Rodrigo Hasbún hat eine spektakuläre historische Episode zu einem hochexplosiven Kammerspiel verdichtet. Er erzählt von den Hoffnungen und Ernüchterungen einer deutschen Familie im südamerikanischen Exil und von den unentrinnbaren Fliehkräften der Geschichte.
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Fluchtpunkt Bolivien: Rodrigo Hasbúns Roman "Die Affekte" basiert auf der Geschichte einer zwiespältigen deutschen Familie.
Von Wiebke Porombka
Was bloß sind das für Kräfte, die Familienbande sprengen, die Paare, Geschwister genauso wie Eltern und Kinder auseinandertreiben? Kräfte, die manche zu Wartenden machen, tief in die Enge des Gegebenen drücken, während sie die anderen beständig hinausdrängen ins Unbekannte und Extreme? Vereinbar sind diese beiden Daseinsweisen, das Verharren und das Getriebene, gewiss nicht. Und folgt man dem, was der 1981 geborene bolivianische Autor Rodrigo Hasbún in seinem schmalen Roman "Die Affekte" erzählt, dann führt die eine Verfasstheit kaum weniger in die Selbstzerstörung als die andere. "Fortgehen, das war, was Papa am besten konnte, fortgehen, aber auch wiederkommen, wie ein Soldat des ewigen Krieges, bis er Kraft geschöpft hatte, um erneut fortzugehen", heißt es gleich zu Anfang.
Die Familie, deren Geschichte Hasbún in wechselnden Perspektiven, bruchstückhaft und in mitunter großen Zeitsprüngen erzählt, ist keine rein erfundene, wenngleich der Autor eigens auf den fiktionalen Charakter des Romans verweist. Hans Ertl, jener immerzu aufbrechende Vater, war nicht nur der Kameramann Leni Riefenstahls, sondern filmte während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag Rommels in der Propagandakompanie. Zwar wies Ertl nachträglich stets jede ideologische Nähe zum NS-Regime zurück und erklärte sich zum politisch neutralen Künstler, dennoch wurde er nach dem Krieg zwischenzeitlich mit Berufsverbot belegt und verließ Anfang der fünfziger Jahre mit seiner Frau und den drei Töchtern Deutschland in Richtung Bolivien. An dieser Stelle setzt Hasbúns Roman ein.
Tatsächlich scheint es vor allem der eigene Größenwahn zu sein, der Ertl im Buch antreibt. Nachgerade manisch arbeitet er zu Beginn von "Die Affekte" an den Vorbereitungen für eine Expedition, auf der er die sagenumwobene Inka-Stadt Paititi aufspüren will, ein Unternehmen, das er wiederum filmisch zu begleiten plant. Ein Hirngespinst? Womöglich. Vor allem aber die Anziehung durch einen Sehnsuchtsort, in dem utopisches Versprechen und der Reiz der Gefahr zusammenfallen. Begleiten soll ihn seine Lieblingstochter Monika, deren Nervenleiden von ihm nicht zur Kenntnis genommen wird.
Unheimlich, wie sich Hasbúns Ertl an den eigenen Grenzüberschreitungen berauscht. In dem Glauben, Ruinen Paititis freilegen zu können, setzt er mit Heizöl ein ganzes Tal in Brand und lässt filmen, wie er vor dem selbstinszenierten Inferno fliehen muss. Abrupt und wahrlich wie eine himmlische Rettung setzt ein gewaltiger Platzregen ein, der die Flammen bezwingt. "Papa schrie etwas mit einer Begeisterung, die mich erschauern ließ, und für Sekunden hatte ich Angst vor allem: vor dem, was wir nicht kannten (was deutlich mehr war, als was wir kannten), vor dem, was jeder von uns in sich trug, vor dem, was außerhalb der Gegenwart lag." Düster und prophetisch muten diese Worte der zweitältesten Tochter Heidi an, aus deren Sicht das Kapitel erzählt ist.
Die Mutter beschränkt sich bald wieder aufs Alleinsein, rauchend, trinkend. Als sie krank darniederliegt und stirbt, ist sie dem Blick des Lesers beinahe schon entglitten. Kaum anders ergeht es den jüngeren beiden Töchtern, die selbst nur zu fernen Beobachterinnen dessen werden, was Monika widerfährt: Nach einer gescheiterten Vernunftehe - vielleicht ein zaghafter Versuch, in ruhiges Fahrwasser zu gelangen - entscheidet sie sich für den politischen Widerstand und schließt sich der bolivianischen Guerilla ELN an.
Welche Rolle spielen die zwischen Hybris und Kompromisslosigkeit schwankenden Unternehmungen des Vaters für diese ideologische Entflammtheit? Oder sein Vermögen, auch Abgründiges wirkungsmächtig ins Bild zu setzen? Seine zweifelhafte NS-Vergangenheit? Monikas Nervenleiden? Wer wollte das entscheiden? Die innerliche und äußerliche Verhärtung der ältesten Tochter, die auf ihre Radikalisierung folgt, gehört zu den stärksten Passagen des Romans. Nachdem Monika den bolivianischen Konsul Roberto Quintanilla Pereira erschossen hat, der das Abhacken der Hände des getöteten Che Guevara verantwortet haben soll, übersteigt das Kopfgeld, das auf sie ausgesetzt ist, selbst dasjenige, das zuvor für den berühmten Revolutionsführer ausgeschrieben war. 1973 wird sie selbst in einem Hinterhalt erschossen.
Die historischen Details und Zusammenhänge dieser auch politisch hochaufgeladenen Familiengeschichte werden von Rodrigo Hasbún nur angerissen, so dass man viele der ungeheuren Spuren, die der schmale Roman legt, jenseits der Lektüre weiterverfolgen muss. Aber auch wer "Die Affekte" lediglich mit vagem Wissen um die historischen Zusammenhänge liest, wird von der unbezwingbaren Wucht, von der die Figuren bestimmt werden, affiziert sein. Und zugleich desillusioniert. Klar ist, dass von allen Leidenschaften, von allem Schmerz, die ein Leben bestimmen, kaum etwas bleiben wird.
Rodrigo Hasbún: "Die Affekte". Roman.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 142 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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