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Helmut Walser Smith präsentiert in seiner Geschichte der deutschen Nation interessante Funde. Aber Systematik ist nicht sein Fall.
Von Stephan Speicher
Die Nation ist eines der großen Themen des modernen Staates, sie ist "zuerst da, ist sie doch der Ursprung von allem", schreibt im Januar 1789 der Abbé Sieyès in "Was ist der dritte Stand?". Und weiter: "Ihr Wille ist immer gesetzlich, denn er ist das Gesetz selbst." Die Staaten, die man dem Westen zurechnet, Großbritannien und Frankreich, die Vereinigten Staaten, Niederlande oder Italien, verstehen sich als Nationalstaaten.
Im Ersten Weltkrieg waren die Ententemächte als Vertreter des modernen demokratischen Prinzips (der russische Verbündete passte natürlich nicht ganz dazu) überzeugt, dass nur auf eine Nation sich gründende Staaten lebensfähig seien, nicht also die Donaumonarchie oder das Osmanische Reich, die in den Friedensverträgen von 1919/20 zerteilt wurden. Und selbst die Sowjetunion, die doch im Namen jede nationale, ethnische oder auch nur territoriale Bestimmung vermied, bemühte sich rasch um eine nationale Identität. Berühmt ist der Toast auf das russische Volk, den Stalin beim Bankett zur Feier des Sieges über Hitler-Deutschland ausbrachte.
Über die Nation kann man immer noch ein Buch schreiben, so viele es davon auch schon gibt. Und über die deutsche Nation, einen besonders heiklen Fall, erst recht. Man muss nur über eine fruchtbare Frage verfügen. Hat Helmut Walser Smith, Historiker an der Vanderbilt University in Nashville, für sein Buch "Deutschland. Geschichte einer Nation" eine solche Frage entwickelt? Er nimmt zunächst eine vorsichtige Haltung zu seinem Gegenstand ein. Nationen seien nicht zeitlos und selbstverständlich, aber eben auch keine willkürlichen Erfindungen.
Demzufolge gibt es offenbar ein Substrat, auf dem sich Nationen entwickeln können, ohne dass aber diese Nationenbildung schon präformiert wäre. Aber welches ist dieses Substrat, im Allgemeinen und im besonderen deutschen Fall? Vielleicht die gemeinsame Sprache? Die Geschichte? Etwas Drittes, ganz anderes? Dazu gibt Walser Smith keine Auskunft. Das ist ein Problem, auf das der Leser mehrfach trifft. Der Autor greift einen Faden auf, lässt ihn aber bald wieder fallen.
Eine interessante Idee ist es, geographische und speziell kartographische Bemühungen zu untersuchen, mit denen Deutsche sich Klarheit über die von Ihnen bewohnten Regionen verschaffen wollten. Im Spätmittelalter sind es noch Reisehandbücher, mit denen sich vor allem Pilger orientieren, das zu bereisende Land wird entlang der Wegstrecke beschrieben - in einer Dimension. Die Karte, zweidimensional, kann Territorien abbilden. Allerdings werden sie erst durch die nachträgliche Kolorierung gut erkennbar. Der deutsche Kartograph Erhard Etzlaub gab zu seiner Karte des "Romwegs" (1500) Hinweise, wie Frankreich oder die Niederlande etwa farblich zu markieren seien. Wie sehr die Entwicklung der Kartographie mit der einer Vorstellung von Nationen korreliert, bleibt aber offen. Es gab, wie Walser Smith feststellt, lange Zeit keine Karten, die die Verbreitung der Konfessionen zeigten. Daraus geht aber gewiss nicht hervor, das konfessionelle Fragen irrelevant gewesen wären, sondern eher, dass sich nur langsam ein territoriales Denken herausbildet.
Das beeinflusst auch die Entstehung eines nationalen Bewusstseins. Politische Herrschaft wird im Mittelalter und weitgehend auch in der frühen Neuzeit über die Loyalität zum Monarchen und seiner Dynastie gesichert, das Land spielt noch eine geringe Rolle. Wohl erhob der französische König Philipp IV. schon Ende des dreizehnten Jahrhunderts Steuern "ad defensionem natalis patriae", zur Verteidigung des Vaterlands, wo wir geboren sind, aber der Gedanke setzt sich nur langsam durch.
Dass die Revolution und die Napoleonischen Kriege nationale Empfindungen aufwühlen und von ihnen aufgewühlt werden, ist eine Binsenweisheit. Aber was ist im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts vorbereitend geschehen? Den Übergang von dynastisch fundierter Herrschaft zum Territorialstaat zeigt Walser Smith am Beispiel Österreichs unter Joseph II. Der Gedanke vom "Tode für das Vaterland" hat eine besondere nationale Pointe, wie Moses Mendelssohn in einer Kritik der gleichnamigen Schrift des Philosophen Thomas Abbt von 1761 ausführt: Nicht nur wird das Opfer des Lebens nun dem Land gebracht statt dem Dynasten, das Übel des Krieges ist für Mendelssohn auch mit dem "wichtigen Vortheil verknüpft", die Entfernung der Stände zu vermindern und die Bürger "einer republikanischen Gleichheit näher" zu bringen.
Mit der Gleichheit ist ein Ideal der Nation benannt. Auf Abbt und Mendelssohn hinzuweisen ist eine gute Idee des Autors. Aber über das Verhältnis, das die Deutschen zum Reich und zu den Einzelstaaten hatten, deren Untertanen sie waren, weiß er nicht viel zu sagen: nicht über den Reichspatriotismus und auch nicht über die Hoffnungen, die (wie manche andere) der junge Reichsfreiherr vom Stein in patriotischer Hinsicht auf Preußen setzte, als er 1780 in dessen Dienste trat.
Walser Smith macht eine Reihe interessanter Bemerkungen, hat immer wieder schöne Funde, aber er lässt auch vieles am Rande liegen, was stärkere Beachtung verdiente. Die Reichsgründung 1870/71 wird selbstverständlich notiert, aber wie sich nach 1848 das nationale Thema neu aufbaut, wie das Reich sich von 1871 an mit den Einzelstaaten arrangiert, welche Reibungen entstehen, wie stark man den alten Dynastien noch anhängt und zugleich dem neuen Gesamtstaat, darüber würde man doch gern mehr lesen.
Zur Nation gehört die Empfindung der Gleichheit ihrer Bürger und also das Interesse für die unteren Bevölkerungsschichten; den Gedanken Mendelssohns greift Walser Smith am Beispiel Georg Büchners und Adolf Menzels auf. Warum ist dann nicht von Bismarcks Sozialversicherungen die Rede? Und wichtiger noch: Warum so wenig und höchstens nebenher über die Nation als Kommunikationsgemeinschaft einer republikanischen Verfasstheit?
Es gehört zu dem im Ganzen wohlwollenden Bild der deutschen Nation, dass das Nachkriegsdeutschland - hier konzentriert der Autor sich bis 1989 auf den Westen - sehr günstig abschneidet, es habe sich vom Nationalismus, nicht von der Nation abgekehrt. Seine These, es habe nach 1945 eine "Renaissance des Nachdenkens über die Nation" gegeben, hätte aber bessere Belege verdient, als hier gegeben werden. Für die Frage nach der Nation seit 1945 ist Walser Smiths Gesichtspunkt die in seinen Augen gelungene Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Aber dass die EU bei ihm so gar kein Interesse erregt, obgleich sie doch die große Herausforderung für den Nationalstaat ist, das zeigt zuletzt noch einmal, wie wenig systematisch, wie bloß von einzelnen Einfällen geleitet dieses Buch durch seinen Stoff gleitet.
Helmut Walser Smith: "Deutschland". Geschichte einer Nation. Von 1500 bis zur Gegenwart.
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. C. H. Beck Verlag, München 2021. 667 S., Abb., geb., 34,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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WELT am Sonntag
"Pflichtlektüre für jeden, der sich für Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft interessiert."
Christopher Clark
"Ein[] anspruchsvolle[s] theoretische[s] Konzept mit anschaulichen Beschreibungen. (...) Reizvoll ist der mediengeschichtliche Zugang des Autors zu seinem Thema."
Falter, Thomas Leitner
"Womöglich bedarf es der Perspektive von außen, um nüchtern und gleichzeitig optimistisch auf die Entstehung und Geschichte der deutschen Nation, ihre Befindlichkeiten und ihre mögliche Zukunft zu sehen."
SWR2 Lesenswert, Clemens Klünemann
"Helmut Walser Smith behandelt das schwierige Thema der Nationwerdung Deutschlands mit großer Sachkenntnis und Eindringlichkeit."
Bücherschau, Friedrich Weissensteiner
"[um] die jüngste Vergangenheit nicht aus dem Sinn zu verlieren, bietet das gehaltvolle Buch von Helmut Walser Smith mannigfache Anregungen"
literaturkritik.de, Jens Flemming
"Nationalgeschichte für das post-nationale Zeitalter."
James Sheehan, Stanford
"Walser Smith schreibt elegant und bietet eine Fülle von klugen Einsichten und Beobachtungen."
Tim Blanning, Wallstreet Journal