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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kaouther Adimis "Dezemberkids"
Können Kinder eine Revolution anzetteln? Würden sie, wenn man ihnen ihr liebstes Spielzeug wegnähme, indem man beispielsweise ein Stück Brachland, auf dem sie Fußball spielen, in Baugrund umwandelte und zwei Generälen erlaubte, auf diesem Grund ihre Villen zu errichten, würden sie sich also dann derart zur Wehr setzen, dass nicht nur die Bagger gestoppt würden? Sondern auch gleich das System ins Wanken geriete, das es den Generälen ermöglicht, auf einem Terrain ihrer Wahl zu bauen, wie ihnen beliebt?
Das ist die Frage, die Kaouther Adimi in ihrem Roman aufwirft, in dem das Fußballfeld in Dely Brahim nahe der algerischen Hauptstadt Algier zu einer Metapher für das ganze Land wird. In Dely Brahim, wo die 1986 geborene Autorin selbst aufgewachsen ist, leben im Roman vor allem Angehörige des Militärs mit ihren Familien. Das Viertel ist nicht schlecht. Seine Straßen sind nicht gut geteert, und es mangelt an Spielgeräten für die Kinder, aber die Häuser sind nur ein, zwei Stockwerke hoch, und die Kinder haben immerhin das Brachland in der Mitte ihrer cité: ein baumloses Viereck, das sich in eine Schlammgrube verwandelt, wenn im Winter der Regen fällt. Aber eben auch der letzte freie Raum in einem Land, das sich die Mächtigen ansonsten fast vollständig unter den Nagel gerissen haben.
Dem kleinen Aufstand, den Kaouther Adimi als unerhörte Begebenheit ins Zentrum ihres Buches stellt, liegt eine wahre Geschichte zugrunde. Im Jahr 2016 hatte eine Gruppe von Kindern in Algerien tatsächlich gegen die Bebauung ihres Bolzplatzes demonstriert, und Adimi, die seit mehr als zehn Jahren in Paris lebt, auf Französisch schreibt und mit den "Dezemberkids" bereits ihren vierten Roman veröffentlicht hat, macht aus der Episode ein Lehrstück mit klar verteilten Rollen. Die mächtigen Generäle sind gierig und korrupt, die Erwachsenen, zu denen auch die Eltern der Kinder gehören, sind feige, nur die Kinder selbst sind willens und in der Lage, gegen etwas zu kämpfen, das sie als Ungerechtigkeit empfinden. Dass sie so jung sind, verschafft ihnen einen strategischen Vorteil. Wer würde es wagen, auf Zehnjährige zu schießen oder sie ins Gefängnis zu stecken? So entwickelt sich der Aufstand dann für die Mächtigen des Landes zu einem Dilemma, das es Adimi erlaubt, den Finger in alte Wunden zu legen.
Dass die meisten ihrer Figuren dabei als Paten für bestimmte Epochen fungieren, tut ihnen nicht immer gut: Am Beispiel der alten Widerstandskämpferin Adila etwa erzählt Kaouther Adimi vom Aufstand gegen die französische Kolonialmacht. Mit den beiden pensionierten Offizieren lässt sie die neunziger Jahre aufleben, in der das Militär die Islamisten bekämpfte. Die alleinstehende Jasmin singt ein Lied von den verlorengegangenen Freiheiten für die Frauen und den Belästigungen, denen sie ausgesetzt sind, während ihre Tochter Ines gemeinsam mit deren Freunden Dschamil und Mahdi als rebellierende Kinder für jene Generation stehen, die seit kurzem mit ihren als "Hirak" bezeichneten Jugendprotesten in Algerien von sich reden macht. Ob mit diesen Protesten tatsächlich eine neue Zeit anbricht? Der Roman wagt darauf gottlob keine Antwort. Aber er entlässt die Kinder mit ihrer Revolte aus der Kindheit und macht sie zu Mitspielern in einem politischen Spiel, dessen alte Regeln plötzlich nicht mehr gelten.
Wie immer in autoritären Regimen beruhen diese Regeln auf der Angst eines jeden Einzelnen vor Verfolgung, Repressionen, Demütigung, Folter und so fort. Doch obwohl fast alle Figuren diese Angst verinnerlicht und ihre Leben um sie herum gebaut haben, hört man in diesem Roman nur von der Angst reden. Man fühlt sie nicht. Sie verschwindet hinter historischen Exkursen und hinter einem immer wieder fast heiteren Ton, der die Brisanz des Geschehens, die Kraftprobe zwischen den ungleichen Gegnern und den Konflikt zwischen den Generationen, auf ein unbedenkliches Maß reduziert. Das mag man angenehm finden, weil es dem erdrückenden Herrschaftssystem, das fast früher oder später alle zu Komplizen macht, die Bedrohlichkeit nimmt. Aber ein bisschen langweilig ist es auch.
LENA BOPP
Kaouther Adimi: "Dezemberkids". Roman.
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Lenos Verlag, Basel 2020. 220 S., geb., 22,- [Euro].
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