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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Aufgezeichnet in Ruinen: Der schwedische Schriftsteller Stig Dagerman wurde 1946 für eine Reportageserie nach Deutschland geschickt, die nun wiederzuentdecken ist
"Die drei Rheinbrücken Kölns liegen seit zwei Jahren gesunken auf Grund, der Dom steht düster, rußig und einsam mitten einem Ruinenhaufen, und in seiner Seite klafft eine Wunde aus frischen roten Backsteinen, die in der Dämmerung zu bluten scheint. Die kleinen, drohenden, schwarzen Mittelaltertürme sind in Nürnbergs Wallgräben gestürzt. (. . .) Trotzdem gibt es eine Stadt, die Geld dafür nimmt, eine Ruine zu zeigen: das verschont gebliebene Heidelberg, dessen alte, schöne Schlossruine in der Zeit der frischen Ruinen wie eine teuflische Parodie wirkt."
Dies ist nur eine der pointierten Momentaufnahmen, die 1946 der erst dreiundzwanzigjährige, durch seinen ein Jahr zuvor erschienenen Debütroman "Die Schlange" aber schon bekannte schwedische Autor Stig Dagerman den Lesern der Zeitung Expressen liefert. Die hatte ihn für eine Artikelserie ins Land der Ruinen geschickt, explizit nicht als Journalisten, sondern als Schriftsteller. Dahinter stand, wie man dem sehr informativen Nachwort des Übersetzers Paul Berf entnehmen kann, unter anderem die Überlegung, dass Dagerman als offizieller Korrespondent auf die Hilfe der Besatzungsmächte angewiesen wäre, während er als Privatreisender, der Verwandte seiner Frau besuchte, sich freier im Lande bewegen konnte. Seine - erste - Frau hieß Annemarie Götze. Ihre Eltern, eingeschworene Anarchosyndikalisten, hatten mit ihr Deutschland bereits 1934 verlassen und waren nach Barcelona geflohen, von dort nach Francos Sieg über Frankreich und Norwegen schließlich ins neutrale Schweden. Auch Dagerman kam aus einer syndikalistischen Familie und lernte seine spätere Frau auch in diesem Zusammenhang kennen. Nicht allein das und seine guten Deutschkenntnisse aber bewogen Expressen, statt eines ihrer gestandenen Reporter den jungen Dichter nach Deutschland zu schicken, sondern auch die Hoffnung, dadurch neue, überraschende Blickwinkel zu gewinnen über das Land, das sechs Jahre lang Europa und die halbe Welt in ein Inferno gestürzt hatte.
Und diese Hoffnung wurde erfüllt. Als "Tysk höst" (so der Originaltitel, der deutsche Titel hat also nichts mit dem bundesdeutschen historisch-hysterischen Jahr 1977 und dessen Herbst zu tun) im Mai 1947 in Buchform erschien, bescheinigte Schwedens Presseflaggschiff Dagens Nyheter ihm "die Intensität des Dichters" und die "Fähigkeit, Stimmungen zu vermitteln, ohne sentimental oder pathetisch zu werden". Wohlgemerkt, kam dieses Lob, das genau auf den Punkt trifft, vom Chefredakteur persönlich.
Dagermans Schilderungen bilden in summa eine Dystopie, die nicht erst literarisch konstruiert und zusammengebastelt werden musste. Das betrifft nicht nur seine Bilder von Ruinenlandschaften, die übrigens ironisch mit der Darstellung der Opferkonkurrenz darum beginnen, welche Stadt denn nun am stärksten zerstört sei: "In deutschen Städten passiert es einem häufig, dass Menschen den Fremden bitten, ihnen zu bestätigen, dass gerade ihre Stadt die am meisten verbrannte und zertrümmerte in ganz Deutschland ist. (. . .) Dieselben Leute reagieren missmutig, wenn man ihnen sagt, man habe andernorts Schlimmeres gesehen. Und vielleicht hat man auch gar nicht das Recht, das zu sagen; jede deutsche Stadt ist am schlimmsten, wenn man in ihr leben muss."
Dem Autor geht es aber nicht nur um die toten Städte, sondern auch um die toten Seelen. Zum einen um jenen Teil der jungen Generation, der am bedauernswertesten sei: "Sie, die ungefähr zwanzig sind, treiben sich in den deutschen Kleinstädten bis weit in die Abenddämmerung hinein auf den Bahnhöfen herum, ohne irgendwelche Züge oder etwas anderes erwarten zu können. Man kann dort kleine verzweifelte Raubversuche erleben, begangen von nervösen Jünglingen, die trotzig ihre Tolle werfen, wenn sie festgenommen werden . . . Ein vergleichbares Schicksal hat keine Jugend erlebt, sagt ein bekannter deutscher Verleger . . . Mit achtzehn hat sie die Welt erobert und mit zweiundzwanzig alles wieder verloren." Der bekannte deutsche Verleger hieß Peter Suhrkamp.
Andere tote Seelen sitzen vor den Schranken der sogenannten Spruchkammern und warten auf ihre Entlastung, sprich Entnazifizierung. Kino- und Theaterkarten seien teuer, schreibt Dagerman, eine Spruchkammersitzung (Eintritt frei) sei aber, "im Idealfall, wenn sämtliche Mitwirkungen interessant genug sind, ein Stück fesselndes, exquisites Theater". Jeder der Angeklagten hat natürlich Zeugen für seine Unschuld, "Zeugen, die ihm bescheinigen, dass er ausländische Radiosender gehört habe (das haben alle Angeklagten getan), jüdische Zeugen, die gesehen haben, dass er Juden freundlich behandelt habe (solche Zeugen haben alle Angeklagten; sie kosten ein paar hundert Mark das Stück)". Vor der Spruchkammer sitzen der Volksschullehrer wie der nationalsozialistische Gewerkschafter und der Blockwart, vor dem alle aus gutem Grund Angst hatten.
Dagerman berichtet von den unwillkommenen Flüchtlingen aus dem Osten, die im Ruhrgebiet im Güterzug festsitzen, und vom Leben in Kellern. Ein Glanzstück des Buches und ein Zeugnis für die erstaunliche politische Urteilsfähigkeit des jungen Autors ist sein Bericht von einem Auftritt des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher auf dem Münchner Königsplatz, dem zehntausend Menschen bei zehn Grad unter null begeistert zuhören. Die Faszination, die von diesem Redner ausgeht, der durch seinen langjährigen KZ-Aufenthalt über alle Zweifel erhaben ist, erklärt Dagerman treffend damit, das seine politischen Botschaften (unter anderem Rückgabe Schlesiens und Ostpreußens) und sein glühender sozialistischer Nationalismus ihn auch für Deutsche akzeptabel machen, "die den Nationalsozialismus noch nicht überwunden haben und das auch gar nicht wollen". Für diese zutreffende Analyse, die nicht das Resultat seiner eigenen politischen Position, sondern des genauen Blicks des Autors ist, hat dieser dann auch von der schwedischen Sozialdemokratie reichlich Prügel bezogen.
Stig Dagerman, der schon in seiner Jugend an Depressionen litt, hat sich mit 31 Jahren ums Leben gebracht. Damit ist die damalige schwedische Literatur einer ihrer größten Hoffnungen beraubt worden. Die deutschen Übersetzungen anderer Bücher von ihm, etwa "Die Schlange" (1985 bei Suhrkamp) und "Spiele der Nacht" (dtv 1964), sind selbstverständlich längst vergriffen. Das ist sehr schade und müsste nicht unbedingt so bleiben. JOCHEN SCHIMMANG
Stig Dagerman: "Deutscher Herbst". Roman.
Aus dem Schwedischen, mit einer Briefauswahl und einem Nachwort von Paul Berf. Guggolz Verlag, Berlin 2021. 190 S., geb., 22,- Euro.
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