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Der wachsende Antisemitismus in Polen und in Deutschland während der dreißiger Jahre
Yfaat Weiss: Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust. Jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität 1933-1940. Oldenbourg Verlag, München 2000. 252 Seiten, 40,- Mark.
Der Vergleich der Lage der Juden in Polen und in Deutschland am Vorabend der Shoa wirft eine Reihe überraschender Fragestellungen auf. Die israelische Historikerin Yfaat Weiss macht deutlich, daß, wer einen solchen Vergleich unternimmt, nicht von der "Existenz eines jüdischen Kollektivs als einheitlicher Körperschaft mit gemeinsamen Zielen und Handlungsweisen" ausgehen kann. Das jeweilige Selbstverständnis war anders gelagert, hat zum Teil wenig miteinander zu tun, was mit den historisch-politischen Entwicklungen zusammenhängt, die in Polen und Deutschland unterschiedlich verlaufen sind.
Anders als in Osteuropa verstanden sich die in Deutschland lebenden Juden in erster Linie als Deutsche, dann erst als Juden. Sie definierten sich als "deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens", was bedeutete, daß sie nicht von einer ethnischen, sondern von einer konfessionellen Zugehörigkeit ausgingen. Die deutschen Juden lebten denn auch in Sprache, Kleidung und Umgangsformen angepaßt. Von ihren nichtjüdischen Mitbürgern unterschieden sie sich nicht, allenfalls in kaum wahrnehmbaren Nuancen.
Während in Deutschland sich das Selbstverständnis deutscher Juden aus der deutschen Staatsbürgerschaft ableitete, beruhte es in Polen auf dem Gefühl jüdisch-nationaler Zugehörigkeit. Letzteres hing wiederum damit zusammen, daß der Gleichstellungsprozeß in den osteuropäischen Regionen vergleichsweise sehr spät einsetzte und die polnischen Juden die volle bürgerliche Gleichberechtigung erst nach dem Ersten Weltkrieg mit den Bestimmungen des Versailler Vertrages und der Schaffung des polnischen Staates erhalten hatten.
Als Hitler an die Macht kam, hatte das auch Auswirkungen auf den Status der Juden in den osteuropäischen Ländern. In Polen erhielt die nationalistisch-antisemitische Opposition Auftrieb. Insbesondere nach dem Tod des polnischen Präsidenten Pilsudski verschlechterte sich Mitte der dreißiger Jahre die Lage der Juden rapide. Rechte Kreise, die sich im "Endecja-Block", dann im "Lager der nationalen Einheit" organisierten, zeigten "Verständnis" und "Begeisterung" für das "Nationale Erwachen" im Nachbarland. Sie waren gewillt, die deutsche Judenpolitik auf Polen zu übertragen.
Weiss vertritt die These, daß der wachsende Antisemitismus in Polen Anfang der dreißiger Jahre im Lichte der deutsch-polnischen Beziehungen gesehen werden sollte, da Zusammenhänge existierten, die bisher von der Forschung nicht berücksichtigt worden seien. Wie in Deutschland, habe auch in Polen eine Politik der Ausgrenzung gegenüber der Juden eingesetzt. Gewalt und Demütigungen waren an der Tagesordnung. In den Universitäten zum Beispiel wurden für jüdische Studenten separate Sitzplätze in Hörsälen eingerichtet. Es war eine Politik, die zu einem drastischen Rückgang der Zahl jüdischer Studierender führte.
Wie in NS-Deutschland, wo es zu vom Regime organisierten antijüdischen Boykottmaßnahmen kam, war es auch in Polen so, daß von der "Endecja" unterstützte Gruppen den Handel mit Juden unterbanden und davor warnten, in "jüdischen" Geschäften einzukaufen. "Arische" Betriebe wurden als solche gekennzeichnet und wie in Streichers "Stürmer" Listen von Personen veröffentlicht, die sich nicht an Boykottmaßnahmen gegenüber jüdischen Geschäften hielten. Analog zu den "Nürnberger Gesetzen" kam es auch in Polen zu Versuchen, "Rassegesetze" zu verhängen - allerdings hatten diese Bemühungen zunächst nicht den erwünschten Erfolg, da derartige Unterfangen im Widerspruch zur Verfassung standen.
Obgleich in Polen in den dreißiger Jahren ein massiver Antisemitismus existierte, gab es im Vergleich zu Deutschland einen gravierenden Unterschied. So wies der polnische Antisemitismus keine wirklich rassistischen Züge auf. Die polnischen Juden konnten sich auf verfassungsmäßige Rechte stützen und hatten sogar eigene Vertreter im Seijm, dem Parlament Polens. Andererseits waren sie aber doch wesentlich schlechter gestellt als in Deutschland, was wiederum mit dem Antisemitismus zusammenhing, der die Juden aus dem wirtschaftlichen und dem gesellschaftlichen Leben Polens ausgrenzte. Die Folge war ein rasanter Verarmungsprozeß, der die polnischen Juden bereits Mitte der dreißiger Jahre bis hart an den Rand ihrer Existenz führte.
Es mag sein, daß in Deutschland ein Großteil der Bevölkerung entrüstet über die Judenpolitik der Nationalsozialisten war. Aber ebenso steht fest, daß nichts gegen die vom Regime gesteuerten Aktionen getan wurde. Man sah zu und schwieg. Das war anders in Polen, wo sich der Pöbel an den Übergriffen gegen Juden handgreiflich beteiligte. Es war ein bei weitem rabiaterer Antisemitismus als in Deutschland, ein Antisemitismus, der seine Kraft aus der Straße zog. In den Jahren 1935 und 1936, so haben die Historiker ermittelt, wurden Hunderte von Juden bei gewalttätigen Ausschreitungen in Polen verletzt oder getötet.
Auffällig ist, daß sich die Juden in Polen gegen Angriffe zur Wehr gesetzt haben. Der "Bund" zum Beispiel, eine jüdisch-sozialistische Partei, organisierte unter Waffeneinsatz Selbstverteidigungsmaßnahmen zum Schutz von Geschäftsbesitzern und von Händlern auf den Märkten. In den öffentlichen Parkanlagen wurden Streifendienste organisiert, die für die Sicherheit jüdischer Frauen und Kinder sorgten. Im Vergleich zu Deutschland, wo sich die Juden hilflos der Gewalt ergaben, war es in Polen so, daß körperliche Selbstverteidigung und bewaffneter Kampf als legitime Mittel der Selbstbehauptung angesehen wurden. Das war jedoch nur so lange möglich, wie die Regierung bereit war, jüdisches Leben in Polen zu schützen.
Erstaunlich ist, daß die deutschen Juden ihre Augen vor dem verschlossen, was im Nachbarland geschah. Das deutsch-jüdische Bürgertum empfand in seiner überwiegenden Mehrheit die Ostjuden als schmutzig, roh, unsittlich und kulturell rückständig. In Romanen wie Lion Feuchtwangers "Die Geschwister Oppermann" und Israel Joshua Singers "Mischpoche Karnowski" kann man nachlesen, wie wenig angesehen das Ostjudentum bei den deutschen Juden war. Walther Rathenau zum Beispiel sah die Ostjuden als eine "asiatische Horde" an, als einen "fremdartigen Menschenstamm". Und Theodor Wolff, der Chefredakteur des "Berliner Tageblatts" und Mitbegründer der Demokratischen Partei, sprach von "unerfreulichen Schacherfiguren" und "lichtfeindlich wirkenden Gestalten".
Die deutschen Juden haben in den Ostjuden die Sündenböcke für all das gesehen, was ihnen widerfuhr. Durch ihr Erscheinen und ihr Auftreten, meinten sie, würden in der Bevölkerung antisemitische Gefühle provoziert. Hinter diesem Haß, der teilweise fast schon irreale Züge hatte, steckten tiefsitzende Bedrohungsängste. Die ab Mitte der zwanziger Jahre zunehmende Zahl osteuropäischer Juden, die unter anderem das Bild rund um die Berliner Grenadierstraße ("Scheunenviertel") prägte, löste bei vielen deutschen Juden die Angst vor einer "Überfremdung" aus. Selbst ein so kluger und liberaler Kopf wie Theodor Wolff konnte nicht recht einsehen, warum Hitler und die Nationalsozialisten nicht zwischen einem Juden aus Lodz und einem aus Berlin unterschieden.
JULIUS H. SCHOEPS
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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