Als Musa mit seinem Ruderboot an der Küste der ägäischen Insel anlegt, stößt er auf ein menschenleeres, verlassenes Paradies. Sofort erliegt er dem Zauber dieser verwunschenen Welt und lässt sich auf der Insel nieder. Aber unter der friedlichen Oberfläche liegen Tragödien. Die Bewohner, alles Griechen, wurden nach dem Ersten Weltkrieg in einer gigantischen Umsiedlungsaktion von einem Tag auf den anderen vertrieben. Und in Musa erwacht die Erinnerung an die Grausamkeiten, die jahrzehntelang Anatolien, die Völker des Kaukasus und des Mittleren Ostens heimsuchten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.10.2001Ökozid und Genozid
Im Bann der Bienen: Yasar Kemal scheitert ehrenvoll
Gegen Yasar Kemal läßt sich nichts sagen. Er ist ein mutiger Mann, engagiert, er hat es verstanden, sich bei nahezu allen Machtcliquen der Türkei unbeliebt zu machen. Der heute Achtundsiebzigjährige setzte sich für die Kurden und andere Minderheiten ein, sprach sich immer für Versöhnung und Verständigung aus; und Pazifist im autoritären türkischen Militärstaat zu sein, bedeutet etwas ganz anderes, als einfach nur Pazifist zu sein. Mehrfach war er dafür im Gefängnis, wurde häufig bedroht und angeklagt.
Gleichwohl versteht sich Kemal in erster Linie als Schriftsteller. Auf deutsch erschien bereits 1960, kaum fünf Jahre nach dem türkischen Original, jener Roman, der ihm weltweiten Ruhm eintrug, "Ince Memed". Als Kind muß man das Buch gelesen haben, denn die Hauptfigur, der verarmte Waisenjunge Ince Memed, der zum Rächer der Armen wird, ist ja nicht nur, wie immer gesagt wird, der türkische Robin Hood, sondern vor allem der türkische Harry Potter (und auch Kemal konnte nicht widerstehen, dem Erfolg etliche Fortsetzungen folgen zu lassen). Freilich, bei Kemal sind die Anliegen etwas ernster, aber die Wirkung auf Jung und Alt ist dieselbe: Spannung, ein sympathischer, kluger und jugendlicher Held in Gefahr, eine Welt, die vor bösen Mächten gerettet werden muß; eigentlich gehört Kemal zwischen Karl May und Harry Potter ins Regal mit den Kinder- und Jugendbüchern.
In welches Regal aber mit der nun erschienenen "Ameiseninsel", dem ersten Teil einer gleichnamigen Trilogie? Dieses Buch taugt nämlich allenfalls für die Bibliothek der bis zur Rücksichtslosigkeit gutgemeinten Werke. Im Hintergrund des Plots steht der Bevölkerungstausch zwischen der Türkei und Griechenland, eine 1923 im Friedensvertrag von Lausanne völkerrechtlich legitimierte ethnische Säuberung, bei der rund anderthalb Millionen Menschen ihrer Heimat beraubt wurden. Ein großartiger und bewegender Stoff, sollte man meinen, für einen realistischen Erzähler wie Kemal; und doch vielleicht zu groß für jemanden, den man mit Tolstoi nicht vergleichen möchte.
Kemal situiert das Geschehen auf einer kleinen türkischen Insel in der Ägäis, wo alles idyllisch anmutet - eine schöne Gelegenheit zu seitenfüllenden Naturschilderungen. Da türmt sich Naturbeschreibung auf Naturbeschreibung, Fischfang- auf Fischbratszene, stilistisch so einfallslos wie die Kopierfunktion im Textverarbeitungsprogramm und kaum mit Einbindung in die Dramaturgie. Es sind Szenen, die man nur mit größter Mühe nicht überliest.
Als der Befehl zur Umsiedlung kommt, verlassen alle Bewohner bis auf den Einzelgänger Vasili die Insel. Vasili lebt vom Fischfang und schwört, den ersten Fremden, der die Insel betritt, zu erschießen. Dieser kommt in Gestalt des Türken Musa, und aus Vasili wird zweihundert Seiten lang eine Hamlet-Karikatur. Vasili bringt es ebenso wenig über sich, den Neuankömmling umzubringen, wie von seinem Entschluß abzulassen. Psychologische Tiefenzeichnung, innerlich zerrissene Helden waren Kemals Stärke nie.
Zwar hadert auch Memed hie und da mit sich, ob es richtig sei, ein ganzes Dorf abzubrennen, um einem Großgrundbesitzer den Garaus zu machen. Aber diese Anflüge von Zweifel halten ihn nie davon ab, weiterhin schießfreudig zur Tat zu schreiten, zumal Gut und Böse in seiner Welt klar getrennt sind. Vasili hingegen wird von Erinnerungen an seine Kriegszeit in den Dardanellen heimgesucht. Die üppig heraufbeschworenen Szenen sind jedoch nur pittoreske Klischees vom Krieg. Sie bewegen den Leser so wenig wie die rührseligen Naturbeschreibungen: "Da hatte bisher ja niemand gewußt, wie viele Bienen, wie viele Arten von Bienen auf dieser Insel lebten!"
Zwischen Musa und Vasili entspinnt sich ein endloses Katz-und-Maus-Spiel, bis sie sich auf Seite 272 endlich begegnen und Musa Gelegenheit bekommt, seinerseits Kriegserlebnisse zu beichten. Wiederum spricht nicht der Schriftsteller, sondern der Mensch und Pazifist Kemal. Soll man jenen vor diesem noch einmal retten, indem man darauf hinweist, daß er sich in der Tradition mündlichen Erzählens bewegt, wo Redundanzen zum System gehören und die Präsenz eines lebhaften Erzählers manche Schwächen ausgleicht? Aber die Kaffeehäuser mit den Wasserpfeifen und Geschichtenerzählern, in die man so schön vor der gleißenden Mittagshitze fliehen kann, sind allzu fern.
In den folgenden noch unübersetzten Bänden der Trilogie wird geschildert, wie die neuen Bewohner der Insel zueinanderfinden, aber die Natur zerstören und die Insel in einen kahlen Felsen verwandeln. Schließlich werden sie wieder zu Feinden. "So kann man diesen Roman eigentlich in zwei Worten kennzeichnen", schreibt Yasar Kemal, "Ökozid und Genozid". Schreckliche Dinge, gewiß. Doch all dem Unheil, das er sieht und anprangern will, ist er als Schriftsteller nicht mehr gewachsen. Das muß keine Schande sein, denn kaum ein Schriftsteller ist ihm gewachsen. Einem wie Kemal indes, der es gewohnt war, die Dinge, die er beklagte, literarisch fassen zu können, muß dies als Niederlage erscheinen. Es wäre, würde er sie akzeptieren, eine Niederlage in Ehren, und Ehre hat er verdient. Gegen Yasar Kemal läßt sich nichts sagen; gegen seine Romane womöglich mit jedem neuen Band mehr.
STEFAN WEIDNER
Yasar Kemal: "Die Ameiseninsel". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Cornelius Bischoff. Unionsverlag, Zürich 2001. 362 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Bann der Bienen: Yasar Kemal scheitert ehrenvoll
Gegen Yasar Kemal läßt sich nichts sagen. Er ist ein mutiger Mann, engagiert, er hat es verstanden, sich bei nahezu allen Machtcliquen der Türkei unbeliebt zu machen. Der heute Achtundsiebzigjährige setzte sich für die Kurden und andere Minderheiten ein, sprach sich immer für Versöhnung und Verständigung aus; und Pazifist im autoritären türkischen Militärstaat zu sein, bedeutet etwas ganz anderes, als einfach nur Pazifist zu sein. Mehrfach war er dafür im Gefängnis, wurde häufig bedroht und angeklagt.
Gleichwohl versteht sich Kemal in erster Linie als Schriftsteller. Auf deutsch erschien bereits 1960, kaum fünf Jahre nach dem türkischen Original, jener Roman, der ihm weltweiten Ruhm eintrug, "Ince Memed". Als Kind muß man das Buch gelesen haben, denn die Hauptfigur, der verarmte Waisenjunge Ince Memed, der zum Rächer der Armen wird, ist ja nicht nur, wie immer gesagt wird, der türkische Robin Hood, sondern vor allem der türkische Harry Potter (und auch Kemal konnte nicht widerstehen, dem Erfolg etliche Fortsetzungen folgen zu lassen). Freilich, bei Kemal sind die Anliegen etwas ernster, aber die Wirkung auf Jung und Alt ist dieselbe: Spannung, ein sympathischer, kluger und jugendlicher Held in Gefahr, eine Welt, die vor bösen Mächten gerettet werden muß; eigentlich gehört Kemal zwischen Karl May und Harry Potter ins Regal mit den Kinder- und Jugendbüchern.
In welches Regal aber mit der nun erschienenen "Ameiseninsel", dem ersten Teil einer gleichnamigen Trilogie? Dieses Buch taugt nämlich allenfalls für die Bibliothek der bis zur Rücksichtslosigkeit gutgemeinten Werke. Im Hintergrund des Plots steht der Bevölkerungstausch zwischen der Türkei und Griechenland, eine 1923 im Friedensvertrag von Lausanne völkerrechtlich legitimierte ethnische Säuberung, bei der rund anderthalb Millionen Menschen ihrer Heimat beraubt wurden. Ein großartiger und bewegender Stoff, sollte man meinen, für einen realistischen Erzähler wie Kemal; und doch vielleicht zu groß für jemanden, den man mit Tolstoi nicht vergleichen möchte.
Kemal situiert das Geschehen auf einer kleinen türkischen Insel in der Ägäis, wo alles idyllisch anmutet - eine schöne Gelegenheit zu seitenfüllenden Naturschilderungen. Da türmt sich Naturbeschreibung auf Naturbeschreibung, Fischfang- auf Fischbratszene, stilistisch so einfallslos wie die Kopierfunktion im Textverarbeitungsprogramm und kaum mit Einbindung in die Dramaturgie. Es sind Szenen, die man nur mit größter Mühe nicht überliest.
Als der Befehl zur Umsiedlung kommt, verlassen alle Bewohner bis auf den Einzelgänger Vasili die Insel. Vasili lebt vom Fischfang und schwört, den ersten Fremden, der die Insel betritt, zu erschießen. Dieser kommt in Gestalt des Türken Musa, und aus Vasili wird zweihundert Seiten lang eine Hamlet-Karikatur. Vasili bringt es ebenso wenig über sich, den Neuankömmling umzubringen, wie von seinem Entschluß abzulassen. Psychologische Tiefenzeichnung, innerlich zerrissene Helden waren Kemals Stärke nie.
Zwar hadert auch Memed hie und da mit sich, ob es richtig sei, ein ganzes Dorf abzubrennen, um einem Großgrundbesitzer den Garaus zu machen. Aber diese Anflüge von Zweifel halten ihn nie davon ab, weiterhin schießfreudig zur Tat zu schreiten, zumal Gut und Böse in seiner Welt klar getrennt sind. Vasili hingegen wird von Erinnerungen an seine Kriegszeit in den Dardanellen heimgesucht. Die üppig heraufbeschworenen Szenen sind jedoch nur pittoreske Klischees vom Krieg. Sie bewegen den Leser so wenig wie die rührseligen Naturbeschreibungen: "Da hatte bisher ja niemand gewußt, wie viele Bienen, wie viele Arten von Bienen auf dieser Insel lebten!"
Zwischen Musa und Vasili entspinnt sich ein endloses Katz-und-Maus-Spiel, bis sie sich auf Seite 272 endlich begegnen und Musa Gelegenheit bekommt, seinerseits Kriegserlebnisse zu beichten. Wiederum spricht nicht der Schriftsteller, sondern der Mensch und Pazifist Kemal. Soll man jenen vor diesem noch einmal retten, indem man darauf hinweist, daß er sich in der Tradition mündlichen Erzählens bewegt, wo Redundanzen zum System gehören und die Präsenz eines lebhaften Erzählers manche Schwächen ausgleicht? Aber die Kaffeehäuser mit den Wasserpfeifen und Geschichtenerzählern, in die man so schön vor der gleißenden Mittagshitze fliehen kann, sind allzu fern.
In den folgenden noch unübersetzten Bänden der Trilogie wird geschildert, wie die neuen Bewohner der Insel zueinanderfinden, aber die Natur zerstören und die Insel in einen kahlen Felsen verwandeln. Schließlich werden sie wieder zu Feinden. "So kann man diesen Roman eigentlich in zwei Worten kennzeichnen", schreibt Yasar Kemal, "Ökozid und Genozid". Schreckliche Dinge, gewiß. Doch all dem Unheil, das er sieht und anprangern will, ist er als Schriftsteller nicht mehr gewachsen. Das muß keine Schande sein, denn kaum ein Schriftsteller ist ihm gewachsen. Einem wie Kemal indes, der es gewohnt war, die Dinge, die er beklagte, literarisch fassen zu können, muß dies als Niederlage erscheinen. Es wäre, würde er sie akzeptieren, eine Niederlage in Ehren, und Ehre hat er verdient. Gegen Yasar Kemal läßt sich nichts sagen; gegen seine Romane womöglich mit jedem neuen Band mehr.
STEFAN WEIDNER
Yasar Kemal: "Die Ameiseninsel". Roman. Aus dem Türkischen übersetzt von Cornelius Bischoff. Unionsverlag, Zürich 2001. 362 S., geb., 39,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Yasar Kemal schafft einen wunderbaren Kosmos mit Veilchenduft, Bienenschwirren und der Weite des Meeres, mit Märchen und Mythen all jener Kulturen, die hier zusammenprallen. Es ist zugleich ein poetisches, wie auch politisches Werk. Zutiefst moralisch, vor allem aber warmherzig und menschlich.« Kieler Nachrichten