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Stig Dagerman (1923–1954) wurde 1946 von der schwedischen Zeitung "Expressen" beauftragt, Deutschland zu bereisen und ein Bild des zerstörten Landes nach dem Weltkrieg zu geben. Ein Reisebericht in 13 Stationen über Berlin, Hamburg, das Ruhrgebiet, Frankfurt, Heidelberg und München, aber auch über die dazwischenliegenden ländlichen Regionen, über Zugfahrten, Politikerauftritte und Gerichtsprozesse entstand in diesem regnerischen Herbst 1946, der geprägt ist von Ruinen und Hunger, unterdrückter Kontinuität nationalsozialistischen Denkens und dem erhofften Aufbruch durch die alliierte…mehr

Produktbeschreibung
Stig Dagerman (1923–1954) wurde 1946 von der schwedischen Zeitung "Expressen" beauftragt, Deutschland zu bereisen und ein Bild des zerstörten Landes nach dem Weltkrieg zu geben. Ein Reisebericht in 13 Stationen über Berlin, Hamburg, das Ruhrgebiet, Frankfurt, Heidelberg und München, aber auch über die dazwischenliegenden ländlichen Regionen, über Zugfahrten, Politikerauftritte und Gerichtsprozesse entstand in diesem regnerischen Herbst 1946, der geprägt ist von Ruinen und Hunger, unterdrückter Kontinuität nationalsozialistischen Denkens und dem erhofften Aufbruch durch die alliierte Demokratisierung. Stig Dagerman begegnet den Menschen auf seiner Reise nie mit moralischer Überlegenheit – sondern mit Interesse und Mitgefühl, im Versuch, die gesellschaftliche wie persönliche Situation jedes Einzelnen zu verstehen. In jenem Herbst erlebt Stig Dagerman mit seinem zweiten Roman in Schweden gerade den Durchbruch: Seine Frau schickt ihm die begeisterten Rezensionen, und er schämt sich im Angesicht der Zerstörung und des Leidens für den Erfolg. Paul Berf hat die Reiseberichte nicht nur in ihrer ganzen Beschreibungsdichte und Gedankenvielfalt in ein schwingendes, unverstelltes Deutsch übersetzt, sondern auch ergänzend eine Auswahl aus den Briefen getroffen, die Dagerman – teilweise auf Deutsch verfasst – von der Reise an seine Angehörigen in die Heimat schickte. Der Bericht des schwedischen Ausländers über das Deutschland der Stunde Null, dessen äußere Konflikte und innere Spannungen gibt uns einen einzigartigen Einblick in eine Zeit, in der nicht ausgemacht war, ob dieses Land jemals wieder auf die Beine kommen würde.
Autorenporträt
Stig Dagerman (1923–1954) wurde in Älvkarleby nördlich von Uppsala als Sohn eines Sprengmeisters und einer Telefonistin geboren. Er wuchs bei seinen Großeltern väterlicherseits auf dem Land auf, bis er 1931 zu seinem Vater nach Stockholm zog. 1940 wurde sein Großvater von einem Psychopathen erstochen, eine "Wahnsinnstat", die ihm lebenslang nachging – zumal kurz darauf ein Freund bei einem gemeinsamen Bergurlaub in einem Lawinenunglück ums Leben kam. Dagerman arbeitete nach seinem Abitur für die anarchosyndikalistische Zeitung "Arbetaren" und debütierte 1945 mit dem Roman "Die Schlange". Die kommenden Jahre waren geprägt von exzessiven Schreibphasen und einem kometenhaften Aufstieg, aber auch von Schreibblockaden, schweren Depressionen und existenziellen Krisen. 1943 heiratete er die deutsche Geflüchtete Annemarie Götze, mit der er zwei Söhne hatte und über deren Familie er Zugang zu Deutschland fand. Nach dem Scheitern der Ehe heiratete Dagerman 1953 die bekannte Schauspielerin Anita Björk, mit der er eine Tochter hatte. Mit gerade 31 Jahren nahm er sich 1954 das Leben.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Jochen Schimmang empfiehlt die Reportagen des schwedischen Autors Stig Dagerman aus der Ruinenlandschaft Deutschland des Jahres 1946. Zusammen mit einem "informativen" Nachwort des Übersetzers Paul Berf bieten die Texte des damals 23-Jährigen laut Schimmang überraschende Ansichten. Dystopisch findet Schimmang, was Dagerman über zerstörte Städte und die "tote Seelen" vor allem der jungen Menschen in den Ruinen schreibt. Dagermans Berichte von den Entnazifizierungsverfahren gegen Gewerkschafter und Blockwarte, über Ostflüchtlinge und das Leben im Keller jagen Schimmang kalte Schauer über den Rücken. Enorm findet er den genauen Blick und die Urteilsfähigkeit des jungen Reporters, wenn Dagerman die Begeisterung des Publikums bei einer Rede Kurt Schumachers überzeugend deutet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2021

Tage
im Morast
Der schwedische Autor Stig Dagerman reiste
1946 durch ein zertrümmertes Deutschland.
Seine Reportagen sind nun neu übersetzt
VON SOPHIE WENNERSCHEID
Im Herbst 1946 reiste der 23-jährige schwedische Autor Stig Dagerman mit dem Zug von Stockholm über Dänemark nach Hamburg und von dort aus weiter durch die amerikanische und britische Besatzungszone, um Eindrücke aus dem zerstörten Nachkriegsdeutschland zu sammeln. Zurück in Schweden bearbeitete er das Material und veröffentlichte elf Reportagen in der Tageszeitung Expressen. Wenig später gab er die um zwei Texte ergänzten Artikel unter dem Titel „Tysk höst“, „Deutscher Herbst“, als Buch heraus. Die damals europaweit viel beachteten Texte gibt es jetzt in einer nuancierten Übersetzung von Paul Berf wieder auf Deutsch. Pointiert, abwechslungsreich und mit einem scharfen Blick für Details geschrieben sind sie ein wichtiges, empathisches Dokument deutscher Zeitgeschichte.
Mit den Augen des Fremden, der als Einwohner des neutralen Schwedens von den direkten Auswirkungen des Krieges verschont, aber nicht unberührt geblieben war, spürt und denkt Dagerman den Menschen nach, die im kalten und nassen Herbst 1946 ökonomisch vor dem Nichts stehen und ihr Rückgrat verloren haben. Ohne sich in emotionalen Phrasen zu ergehen, beschreibt er die wuchtige Öde der Ruinen in einer zurückgenommenen und prägnanten Sprache, die noch heute das Ausmaß der Zerstörung vorstellbar macht: „Man fährt eine Viertelstunde mit dem Zug und hat ununterbrochen Aussicht auf etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für kaputte Hausgiebel.“
Ohne Vorbehalte und vorgefasste Meinungen lässt Dagerman sich auf das Elend und die Verbitterung der Menschen ein. Weder verurteilt er die Deutschen, noch stellt er sie als Opfer dar. Vielmehr übt er sich in der „Fähigkeit, auf das Leiden zu reagieren, ganz gleich, ob dieses Leiden nun unverschuldet oder selbst verschuldet ist“. Mit deutlichen Worten kritisiert er die journalistischen Kollegen, die in vermeintlicher Objektivität die politische Einstellung der Hungrigen analysieren, „ohne gleichzeitig auch den Hunger einer Analyse zu unterziehen“. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das beobachtete Leiden die „Folge eines gescheiterten deutschen Eroberungskrieges“ ist, betont aber zugleich, dass die Deutschen kein fest zusammengeschweißter Block sind, der nationalsozialistische Kälte ausstrahlt, sondern „eine Vielfalt hungernder und frierender Individuen“.
Mit seinem scharfen Blick für Details bleibt Dagerman nicht an der Oberfläche des Geschehenen, sondern geht in die von den Bomben verschonten Keller hinab, die den Menschen als Wohnstätte dienen, obwohl in ihnen das Wasser knöcheltief steht. Er sieht verhärmte und von Husten geschüttelte Kinder, die morgens um sechs auf die Straße geschickt werden, um etwas zu essen zu suchen. Er begegnet einer ehemaligen polnischen Lehrerin, die ihren Mann in Ausschwitz verloren hat, und lernt, wie Schwarzmarktgeschäfte ablaufen. Und er begleitet einen Amtsarzt zu den aus Bayern zwangsevakuierten Menschen, die seit Wochen in einem schäbigen Güterzug hausen und darauf warten, dass man sie in die Stadt Essen einfahren lässt, was aber nicht geschehen wird, weil das gesamte Ruhrgebiet von Flüchtlingen und Vertriebenen überfüllt ist. Es herrscht Zuzugsverbot. Mit einer Haltung, die zwischen ungläubigem Erstaunen, desillusionierter Feststellung und bitterer Verzweiflung schwankt, zeichnet Dagerman psychologische Porträts, ohne dabei im eigentlichen Sinne zu psychologisieren. Mit einem an Beckett geschulten Sinn für das Absurde konstatiert er: „Der junge Amtsarzt ist ein konservativer Antifaschist, der die Fähigkeit besitzt, den Nationalsozialismus notfalls auch aus dem Blickwinkel der nationalen Notwendigkeit zu betrachten. Als er über die Besatzungszeit in Norwegen spricht, erzählt er von wunderbaren Skiausflügen. Wenn man ihn so reden hört, könnte man fast den Eindruck gewinnen, dass die Deutschen Norwegen wegen des Wintersports besetzt hatten.“
Nicht alle Kapitel sind von gleicher Qualität. Das erste und das letzte müht sich mit einer differenzierten politischen Einordnung und einer Reflexion auf die Position des Beobachters. Andere scheinen heute nicht mehr ganz so relevant. Dagermans Darstellung des SPD-Parteivorsitzenden Kurt Schumacher ist zwar bissig, aber politisch nicht erhellend. Die meisten Texte aber sind von einem so direkten Zugriff auf das Gesehene, dass einem schmerzhaft klar wird, wie wenig Raum diesen Bildern im kollektiven Gedächtnis zugestanden wurde.
Die Vereinnahmung des Elends der deutschen Flüchtlinge durch die Vertriebenenverbände und die Instrumentalisierung der Schrecken der Bombennächte durch rechte Gruppierungen haben es lange notwendig erscheinen lassen, sich nicht mit der Not der deutschen Bevölkerung auseinanderzusetzen, sondern ihre Mitschuld an den nationalsozialistischen Verbrechen zu analysieren. Stig Dagerman war da unvoreingenommener, ohne unbedarft zu sein.
Besonders eindrücklich ist das Kapitel über die Entnazifizierungsverhandlungen, denen Dagerman unter den zahlreichen Zuschauern folgt, die die Prozesse besuchen wie eine Theatervorstellung. Er fühlt sich in eine Welt versetzt, die mit ihren zugemauerten Fenstern und kalten Glühbirnen „wie eine der Wirklichkeit entnommene Illustration“ zu Kafkas „Der Prozeß“ anmutet. Alle Angeklagten plädieren auf unschuldig. Keiner war Nazi, jeder hat einen – für hundert Mark gekauften – jüdischen Zeugen, der gesehen hat, dass die betreffende Person Juden immer freundlich behandelt hat. In kurzen Dialogen, die den Ton der Sprecher lebendig wiedergibt, zeigt Dagerman, wie die Angeklagten sich reinwaschen und wie leicht sie mit ihren brüchigen Erklärungen davonkommen.
Vielschichtig wird das Geschilderte auch deshalb, weil Dagerman nicht nur seinen eigenen Blicken folgt, sondern seine Personen sich gegenseitig betrachten lässt. Er lässt sich erzählen, wie die Deutschen selbst das Ende des Krieges wahrgenommen haben. Manchmal weiß man nicht genau, wer hier eigentlich spricht. So wenn er die verdreckten Soldaten der Wehrmacht und die alten Männer des Volkssturms „schluchzend und stolpernd durch den Morast der Niederlage“ ziehen lässt. Erinnert das Bild, das bei der Lektüre entsteht, eher an die Arbeiten von Käthe Kollwitz oder an die von Otto Dix?
Lakonie, Scharfzüngigkeit und Empathie gehen bei Dagerman eine interessante Mesalliance ein. Mal kommt der Autor den Menschen nahe, dann wieder lässt er den Blick schweifen. Nie aber vergisst er seinen eigenen privilegierten Standpunkt und die Schwierigkeit, Leid angemessen wiederzugeben. Trotzdem beharrt er darauf, dass das, was er sieht, nicht, wie sich phrasenhaft sagen lässt, „unbeschreiblich“ ist. Es ist widerwärtig, zutiefst unappetitlich, skrupellos, hilflos, banal, niedrig, manchmal witzig, selten warmherzig – aber nicht „unbeschreiblich“.
Dass die literarische Form Dagerman nicht zugefallen ist, sondern er sie sich erarbeitet hat, zeigt auch die in dem Buch veröffentlichte Auswahl von Briefen, die er während seiner Reisen an Freunde und Familie geschrieben hat. So berührend sie als persönliche Dokumente sind, sind sie doch nicht von der gleichen Eindringlichkeit. Trotzdem ergänzen sie die Artikel auf eine gute, eben persönliche Weise. Weniger ergiebig ist das vom Übersetzer verfasste Nachwort. Hier würde man sich mehr historischen Kontext und vor allem mehr Information über das kurze Leben des Autors wünschen, der mit seinen düsteren Romanen und Erzählungen als literarischer Stern am schwedischen Autorenhimmel gefeiert wurde und sich 1954 mit nur 31 Jahren das Leben genommen hat.
Während Dagermans Werk in Italien und Frankreich, wo er wahlweise „der schwedische Camus“ oder „der Rimbaud aus dem Norden“ genannt wird, hohes Ansehen genießt, liegen auf Deutsch nur einzelne Werke vor. 1987 erschien bei Suhrkamp der Roman „Die Insel der Verdammten“, 2010 gab Eichborn den mehrfach gut besprochenen Roman „Die schwedische Hochzeitsnacht“ heraus. Aktuell im Handel erhältlich ist derzeit keins von ihnen mehr. Zeit für eine Neuentdeckung.
Er verurteilt die
Deutschen nicht, noch
stellt er sie als Opfer dar
Stig Dagerman:
Deutscher Herbst.
Sachbuch. Guggolz Verlag, Berlin 2021.
190 Seiten, 22 Euro.
München, oder was davon übrig blieb, im Juni 1946. In dem Jahr reiste auch der schwedische Autor Stig Dagerman durch Deutschland.
Foto: Imago Images/Rolf Poss
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.10.2021

Mit achtzehn die Welt erobert, mit zweiundzwanzig alles wieder verloren
Aufgezeichnet in Ruinen: Der schwedische Schriftsteller Stig Dagerman wurde 1946 für eine Reportageserie nach Deutschland geschickt, die nun wiederzuentdecken ist

"Die drei Rheinbrücken Kölns liegen seit zwei Jahren gesunken auf Grund, der Dom steht düster, rußig und einsam mitten einem Ruinenhaufen, und in seiner Seite klafft eine Wunde aus frischen roten Backsteinen, die in der Dämmerung zu bluten scheint. Die kleinen, drohenden, schwarzen Mittelaltertürme sind in Nürnbergs Wallgräben gestürzt. (. . .) Trotzdem gibt es eine Stadt, die Geld dafür nimmt, eine Ruine zu zeigen: das verschont gebliebene Heidelberg, dessen alte, schöne Schlossruine in der Zeit der frischen Ruinen wie eine teuflische Parodie wirkt."

Dies ist nur eine der pointierten Momentaufnahmen, die 1946 der erst dreiundzwanzigjährige, durch seinen ein Jahr zuvor erschienenen Debütroman "Die Schlange" aber schon bekannte schwedische Autor Stig Dagerman den Lesern der Zeitung Expressen liefert. Die hatte ihn für eine Artikelserie ins Land der Ruinen geschickt, explizit nicht als Journalisten, sondern als Schriftsteller. Dahinter stand, wie man dem sehr informativen Nachwort des Übersetzers Paul Berf entnehmen kann, unter anderem die Überlegung, dass Dagerman als offizieller Korrespondent auf die Hilfe der Besatzungsmächte angewiesen wäre, während er als Privatreisender, der Verwandte seiner Frau besuchte, sich freier im Lande bewegen konnte. Seine - erste - Frau hieß Annemarie Götze. Ihre Eltern, eingeschworene Anarchosyndikalisten, hatten mit ihr Deutschland bereits 1934 verlassen und waren nach Barcelona geflohen, von dort nach Francos Sieg über Frankreich und Norwegen schließlich ins neutrale Schweden. Auch Dagerman kam aus einer syndikalistischen Familie und lernte seine spätere Frau auch in diesem Zusammenhang kennen. Nicht allein das und seine guten Deutschkenntnisse aber bewogen Expressen, statt eines ihrer gestandenen Reporter den jungen Dichter nach Deutschland zu schicken, sondern auch die Hoffnung, dadurch neue, überraschende Blickwinkel zu gewinnen über das Land, das sechs Jahre lang Europa und die halbe Welt in ein Inferno gestürzt hatte.

Und diese Hoffnung wurde erfüllt. Als "Tysk höst" (so der Originaltitel, der deutsche Titel hat also nichts mit dem bundesdeutschen historisch-hysterischen Jahr 1977 und dessen Herbst zu tun) im Mai 1947 in Buchform erschien, bescheinigte Schwedens Presseflaggschiff Dagens Nyheter ihm "die Intensität des Dichters" und die "Fähigkeit, Stimmungen zu vermitteln, ohne sentimental oder pathetisch zu werden". Wohlgemerkt, kam dieses Lob, das genau auf den Punkt trifft, vom Chefredakteur persönlich.

Dagermans Schilderungen bilden in summa eine Dystopie, die nicht erst literarisch konstruiert und zusammengebastelt werden musste. Das betrifft nicht nur seine Bilder von Ruinenlandschaften, die übrigens ironisch mit der Darstellung der Opferkonkurrenz darum beginnen, welche Stadt denn nun am stärksten zerstört sei: "In deutschen Städten passiert es einem häufig, dass Menschen den Fremden bitten, ihnen zu bestätigen, dass gerade ihre Stadt die am meisten verbrannte und zertrümmerte in ganz Deutschland ist. (. . .) Dieselben Leute reagieren missmutig, wenn man ihnen sagt, man habe andernorts Schlimmeres gesehen. Und vielleicht hat man auch gar nicht das Recht, das zu sagen; jede deutsche Stadt ist am schlimmsten, wenn man in ihr leben muss."

Dem Autor geht es aber nicht nur um die toten Städte, sondern auch um die toten Seelen. Zum einen um jenen Teil der jungen Generation, der am bedauernswertesten sei: "Sie, die ungefähr zwanzig sind, treiben sich in den deutschen Kleinstädten bis weit in die Abenddämmerung hinein auf den Bahnhöfen herum, ohne irgendwelche Züge oder etwas anderes erwarten zu können. Man kann dort kleine verzweifelte Raubversuche erleben, begangen von nervösen Jünglingen, die trotzig ihre Tolle werfen, wenn sie festgenommen werden . . . Ein vergleichbares Schicksal hat keine Jugend erlebt, sagt ein bekannter deutscher Verleger . . . Mit achtzehn hat sie die Welt erobert und mit zweiundzwanzig alles wieder verloren." Der bekannte deutsche Verleger hieß Peter Suhrkamp.

Andere tote Seelen sitzen vor den Schranken der sogenannten Spruchkammern und warten auf ihre Entlastung, sprich Entnazifizierung. Kino- und Theaterkarten seien teuer, schreibt Dagerman, eine Spruchkammersitzung (Eintritt frei) sei aber, "im Idealfall, wenn sämtliche Mitwirkungen interessant genug sind, ein Stück fesselndes, exquisites Theater". Jeder der Angeklagten hat natürlich Zeugen für seine Unschuld, "Zeugen, die ihm bescheinigen, dass er ausländische Radiosender gehört habe (das haben alle Angeklagten getan), jüdische Zeugen, die gesehen haben, dass er Juden freundlich behandelt habe (solche Zeugen haben alle Angeklagten; sie kosten ein paar hundert Mark das Stück)". Vor der Spruchkammer sitzen der Volksschullehrer wie der nationalsozialistische Gewerkschafter und der Blockwart, vor dem alle aus gutem Grund Angst hatten.

Dagerman berichtet von den unwillkommenen Flüchtlingen aus dem Osten, die im Ruhrgebiet im Güterzug festsitzen, und vom Leben in Kellern. Ein Glanzstück des Buches und ein Zeugnis für die erstaunliche politische Urteilsfähigkeit des jungen Autors ist sein Bericht von einem Auftritt des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher auf dem Münchner Königsplatz, dem zehntausend Menschen bei zehn Grad unter null begeistert zuhören. Die Faszination, die von diesem Redner ausgeht, der durch seinen langjährigen KZ-Aufenthalt über alle Zweifel erhaben ist, erklärt Dagerman treffend damit, das seine politischen Botschaften (unter anderem Rückgabe Schlesiens und Ostpreußens) und sein glühender sozialistischer Nationalismus ihn auch für Deutsche akzeptabel machen, "die den Nationalsozialismus noch nicht überwunden haben und das auch gar nicht wollen". Für diese zutreffende Analyse, die nicht das Resultat seiner eigenen politischen Position, sondern des genauen Blicks des Autors ist, hat dieser dann auch von der schwedischen Sozialdemokratie reichlich Prügel bezogen.

Stig Dagerman, der schon in seiner Jugend an Depressionen litt, hat sich mit 31 Jahren ums Leben gebracht. Damit ist die damalige schwedische Literatur einer ihrer größten Hoffnungen beraubt worden. Die deutschen Übersetzungen anderer Bücher von ihm, etwa "Die Schlange" (1985 bei Suhrkamp) und "Spiele der Nacht" (dtv 1964), sind selbstverständlich längst vergriffen. Das ist sehr schade und müsste nicht unbedingt so bleiben. JOCHEN SCHIMMANG

Stig Dagerman: "Deutscher Herbst". Roman.

Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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