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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Moderne Elemente im Nationalsozialismus / Von Jürgen Elvert
Kann man einen europäischen Staat des 20. Jahrhunderts, dessen führende Vertreter ernsthaft darüber nachdachten, Teile seiner Außengrenzen durch Wehrdörfer - ähnlich der mittelalterlichen Marken - schützen zu wollen, tatsächlich als "in seinem Kern ausgesprochen vorwärtsgewandt und zukunftsgerichtet" bezeichnen? Wurde dieser moderne Kern wirklich nur von einem archaisch anmutenden antimodernen Schimmer umgeben? Riccardo Bavaj jedenfalls kommt zu diesem Schluß, ohne sich seiner Sache ganz sicher zu sein. So bezeichnet er den Nationalsozialismus zugleich als den "Entwurf einer anderen Moderne", der seine extremen Energien aus der Spannung zwischen technisch-modernistischer Lust an allem Machbaren und der gleichzeitigen Mythologisierung des angeblich Althergebrachten bezogen habe.
Die Unsicherheit über die Anwendbarkeit des Modernisierungstopos auf den Nationalsozialismus ist keineswegs neu, sondern hatte schon vor etwa 15 Jahren zu teilweise heftigen Diskussionen in der "Zunft" geführt. Schließlich wollten manche Anhänger der Modernisierungsthese der NSDAP sogar so etwas wie den Charakter einer Volkspartei attestieren, andere sahen die nichtadeligen Wehrmachtsoffiziere als Vorläufer des "Staatsbürgers in Uniform", jenes Soldatentyps also, von dem man zuvor geglaubt hatte, daß er im Umfeld der Aufstellung der Bundeswehr in den frühen fünfziger Jahren erfunden worden sei. Solche und andere Deutungsmuster gingen den Gegnern der Modernisierungsthese entschieden zu weit, weil sie ihrer Meinung nach Dinge miteinander in Beziehung setzten, die entweder in völlig verschiedenen zeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen oder aber in Auseinandersetzung miteinander entstanden waren.
Um seine Thesen zu stützen, hat Bavaj mehr als 1500 Titel geordnet, die vorwiegend aus den vergangenen beiden Jahrzehnten stammen. Sein Material umfaßt Studien zur Deutung des Nationalsozialismus ebenso wie Arbeiten, die sich mit verschiedenen Aspekten der Geschichte des "Dritten Reiches" auseinandersetzen. Die Reflexionen über das Wesen des Nationalsozialismus werden im Kontext der Entwicklung des Wissenschaftsdiskurses nach 1945 präsentiert, wobei der Modernisierungstopos als Merkmal der jüngsten Forschungsdiskussion erscheint. Bavaj erörtert die verschiedenen Positionen und Lager angemessen und ausgewogen. Kritisch angemerkt sei nur, daß die Tendenzen zur Behandlung der Zwischenkriegszeit als einer Einheit - wie in jüngster Zeit mehrfach erfolgreich erprobt - nicht hinreichend als Alternative thematisiert werden.
So hilfreich die Präsentation der unterschiedlichen Standpunkte für eine rasche Orientierung in der Forschungslandschaft ist, taugt sie jedoch kaum dazu, die Relevanz der Modernisierungsthese im fachwissenschaftlichen Diskurs zu ändern. Kritiker wie Anhänger werden viele Argumente zur Bestätigung ihrer jeweiligen Standorte finden und deshalb keine Veranlassung sehen, diese zu überprüfen. Somit bleibt die Moderne im Nationalsozialismus auch weiterhin zumindest ambivalent.
Riccardo Bavaj: "Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus". Eine Bilanz der Forschung. R. Oldenbourg Verlag, München 2003. 276 S., 39,80 [Euro].
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