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Reagiert ein Mediziner, Lehrer, Nachbar oder das Jugendamt und die Verletzungen der Kinder werden dokumentiert, dann erfolgt dies meist durch Rechtsmediziner. Sie sind in der Lage gerichtsfest zu klären, wie die Verletzungen entstanden sein können und wann sie dem Opfer zugefügt wurden.
Michael Tsokos, der seit 2007 die Rechtsmedizin der Charité leitet und selbst mehrfacher Vater ist,…mehr(...)
Reagiert ein Mediziner, Lehrer, Nachbar oder das Jugendamt und die Verletzungen der Kinder werden dokumentiert, dann erfolgt dies meist durch Rechtsmediziner. Sie sind in der Lage gerichtsfest zu klären, wie die Verletzungen entstanden sein können und wann sie dem Opfer zugefügt wurden. Michael Tsokos, der seit 2007 die Rechtsmedizin der Charité leitet und selbst mehrfacher Vater ist, sieht misshandelte Kinder nahezu täglich. Gemeinsam mit seiner Kollegin Saskia Guddat (jetzt: Etzold) wollte er aktiv werden und der Gesellschaft einen Spiegel vor das Gesicht halten.
In ihrem Buch “Deutschland misshandelt seine Kinder” stellen sie anhand aktueller Fälle die Situation dar und geben Hinweise auf mögliche Veränderungen, die dem Schutz der Kinder dienen können. Die Autoren wollen informieren, aufrütteln und langfristige Änderungen herbeiführen.
Obwohl gleich zu Beginn des Werkes gesagt wird, dass sie Misshandlungen durch alle Schichten der Gesellschaft zieht, wird ein Augenmerk auf Familien gelegt, die eher dem sozial schwachen Milieu zuzuordnen sind. Dies hängt auf der einen Seite damit zusammen, dass man festgestellt hat, dass ihn gut bürgerlichen Familien eher psychische Misshandlungen vorkommen, die zunächst nicht sichtbar sind. Auf der anderen Seite haben die Rechtsmediziner beobachtet, dass schwere Misshandlungen und Misshandlungen mit Todesfolgen häufig in Familien vorkommen, die bereits Kontakt mit dem eigentlichen Schutzsystem für Kinder hatten. Und genau hier scheinen die größten Probleme zu liegen, die Tsokos und Guddat zu vier Punkten zusammenfassen.
Zudem gibt es in der deutschen Gesellschaft anscheinend eine Kultur des Wegschauens, die Straftäter indirekt unterstützt.
Mit diesen Punkten setzen sich die Autoren in zwölf Kapiteln auseinander. Dies geschieht in einer recht klaren und verständlichen Sprache, der man natürlich einen gewissen akademischen Hauch anmerkt. Für einige Leser wird das Buch daher zeitweise etwas trocken wirken. Durch die realen Fälle, die nichts für schwache Gemüter sind, wird die Erzählweise jedoch aufgelockert. Anstrengend ist an manchen Stellen, dass dem Text teilweise eine gewisse Stringenz fehlt und sich einige Aspekte mehrfach wiederholen. Hier gewinnt man leider den Eindruck, dass der Ghostwriter nicht ganz bei der Sache war oder so unbedingt die Leserschaft aufrütteln wollte, dass er ansatzweise in ein nerviges Lamentieren verfallen ist. Dies ist gerade bei der Brisanz des Themas und dem Ziel, das hinter der Schrift steht, sehr bedauerlich. Auch die stetige Anmerkung, dass man nicht die Mitarbeiter des Jugendamtes per se schlecht machen will, hätte einmalig erfolgen können beziehungsweise wird sie schon dadurch obsolet, dass verschiedene Mitarbeiter und ihre Vorgehensweisen innerhalb des Textes erläutert werden.
Man kann also sagen, dass man es hier mit einem interessanten Sachbuch zu tun hat, das zwar einige Mängel in der B-Note aufweist, seine Wirkung aber bei den meisten Lesern nicht verfehlen wird. Doch wer liest eigentlich dieses Buch und wie stark verinnerlicht der Leser die gesagten Worte? Darüber habe ich mir mehrfach den Kopf zerbrochen, weil ich das Gefühl hatte, dass die eigentlich verantwortlichen Personen das Buch nicht wahrnehmen werden oder die Situation bereits kennen. Und diejenigen, die das Buch lesen haben vielleicht keinen nennenswerten Einfluss. Kehren wir aber gedanklich wieder zu den Fallzahlen zurück, wird schnell klar, wie eigentlich jeder Einfluss ausüben kann. Wir können uns weiterbilden, wir können wachsam sein, wir können nachfragen und zuhören. Zudem können wir das, was wir aus dem Buch gezogen haben weitergeben. Wir können Ansprechpartner für Kinder sein, wir können aber auch einfach dem Nachbarn, der mal etwas lauter wird oder der sichtlich überforderten Mutter Hilfe anbieten. Und wir können in bestimmten Situationen einfach zum Telefon greifen und Hilfe rufen.