Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Hass bricht sich Bahn / Der 7. Oktober und die Folgen für die Juden in Deutschland
Auf den ersten Seiten liest sich "Deutsche Lebenslügen" fast wie eine Autobiographie, wie ein Einblick in die Seelenwelt von Philipp Peyman Engel, dem Chefredakteur der Wochenzeitung "Jüdische Allgemeine". Es geht um seine Mutter, die aus Iran stammt und nach Deutschland floh, weil sie sich dort sicher wähnte, als die Mullahs die Macht in ihrer Heimat übernahmen. Es geht um Tahdig, die Leibspeise Engels, um sein Aufwachsen im Ruhrgebiet als persischer Jude.
Schon in der Kindheit erlebte Engel, dass sein Jüdisch-Sein ein Anders-Sein ist, und bei Bedarf gegen ihn verwendet wird - sowohl von migrantischen Mitschülern in Witten als auch von einem Nachhilfelehrer. Jetzt, vor dem Hintergrund des 7. Oktobers und der Folgen des Massakers der Hamas in Israel, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Denn, so schreibt Engel, mit dem Massaker der Hamas in Israel seien antisemitische Einstellungen und Hass hervorgebrochen, auch in Deutschland. Und die verschiedensten Gruppen seien sich in einer Sache unheimlich einig: dass Juden ein Problem sind. Ja, es ist ein sehr persönliches Buch. Aber zugleich ein höchst politisches.
In zehn Kapiteln erzählt Engel von seinen Erlebnissen, ordnet sie jedoch stets in einen historischen Kontext ein und belegt seine Thesen anhand von Fakten und Statistiken. "Deutsche Lebenslügen" ist kein Befindlichkeitsbericht. Es geht um das große Ganze, um die Entwicklung Europas, um autokratische Herrscher und Aspiranten, die AfD, um einen Nazi-Radiosender, der im Nahen Osten Hitlers Judenhass verbreitete, und die Auslegung des Korans auf Tiktok. Nach und nach entwickelt Engel so ein aktuelles Bild des Antisemitismus in Deutschland, Europa, den Vereinigten Staaten und dem Nahen Osten. Es ist eine Analyse - das ist ihm das wichtigste Anliegen in diesem Buch -, die nicht auf dem linken Auge blind ist. Dazu passt eine der "Lebenslügen", mit denen er aufräumen will: "Antisemitismus gab es nach 1945 nur von rechts."
Gerade von linken Kräften sei es tabuisiert, über den Judenhass von Muslimen zu sprechen, kritisiert Engel. Er zeichnet darum Kontinuitäten und Verbindungen zwischen verschiedenen Formen des Antisemitismus nach. Besonders erhellend ist das Kapitel, das darstellt, wie ein Propagandasender der Nationalsozialisten Einfluss auf antisemitische Einstellungen in Nordafrika und der arabischen Welt nahm: Eine Studie belegt, dass in diesen Gebieten, wo der Kurzwellensender empfangen wurde, 75 Prozent der Muslime antisemitischen Aussagen zustimmen. In Asien dagegen, wohin der Sender nicht funkte, stimmen nur 37 Prozent der Muslime diesen Aussagen zu. "Folgt man der These von Jeffrey Herf, haben die Deutschen den muslimischen Antisemitismus in dieser Form überhaupt erschaffen - und er kehrt nun über Einwanderer und Migranten aus vielen arabischen und muslimischen Staaten zu uns zurück", schreibt Engel. "In ihm verbindet sich das antijudaistische Element des Korans mit dem rassistisch-mörderischen des Nationalsozialismus."
Dass nun Linke diesen Hass nicht verurteilen wollen oder die Muslime, die ihn pflegen, als Opfer in Schutz nehmen, wirkt vor diesem Hintergrund nur noch unaufgeklärt. Engel verwahrt sich gegen den Vorwurf, so nur Wasser auf die Mühlen der AfD und anderer rechtsextremer Kräfte zu gießen. "Aus Angst, als ,rechts' dazustehen, wurde das Problem lieber verschwiegen. Eine deutsche Lebenslüge, die zynischerweise die rechtsextreme AfD gestärkt hat, weil sie lange Zeit als einzige Partei dieses Problem thematisiert hat."
Überraschend kommt einem der aufwallende Judenhass in den Berliner Hörsälen oder auf Frankfurter Straßen nicht mehr vor, wenn man "Deutsche Lebenslügen" liest: Das Phänomen gibt es schon lange. Da sind der Israelhass der 68er oder die Flugzeugentführung von Entebbe, aber auch in der jüngeren Vergangenheit die zögerlichen Reaktionen auf Eklats wie um die Documenta 15 von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Die Grünen), die Engel ebenso wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier scharf kritisiert. Auch die zunehmenden verbalen Eskalationen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bildet Engel ab. Dagegen schneidet er immer wieder Straftaten und Statistiken, die den muslimisch motivierten Antisemitismus in Deutschland belegen und so dem "Irren vom Bosporus" Einfluss auf die türkische Minderheit hierzulande zuschreiben.
Letztlich fragt Engel, ob es den Deutschen wirklich gelungen ist, ihr Versprechen "Nie wieder" nach dem beispiellosen Zivilisationsbruch der Schoa einzulösen. Die knappe Antwort lautet: nein. "Die Deutschen haben nach Krieg und Schoah nur gelernt, die Klappe zu halten." THERESA WEISS
Philipp Peyman Engel: Deutsche Lebenslügen. Der Antisemitismus, wieder und immer noch.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2024. 192 S., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main