Homeira ist kein gewöhnliches afghanisches Mädchen. Mit dreizehn riskiert sie ihr Leben, um andere Mädchen heimlich zu unterrichten. Sie liest jedes Buch, das sie finden kann, am liebsten die russischen Klassiker ihres Vaters, die er zum Schutz vor den Taliban unter einem Maulbeerbaum vergräbt. Als eine ihrer Kurzgeschichten in der Zeitung veröffentlicht wird, glaubt Homeira, als Frau in Afghanistan glücklich werden zu können. Doch als sich Jahre später ihr Mann nach der Geburt ihres Sohnes eine Zweitfrau nehmen will, weiß sie, dass das niemals gelingen kann. Homeira steht vor einer unmöglichen Entscheidung: Revoltiert sie und verliert ihren Sohn, oder lässt sie es geschehen und verliert sich selbst? In ihrem Buch verwebt sie Erinnerungen mit bewegenden Briefen an ihren Sohn, den sie zunächst zurücklassen musste. Homeiras Geschichte ist die einer bemerkenswerten afghanischen Frau – und die einer Mutter zwischen Liebe und dem Wunsch nach Freiheit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.10.2014Peru in der Phantasie von Thornton Wilder
Eine Brücke reißt, fünf Menschen sterben. War das ihr Schicksal? Oder Zufall? Für die Antwort muss ein Mönch ins Feuer gehen. War auch das Gottes Plan?
Von Verena Lueken
Jahrzehnte nach der ersten Lektüre ein Buch in einer schön aufgemachten Neuausgabe wieder in die Hand zu nehmen, sorgfältig und modern, aber doch auch in einer Weise neu übersetzt, dass der Abstand der Zeit spürbar bleibt - das ist eine großartige Überraschung. Vor allem wenn es sich um ein Buch handelt, an das man schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte, ein kleiner Klassiker aus Kindertagen sozusagen, der ein wenig aus dem Gedächtnis gerutscht war.
Jetzt kommt diese Überraschung in Gestalt eines Arche-Bandes zum siebzigsten Jubiliäum der Erstausgabe, wie es darin heißt. Das Buch ist Thornton Wilders Roman (der eher eine Novelle ist) "Die Brücke von San Louis Rey", erstmals auf Deutsch erschienen im Jahr 1929 und seitdem immer wieder in derselben Übersetzung von Herberth E. Herlitschka in verschiedenen Verlagen in Österreich und der Schweiz und vor siebzig Jahren eben auch bei Arche aufgelegt.
Es ist ein wunderbares Buch geblieben. In der neuen Übersetzung von Brigitte Jakobeit wird sein fast durchgängig ironischer Ton deutlicher, die Beschreibungen erfundener peruanischer Rituale könnten prachtvoller sein ("Bei der Zeremonie herrschte große Enge, und zwei Frauen fielen vom Balkon, doch Gott in Seiner Güte ließ sie auf Doña Merced landen"), die Personenzeichnungen sind kunstvolle Vignetten, die für sich stehen könnten, und die einfachen Sätze, die wichtigsten, kommen ohne Tamtam daher: "Das Leben ist kurz. Du wirst staunen, wie schnell es zu Ende geht."
Auch darin liegt eine große Ironie. Die Ironie des Schicksals. Denn der Mann, der da warnt, ein Kapitän zur See, wird am nächsten Tag einen Fluss mit dem Schiff überqueren. Der Junge Esteban aber, zu dem er spricht und der zögert, ihn zu begleiten, wird über die Brücke gehen: die Brücke von San Luis Rey. Sie ist eine Sehenswürdigkeit, eine Hängebrücke, von den Inkas im frühen siebzehnten Jahrhundert geflochten, und sie ist einer der wichtigsten Verbindungswege zwischen Lima und Cuzco. Ausgerechnet an jenem Tag reißt sie und lässt fünf Menschen in den Abgrund stürzen, unter ihnen Esteban. Es ist der 20. Juli 1714.
Ein Franziskanermönch, der durch Peru wanderte, um Indios zu bekehren, beobachtete das Unglück. Er war auf dem Weg zur Brücke und hatte Glück, dass sie vor seiner Ankunft riss. Erleichtert, selbst verschont worden zu sein, fragte sich dieser Bruder Juniper, warum es ausgerechnet diese fünf Menschen erwischte. Er vermutete, ihre Zeit sei einfach abgelaufen gewesen, ihr Lebenskreis vollendet. Bruder Juniper ging nach dem Unglück jahrelang in Lima und seiner Umgebung herum, um Beweise für seine Überzeugung zu sammeln, jedes der fünf Leben sei "ein vollkommenes Ganzes" gewesen, ihr Tod auf der Brücke also Schicksal, Gottes Plan. Oder könnte es, wie zunehmend im Laufe seiner Untersuchung deutlich wurde, doch Zufall gewesen sein? Der Unterschied zwischen beiden ist religionsphilosophisch einer ums Ganze.
Bruder Juniper trug eine Menge Einzelheiten zusammen. Er las die Briefe ("ein Lehrbuch für Schüler und ein Ameisenhügel für Grammatiker") von Doña María, Marquesa de Montemayor, an ihre Tochter und bemerkte darin die Scham der Mutter darüber, dass ihre Liebe, so tief sie auch war, "doch immer einen Hauch von Tyrannei enthielt". Er spürte der Geschichte von Estaban nach, der um seinen toten Zwillingsbruder trauerte ("ich bin allein, allein"), rekonstruierte, wer Onkel Pio war ("er streute Verleumdungen für einen festen Preis das Stück"), und je mehr Anekdoten, Berichte, Erinnerungen er zusammentrug, desto augenfälliger wurde es für ihn, dass er das Wesentliche, das diese Menschen antrieb, nicht erfassen konnte: ihre Leidenschaften, ihre Trauer darüber, in unerwiderter Liebe zu leben, ihren Drang, diesen Zustand zu verändern, um die Liebe zu buhlen, zu kämpfen, ihr hinterherzusterben.
Bruder Juniper schrieb ein Buch über die Ergebnisse seiner Nachforschungen. Das Buch fiel der Inquisition in die Hände, und gemeinsam mit seinem ketzerischen Werk wurde Bruder Juniper eines Tages kurz darauf auf einem Marktplatz verbrannt. Doch es gab eine Abschrift, und die lesen wir jetzt.
Thornton Wilder schrieb "Die Brücke von San Luis Rey" im Jahr 1926, das Buch kam 1927 in den Vereinigten Staaten heraus, gewann 1928 den Pulitzerpreis, den ersten von drei für den Autor, der damals gerade dreißig war. Doch Wilder blieb in der Erinnerung der Nachwelt vor allem der Bühnenautor, dem wir "Unsere kleine Stadt" verdanken, ein Stück, das vermutlich die meisten Schüleraufführungen auf dem Buckel hat.
Wer nur dieses eine längst staubbedeckte Stück von Wilder kennt, wird mit Verblüffung auf "Die Brücke von San Luis Rey" schauen. Denn hier hören wir die Stimme eines Schriftstellers, der zwar Peru nie besucht hat und einige klimatische und topographische Details, so wurde damals bemängelt, nicht ganz korrekt wiedergab, der aber einen Ton fand, den wir später bei Mario Vargas Llosa oder auch Gabriel García Márquez wiederfanden, einen zwischen Parabel und Volksmärchen schwebenden Ton, in dem sich die großen Fragen stellen ließen. Zum Beispiel die, ob wir einen Gott brauchen, damit das Leben einen Sinn erhält. Was es mit der Liebe auf sich hat. Ob es eine Brücke zwischen den Lebenden und den Toten gibt und ob diese Brücke eher als Gottes Wille und eine Wiedervereinigung in seinem Reich möglicherweise die Liebe sein könnte. Und weil das alles so groß und bedeutend und wichtig klingt, wird es von witzigen Beobachtungen über das Leben im Kloster, am Hofe oder am Theater umschlossen - Details, in denen gnadenlos die Zeit pocht, Klatschgeschichten voller Bosheit und doch ohne Verurteilung der Figuren, die hier beileibe keine guten Menschen sind. Nicht nur jedenfalls.
Am Ende steht die Frage, was es bedeutet, wenn nach dem Tod auch die Erinnerung an die Toten verschwindet und kein ewiges Leben angebrochen ist. Ob es eine Liebe gab, sagt dieses Buch, ist das Einzige, was zählt. Selbst wenn auch sie letztlich vergessen wird.
Thornton Wilder: "Die Brücke von San Luis Rey". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Arche Verlag, Zürich 2014.
176 S., geb., 16,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine Brücke reißt, fünf Menschen sterben. War das ihr Schicksal? Oder Zufall? Für die Antwort muss ein Mönch ins Feuer gehen. War auch das Gottes Plan?
Von Verena Lueken
Jahrzehnte nach der ersten Lektüre ein Buch in einer schön aufgemachten Neuausgabe wieder in die Hand zu nehmen, sorgfältig und modern, aber doch auch in einer Weise neu übersetzt, dass der Abstand der Zeit spürbar bleibt - das ist eine großartige Überraschung. Vor allem wenn es sich um ein Buch handelt, an das man schon sehr lange nicht mehr gedacht hatte, ein kleiner Klassiker aus Kindertagen sozusagen, der ein wenig aus dem Gedächtnis gerutscht war.
Jetzt kommt diese Überraschung in Gestalt eines Arche-Bandes zum siebzigsten Jubiliäum der Erstausgabe, wie es darin heißt. Das Buch ist Thornton Wilders Roman (der eher eine Novelle ist) "Die Brücke von San Louis Rey", erstmals auf Deutsch erschienen im Jahr 1929 und seitdem immer wieder in derselben Übersetzung von Herberth E. Herlitschka in verschiedenen Verlagen in Österreich und der Schweiz und vor siebzig Jahren eben auch bei Arche aufgelegt.
Es ist ein wunderbares Buch geblieben. In der neuen Übersetzung von Brigitte Jakobeit wird sein fast durchgängig ironischer Ton deutlicher, die Beschreibungen erfundener peruanischer Rituale könnten prachtvoller sein ("Bei der Zeremonie herrschte große Enge, und zwei Frauen fielen vom Balkon, doch Gott in Seiner Güte ließ sie auf Doña Merced landen"), die Personenzeichnungen sind kunstvolle Vignetten, die für sich stehen könnten, und die einfachen Sätze, die wichtigsten, kommen ohne Tamtam daher: "Das Leben ist kurz. Du wirst staunen, wie schnell es zu Ende geht."
Auch darin liegt eine große Ironie. Die Ironie des Schicksals. Denn der Mann, der da warnt, ein Kapitän zur See, wird am nächsten Tag einen Fluss mit dem Schiff überqueren. Der Junge Esteban aber, zu dem er spricht und der zögert, ihn zu begleiten, wird über die Brücke gehen: die Brücke von San Luis Rey. Sie ist eine Sehenswürdigkeit, eine Hängebrücke, von den Inkas im frühen siebzehnten Jahrhundert geflochten, und sie ist einer der wichtigsten Verbindungswege zwischen Lima und Cuzco. Ausgerechnet an jenem Tag reißt sie und lässt fünf Menschen in den Abgrund stürzen, unter ihnen Esteban. Es ist der 20. Juli 1714.
Ein Franziskanermönch, der durch Peru wanderte, um Indios zu bekehren, beobachtete das Unglück. Er war auf dem Weg zur Brücke und hatte Glück, dass sie vor seiner Ankunft riss. Erleichtert, selbst verschont worden zu sein, fragte sich dieser Bruder Juniper, warum es ausgerechnet diese fünf Menschen erwischte. Er vermutete, ihre Zeit sei einfach abgelaufen gewesen, ihr Lebenskreis vollendet. Bruder Juniper ging nach dem Unglück jahrelang in Lima und seiner Umgebung herum, um Beweise für seine Überzeugung zu sammeln, jedes der fünf Leben sei "ein vollkommenes Ganzes" gewesen, ihr Tod auf der Brücke also Schicksal, Gottes Plan. Oder könnte es, wie zunehmend im Laufe seiner Untersuchung deutlich wurde, doch Zufall gewesen sein? Der Unterschied zwischen beiden ist religionsphilosophisch einer ums Ganze.
Bruder Juniper trug eine Menge Einzelheiten zusammen. Er las die Briefe ("ein Lehrbuch für Schüler und ein Ameisenhügel für Grammatiker") von Doña María, Marquesa de Montemayor, an ihre Tochter und bemerkte darin die Scham der Mutter darüber, dass ihre Liebe, so tief sie auch war, "doch immer einen Hauch von Tyrannei enthielt". Er spürte der Geschichte von Estaban nach, der um seinen toten Zwillingsbruder trauerte ("ich bin allein, allein"), rekonstruierte, wer Onkel Pio war ("er streute Verleumdungen für einen festen Preis das Stück"), und je mehr Anekdoten, Berichte, Erinnerungen er zusammentrug, desto augenfälliger wurde es für ihn, dass er das Wesentliche, das diese Menschen antrieb, nicht erfassen konnte: ihre Leidenschaften, ihre Trauer darüber, in unerwiderter Liebe zu leben, ihren Drang, diesen Zustand zu verändern, um die Liebe zu buhlen, zu kämpfen, ihr hinterherzusterben.
Bruder Juniper schrieb ein Buch über die Ergebnisse seiner Nachforschungen. Das Buch fiel der Inquisition in die Hände, und gemeinsam mit seinem ketzerischen Werk wurde Bruder Juniper eines Tages kurz darauf auf einem Marktplatz verbrannt. Doch es gab eine Abschrift, und die lesen wir jetzt.
Thornton Wilder schrieb "Die Brücke von San Luis Rey" im Jahr 1926, das Buch kam 1927 in den Vereinigten Staaten heraus, gewann 1928 den Pulitzerpreis, den ersten von drei für den Autor, der damals gerade dreißig war. Doch Wilder blieb in der Erinnerung der Nachwelt vor allem der Bühnenautor, dem wir "Unsere kleine Stadt" verdanken, ein Stück, das vermutlich die meisten Schüleraufführungen auf dem Buckel hat.
Wer nur dieses eine längst staubbedeckte Stück von Wilder kennt, wird mit Verblüffung auf "Die Brücke von San Luis Rey" schauen. Denn hier hören wir die Stimme eines Schriftstellers, der zwar Peru nie besucht hat und einige klimatische und topographische Details, so wurde damals bemängelt, nicht ganz korrekt wiedergab, der aber einen Ton fand, den wir später bei Mario Vargas Llosa oder auch Gabriel García Márquez wiederfanden, einen zwischen Parabel und Volksmärchen schwebenden Ton, in dem sich die großen Fragen stellen ließen. Zum Beispiel die, ob wir einen Gott brauchen, damit das Leben einen Sinn erhält. Was es mit der Liebe auf sich hat. Ob es eine Brücke zwischen den Lebenden und den Toten gibt und ob diese Brücke eher als Gottes Wille und eine Wiedervereinigung in seinem Reich möglicherweise die Liebe sein könnte. Und weil das alles so groß und bedeutend und wichtig klingt, wird es von witzigen Beobachtungen über das Leben im Kloster, am Hofe oder am Theater umschlossen - Details, in denen gnadenlos die Zeit pocht, Klatschgeschichten voller Bosheit und doch ohne Verurteilung der Figuren, die hier beileibe keine guten Menschen sind. Nicht nur jedenfalls.
Am Ende steht die Frage, was es bedeutet, wenn nach dem Tod auch die Erinnerung an die Toten verschwindet und kein ewiges Leben angebrochen ist. Ob es eine Liebe gab, sagt dieses Buch, ist das Einzige, was zählt. Selbst wenn auch sie letztlich vergessen wird.
Thornton Wilder: "Die Brücke von San Luis Rey". Roman.
Aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit. Arche Verlag, Zürich 2014.
176 S., geb., 16,99 [Euro].
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