Wie ungerecht ist Deutschland wirklich? Hat es einen neoliberalen Soziala bbau gegeben, der nur noch einen «Suppenküchensozialstaat» übrigließ, wie vielerorts zu lesen ist? Georg Cremer unterwirft den vorherrschenden Niedergangsdiskurs einem Realitätstest und zeigt, dass zwar längst nicht alles gerecht ist in Deutschland, aber doch gerechter als viele meinen. Wer unsere Debatten verfolgt, der liest viel über soziale Kälte, über steigende Armut und wachsende Ungleichheit, aber wenig über die Leistungen des Sozialstaats. Dabei steigt die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten stetig. Heute geben wir fast 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung für den Sozialstaat aus. Zur Zeit der Wiedervereinigung waren es noch 26 Prozent. Wenn das, was der Sozialstaat leistet, schlecht geredet wird, wenn positive reformerische Schritte als Klein- Klein diskreditiert oder schlicht nicht wahrgenommen werden, dann nützt das den populistischen Kräften, die der Politik unterstellen, sich nicht um «die Belange des Volkes» zu kümmern. Wenn wir unsere Demokrati e stärken wollen, ist eine realistischere Diskussion über den Zustand des Sozialstaats unerlässlich. Denn in Wahrheit sahen wir in den letzten Jahren keinen herzlosen Sozialabbau, sondern den Versuch der Politik, den Sozialstaat bei wachsenden Leistungen auch in Zukunft zu sichern und bezahlbar zu halten. Im Niedergangsdiskurs droht Sozialpolitik die breite politische Unterstützung zu verlieren, ohne die sie nicht handeln kann.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2018Gerechtes Deutschland
Die Abschaffung von Hartz IV wäre nicht gerecht
Der Titel dieses Buches ist eine kalkulierte Provokation: "Deutschland ist gerechter, als wir meinen". Was heißt "meinen"? Wer ist "wir"? Vor allem: Was heißt "gerechter"? Gleichwohl: Der Titel ist stimmig, und die Provokation macht Sinn. Georg Cremer schenkt, wie bei seinen früheren Positionierungen, dem Staat nichts und fordert von ihm Anstrengungen für mehr Gerechtigkeit. Er sieht, dass die gesellschaftlichen Bedingungen sich verändern und damit auch die Herausforderungen an Gerechtigkeit. Viel zu tun, sagt er.
Aber Cremer nennt richtige Schritte, auch richtige Schritte, die Mut machen. Er nennt das Mögliche nüchtern beim Namen, also möglich, und er bezieht persönliche Mitverantwortung des Einzelnen mit ein. Das sind gute Voraussetzungen fürs Gelingen. Der Sozialstaat ist stabil und passt sich der Zeit an. Wer das Skandalisieren liebt, kann aus dem Buch einen Katalog von Missständen ableiten und den Notstand ausrufen. Die Konsequenz, die Cremer zieht, ist eine andere: "Der Niedergangsdiskurs, der sich in Deutschland breitgemacht hat, ist gefährlich. Er lähmt und entmutigt. Er spielt populistischen Kräften in die Hände, da er die Ängste in der Mitte der Gesellschaft verstärkt." Wir brauchen eine Debatte zum "Sozialstaat, die das mühsame Stückwerk der Reform unterstützt". Cremer will einen Kontrapunkt setzen: "Deutschland ist gerechter, als wir meinen, aber es kann noch gerechter werden. Ruhig zurücklehnen dürfen wir uns daher nicht."
Der Gerechtigkeit geht es wie der Demokratie. Alle sind dafür, reklamieren sie als ihr Ziel. Wollen aber doch bitte selbst bestimmen, was das denn ist: Gerechtigkeit. Wie viel Ungleichheit verträgt Gerechtigkeit? Wie viel Eigeninitiative braucht sie? Wo sind die wichtigsten Ansätze für mehr Gerechtigkeit?
Bildung ist ein Menschenrecht. Der Autor spricht von Befähigungsgerechtigkeit. Das kommt der Sache sehr nahe. Bildung ist nicht die komplette Lösung, aber doch wichtige Grundlage. Den Schulen wird oft mehr abverlangt, als sie können. Manche Elternhäuser sind überfordert. Berufsorientierung und Berufsvermittlung müssen dringend gestärkt werden. Niemand darf von der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Wo sich das mit Integrationsfragen verbindet, verschärft sich das Problem. Die Lücken auszufüllen wird viel Geld kosten. Aber zur Gerechtigkeit trägt es erheblich bei, und es zahlt sich volkswirtschaftlich für das Land sogar aus, als Qualifikation. In Sachen Gerechtigkeit geht es natürlich auch um Löhne und Renten, um Pflege und Steuern, um Vermögen und Erbschaft, um Arbeit und Sicherheit, um Wohnen, Mobilität, Gesundheitswesen, Digitalisierung und demografische Entwicklung.
Das heißt eben auch: Die Meinungen darüber, was gerecht ist und was im Sinne von Gerechtigkeit vordringlich ist, gehen weit auseinander. Cremer erinnert an die Zeit von 2013 bis 2017: Mindestlohn, mehr Mütterrente, Erweiterung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende, höhere Beiträge zur Rentenversicherung für pflegende Angehörige. Alles erreicht und abgehakt. Die Gerechtigkeitsdebatte wurde damit nicht entlastet. Woran liegt das? Vor allem an den Denkmustern: "Ich habe trotzdem weniger, als mir gerechterweise zusteht" und "Der andere hat aber mehr, als ihm gerechterweise zusteht". Es bleibt dabei: Gerechtigkeit für alle ist ein wichtiges Ziel, aber gemeint ist auch vor allem: Gerechtigkeit auf gutem Niveau. Das hat mehr Voraussetzungen als Verteilung.
Und Europa ist eine große Aufgabe für Fragen der Gerechtigkeit. Am 26. Mai 2019 wird wieder gewählt. Armutsgefährdet sind nach einer Definition der Europäischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik 15,7 Prozent der Menschen. Unterstellt, die EU wäre ein Land, läge das Armutsrisiko in Deutschland bei 8 Prozent, in Tschechien bei 27 Prozent, in Rumänien bei 90 Prozent. Das langfristige Problem liegt bei denen, die ohne Schulabschluss und Ausbildung bleiben. Sie vor allem bleiben ohne Arbeit. In Deutschland verlassen jedes Jahr zirka 40000 Kinder die Schule ohne Abschluss. Da sind wir wieder bei der Befähigungsgerechtigkeit. Cremer schreibt: "Das ist ein eklatantes Gerechtigkeitsdefizit." In der Tat.
Er greift auch noch ein Thema auf, das an Brisanz gewinnt. Was wird mit der Digitalisierung aus der Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen? Nicht nur Bildung ist ein Menschenrecht. Auch Arbeit ist ein Menschenrecht. Genau das wird aber von manchen in Frage gestellt, mehr und mehr. Mit der Grundsicherung für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose haben wir 2002/5 Pflöcke eingeschlagen. Für das Gesetz wurde von Gegnern das Schimpfwort "Hartz IV" geprägt, das sich auch durchgesetzt hat. Ausgangspunkt war damals eine große und wachsende Zahl von erwerbsfähigen Langzeitarbeitslosen, auch jungen, die keine Arbeitslosenhilfe bekamen, sondern Sozialhilfe mit der Botschaft: Stört uns nicht, wir erwarten von euch nichts, bleibt ruhig, wir sorgen dafür, dass ihr überleben könnt.
Diese Menschen wurden nicht zur Arbeitssuche angehalten, auch nicht gefördert mit dem Ziel der Re-Integration. Ihre Zahl ist seitdem um rund 40 Prozent gesunken und wäre noch deutlich niedriger, wenn nicht zuwandernd neue hinzugekommen wären. Manche im Lande fordern die Abschaffung dieses Gesetzes zur Grundsicherung und meinen wohl wirklich, sie handelten im Sinne der Gerechtigkeit. Das ist aber nicht so.
Cremer spricht an dieser Stelle von der "Freikugel" zum Ausstieg aus dem System Sozialstaat und bespricht die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen rational, aber distanziert unfreundlich. Er hält klaren Abstand. Wenn man Cremer liest, wird man gefestigt: Der Sozialstaat ist nicht fertig. Nie. Er ist schon gar nicht fix und fertig. Er ist und bleibt eine stabile Grundlage für eine gerechte Gesellschaft. Bleibt Cremers insistierende Frage: "Wie gelingt eine gesellschaftliche Debatte zum Sozialstaat, die Empathie, nüchterne Analyse und Faktentreue so verbindet, dass Rationalität das Wort führt?" Er leistet mit seinem Buch einen qualifizierten Beitrag.
FRANZ MÜNTEFERING
Georg Cremer: Deutschland ist gerechter, als wir meinen. C.H. Beck, München 2018, 272 Seiten, 16,95 Euro
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Die Abschaffung von Hartz IV wäre nicht gerecht
Der Titel dieses Buches ist eine kalkulierte Provokation: "Deutschland ist gerechter, als wir meinen". Was heißt "meinen"? Wer ist "wir"? Vor allem: Was heißt "gerechter"? Gleichwohl: Der Titel ist stimmig, und die Provokation macht Sinn. Georg Cremer schenkt, wie bei seinen früheren Positionierungen, dem Staat nichts und fordert von ihm Anstrengungen für mehr Gerechtigkeit. Er sieht, dass die gesellschaftlichen Bedingungen sich verändern und damit auch die Herausforderungen an Gerechtigkeit. Viel zu tun, sagt er.
Aber Cremer nennt richtige Schritte, auch richtige Schritte, die Mut machen. Er nennt das Mögliche nüchtern beim Namen, also möglich, und er bezieht persönliche Mitverantwortung des Einzelnen mit ein. Das sind gute Voraussetzungen fürs Gelingen. Der Sozialstaat ist stabil und passt sich der Zeit an. Wer das Skandalisieren liebt, kann aus dem Buch einen Katalog von Missständen ableiten und den Notstand ausrufen. Die Konsequenz, die Cremer zieht, ist eine andere: "Der Niedergangsdiskurs, der sich in Deutschland breitgemacht hat, ist gefährlich. Er lähmt und entmutigt. Er spielt populistischen Kräften in die Hände, da er die Ängste in der Mitte der Gesellschaft verstärkt." Wir brauchen eine Debatte zum "Sozialstaat, die das mühsame Stückwerk der Reform unterstützt". Cremer will einen Kontrapunkt setzen: "Deutschland ist gerechter, als wir meinen, aber es kann noch gerechter werden. Ruhig zurücklehnen dürfen wir uns daher nicht."
Der Gerechtigkeit geht es wie der Demokratie. Alle sind dafür, reklamieren sie als ihr Ziel. Wollen aber doch bitte selbst bestimmen, was das denn ist: Gerechtigkeit. Wie viel Ungleichheit verträgt Gerechtigkeit? Wie viel Eigeninitiative braucht sie? Wo sind die wichtigsten Ansätze für mehr Gerechtigkeit?
Bildung ist ein Menschenrecht. Der Autor spricht von Befähigungsgerechtigkeit. Das kommt der Sache sehr nahe. Bildung ist nicht die komplette Lösung, aber doch wichtige Grundlage. Den Schulen wird oft mehr abverlangt, als sie können. Manche Elternhäuser sind überfordert. Berufsorientierung und Berufsvermittlung müssen dringend gestärkt werden. Niemand darf von der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen werden. Wo sich das mit Integrationsfragen verbindet, verschärft sich das Problem. Die Lücken auszufüllen wird viel Geld kosten. Aber zur Gerechtigkeit trägt es erheblich bei, und es zahlt sich volkswirtschaftlich für das Land sogar aus, als Qualifikation. In Sachen Gerechtigkeit geht es natürlich auch um Löhne und Renten, um Pflege und Steuern, um Vermögen und Erbschaft, um Arbeit und Sicherheit, um Wohnen, Mobilität, Gesundheitswesen, Digitalisierung und demografische Entwicklung.
Das heißt eben auch: Die Meinungen darüber, was gerecht ist und was im Sinne von Gerechtigkeit vordringlich ist, gehen weit auseinander. Cremer erinnert an die Zeit von 2013 bis 2017: Mindestlohn, mehr Mütterrente, Erweiterung des Unterhaltsvorschusses für Alleinerziehende, höhere Beiträge zur Rentenversicherung für pflegende Angehörige. Alles erreicht und abgehakt. Die Gerechtigkeitsdebatte wurde damit nicht entlastet. Woran liegt das? Vor allem an den Denkmustern: "Ich habe trotzdem weniger, als mir gerechterweise zusteht" und "Der andere hat aber mehr, als ihm gerechterweise zusteht". Es bleibt dabei: Gerechtigkeit für alle ist ein wichtiges Ziel, aber gemeint ist auch vor allem: Gerechtigkeit auf gutem Niveau. Das hat mehr Voraussetzungen als Verteilung.
Und Europa ist eine große Aufgabe für Fragen der Gerechtigkeit. Am 26. Mai 2019 wird wieder gewählt. Armutsgefährdet sind nach einer Definition der Europäischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik 15,7 Prozent der Menschen. Unterstellt, die EU wäre ein Land, läge das Armutsrisiko in Deutschland bei 8 Prozent, in Tschechien bei 27 Prozent, in Rumänien bei 90 Prozent. Das langfristige Problem liegt bei denen, die ohne Schulabschluss und Ausbildung bleiben. Sie vor allem bleiben ohne Arbeit. In Deutschland verlassen jedes Jahr zirka 40000 Kinder die Schule ohne Abschluss. Da sind wir wieder bei der Befähigungsgerechtigkeit. Cremer schreibt: "Das ist ein eklatantes Gerechtigkeitsdefizit." In der Tat.
Er greift auch noch ein Thema auf, das an Brisanz gewinnt. Was wird mit der Digitalisierung aus der Arbeitswelt, wie wir sie heute kennen? Nicht nur Bildung ist ein Menschenrecht. Auch Arbeit ist ein Menschenrecht. Genau das wird aber von manchen in Frage gestellt, mehr und mehr. Mit der Grundsicherung für erwerbsfähige Langzeitarbeitslose haben wir 2002/5 Pflöcke eingeschlagen. Für das Gesetz wurde von Gegnern das Schimpfwort "Hartz IV" geprägt, das sich auch durchgesetzt hat. Ausgangspunkt war damals eine große und wachsende Zahl von erwerbsfähigen Langzeitarbeitslosen, auch jungen, die keine Arbeitslosenhilfe bekamen, sondern Sozialhilfe mit der Botschaft: Stört uns nicht, wir erwarten von euch nichts, bleibt ruhig, wir sorgen dafür, dass ihr überleben könnt.
Diese Menschen wurden nicht zur Arbeitssuche angehalten, auch nicht gefördert mit dem Ziel der Re-Integration. Ihre Zahl ist seitdem um rund 40 Prozent gesunken und wäre noch deutlich niedriger, wenn nicht zuwandernd neue hinzugekommen wären. Manche im Lande fordern die Abschaffung dieses Gesetzes zur Grundsicherung und meinen wohl wirklich, sie handelten im Sinne der Gerechtigkeit. Das ist aber nicht so.
Cremer spricht an dieser Stelle von der "Freikugel" zum Ausstieg aus dem System Sozialstaat und bespricht die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen rational, aber distanziert unfreundlich. Er hält klaren Abstand. Wenn man Cremer liest, wird man gefestigt: Der Sozialstaat ist nicht fertig. Nie. Er ist schon gar nicht fix und fertig. Er ist und bleibt eine stabile Grundlage für eine gerechte Gesellschaft. Bleibt Cremers insistierende Frage: "Wie gelingt eine gesellschaftliche Debatte zum Sozialstaat, die Empathie, nüchterne Analyse und Faktentreue so verbindet, dass Rationalität das Wort führt?" Er leistet mit seinem Buch einen qualifizierten Beitrag.
FRANZ MÜNTEFERING
Georg Cremer: Deutschland ist gerechter, als wir meinen. C.H. Beck, München 2018, 272 Seiten, 16,95 Euro
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"Wer Freude am Erkenntnisgewinn empfindet, kommt hier voll auf seine Kosten."
Wirtschaftswoche online, Hilmar Schneider
Wirtschaftswoche online, Hilmar Schneider