bundeswehr. Ihr ist die zweite Hälfte der Studie gewidmet, die sich auf Archivquellen, Literatur und (in der Hauptsache anonyme) Zeitzeugeninterviews stützt.
Neitzels Bücher „Abgehört“ und „Soldaten“, die Abhörprotokolle deutscher Soldaten in britischer und amerikanischer Gefangenschaft zur Grundlage haben, waren große Erfolge. Er schreibt direkt und flüssig, bemüht sich um Sprachbilder und spitzt zu. Das macht ihn zu einem beliebten Gesprächspartner. Wenn Entwicklungen rund um Bundeswehr und Verteidigungsministerium zu kommentieren sind, ist er nicht weit.
Wer sein Buch „Deutsche Krieger“ nennt, hat etwas vor. Neitzel geht es um Soldaten über die Zeiten und Systeme hinweg. Dabei will der Autor auf „bemerkenswerte Kontinuitäten“ hinweisen, die er im „grundsätzlichen Verständnis vom Krieg und dem daraus abgeleiteten Führungsdenken“ sieht. Das Militär sei eine „Welt mit eigenen Werten und Normen“: „Die reale oder potenzielle Erfahrung vom Kämpfen, Töten und Sterben unterscheidet die Streitkräfte fundamental von anderen gesellschaftlichen Gruppen.“ Freilich geht es in diesem Buch nicht nur um eine besondere Berufsgruppe, die Klammer der Untersuchung ist die Nation.
Drei Aspekte sind Neitzel wichtig: die jeweiligen Rahmenbedingungen, die Binnenstruktur und die „handwerkliche Ebene“. In den Teilen über das Militär im Kaiserreich und die Wehrmacht gibt es außerdem Kapitel über Verbrechen, etwa zu den Kolonien und zum Vernichtungskrieg. Neitzel interessiert sich vor allem für militärische Traditionslinien. In der ersten Hälfte des Buches spielen Kriegsverläufe, Strategie, Taktik und Lernprozesse eine große Rolle, aber auch Aspekte wie Sozialstruktur und Kohäsion.
Der 1955 gegründeten Bundeswehr wurde dann, so Neitzel, meist Skepsis entgegengebracht, insbesondere Kampfeinsätzen stand man reserviert gegenüber. Intern gab es zwar Leitbilder wie „Staatsbürger in Uniform“ und Konzepte wie „Innere Führung“. Andererseits aber „knüpfte man an Vergangenes an, etwa die alte Führungskultur, übernahm Vorschriften der Wehrmacht und sonnte sich im Mythos ihrer handwerklichen Exzellenz“.
Besser kommt da in der historischen Rückschau die NVA weg. Bei ihrem Aufbau sei zwar mehr auf politische Zuverlässigkeit geachtet worden als auf militärische Fachkenntnisse. Ende der Sechzigerjahre waren die daraus entstandenen Nachteile allerdings, laut Neitzel, ausgeglichen. Die DDR habe gezeigt, dass man „Streitkräfte auch ohne überkommene Traditionen und weitgehend ohne die Elite der Vorgängerarmee, in diesem Fall der Wehrmacht“, aufbauen konnte. Von der Kasernierten Volkspolizei über eine Freiwilligenarmee sei sie zu einer Wehrpflichtarmee geworden (ab 1964 konnte ein waffenloser Wehrdienst als Bausoldat geleistet werden), die mit der preußisch-deutschen Tradition der Elitenrekrutierung gebrochen habe. Ihre Professionalität findet Neitzel bemerkenswert, so habe die NVA wesentlich schneller als die Bundeswehr mobilmachen können; erst seit den Achtzigern habe aufgrund ökonomischer Probleme die Gefechtsbereitschaft gelitten.
Das Buch ist zuallererst eine historische Gesamtdarstellung, es gelangt jedoch immer wieder in die Gegenwart. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Neitzel sich als Vermittler zwischen den Welten versucht. So erregte das Buch schon vor seinem Erscheinen Aufsehen. Anlass dafür bieten anonyme Berichte von Bundeswehrsoldaten aus dem Afghanistaneinsatz, die Neitzel wiedergibt: „Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin.“ Außerdem ist die Rede von in US-Gefangenschaft getöteten Taliban-Kämpfern. Dass Aussagen wie diese zu unspezifisch sind, räumte der Autor dann aber selbst ein.
ISABELL TROMMER
Sönke Neitzel:
Deutsche Krieger.
Vom Kaiserreich
zur Berliner Republik
– eine Militärgeschichte.
Propyläen Verlag,
Berlin 2020.
836 Seiten, 35 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Die meisten Deutschen stellen sich deutsche Militärs als "friedliche Retter" vor, glaubt Thomas Speckmann, doch Realität und Selbstwahrnehmung der Soldaten sehen anders aus. In "Deutsche Krieger" beleuchtet der Militärhistoriker Sönke Neitzel verschiedene militärische Bereiche vom Deutschen Kaiserreich bis heute und macht dabei einige Kontinuitäten sichtbar, die für unbedarfte Leser überraschend sein dürften, so Speckmann. Als Außenstehender in einer weitgehend friedliebenden Gesellschaft macht man sich doch kaum bewusst, dass für viele Soldaten das kriegerische Gefecht immer noch im Mittelpunkt ihrer beruflichen Tätigkeit steht. Die militärische Welt hat sich daher in den letzten 150 Jahren sehr viel weniger verändert als die Außenwelt. Immer noch existiert hier eine Kriegerkultur und ein soldatisches Selbstverständnis, das sich an Vor- und Idealbildern des "tapferen und harten Soldaten" orientiert. Und diese Vorbilder wiederum werden nicht selten dem Wehrmachtskontext entnommen, erklärt Speckmann. Eine kluge, informative Arbeit, die gerade zur rechten Zeit kommt, so resümiert der überzeugte Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Neitzel gelingt es, die Denk- und Gefühlswelten von Männern und Frauen zu beleuchten, die bei Auslandseinsätzen im Zweifelsfall wirklich kämpfen. [...] Er arbeitet bemerkenswerte Kontinuitäten heraus, die sich in der Binnenwelt des deutschen Militärs [über die vergangenen 150 Jahre] erhalten haben." Thomas Speckmann Neue Zürcher Zeitung 20210419