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Wie man einem Extrem mit Hilfe eines anderen Extrems nicht gerecht wird
Wäre die Pandemie zwanzig Jahre früher gekommen, wie hätte eine Welt in Quarantäne wohl ausgesehen? Der Alltag des Einzelnen einsamer, der volkswirtschaftliche Schaden größer. Computer und Internet in jedem Privathaushalt waren schließlich nicht selbstverständlich. Digitale Technik ermöglicht, dass Alltag und Arbeiten für viele weiter funktionieren. In derselben Lage vor zwanzig Jahren wäre das kaum der Fall gewesen.
Der Konsens, wir müssten digitaler werden, war deshalb nie so selbstverständlich wie gegenwärtig. Marie-Luise Wolff sieht das anders: Unser Problem sei nicht zu wenig Digitalisierung, sondern zu viel. "Die Anbetung digitaler ,Wunder' sollten wir schnellstens beenden", schreibt sie zu Beginn ihres Buchs. Ihre Abhandlung camoufliert sich als "Gewinnwarnung" für die Digitalisierung, ist tatsächlich aber eher eine Abrechnung. Wolff knüpft sich die Propheten der Internetgemeinde vor. Sie heißen Steve Jobs oder Elon Musk, die Wallfahrtsorte Palo Alto oder Fremont.
Anbetung und Wirkung sind Wolff zufolge universell - "alles wird irgendwie Amazon". Den Gegenstand ihrer Kritik schränkt das nicht ein. Amazon, Facebook, Google und Apple, von denen Wolff ohne Einschränkung als Monopolisten und Plattformkonzernen spricht, seien, ebenso wie Tesla, deshalb so gefährlich, weil ihre enormen Gewinne von der Realwirtschaft abgekoppelt sind. Ihr Wachstum hänge an einem aggressiven Finanzkapitalismus: Hoffnung verkaufen, aber keine Werte schaffen, keine Unternehmensstrategien entwickeln, sondern PR-Strategien, die an den Aktienmärkten verfangen. Echten Fortschritt, der die Mangelzustände der Welt beseitige, suche man im Silicon Valley vergeblich.
Marie-Luise Wolff ist selbst Praktikerin aus der Wirtschaft. Als Managerin hat sie bei Sony und Bayer gearbeitet. Inzwischen ist sie Vorstandsvorsitzende des Energiekonzerns Entega. Trotzdem findet Wolff ihre zentralen Stichwortgeber nicht in anderen Managern, Ökonomen oder Politikern, sondern in der Psychologie, Philosophie und Literatur, bei Henry David Thoreau, Byung-Chul Han oder Elias Canetti. Zwar ist "Die Anbetung" auch eine Kritik der Ökonomie, viel mehr aber übt sich Wolff in Kulturpessimismus. So fürchtet sie um den Bildungsstand von Smartphone-Nutzern, um die mentale Gesundheit Jugendlicher, um Datenschutz und Umwelt. Sie beschreibt, wie Gespräche erodieren oder an der Oberfläche bleiben, weil das Smartphone als Störfaktor nie weit weg ist.
Die Schärfe ihres Tadels trägt die Argumentation zuweilen aus der Kurve. Wie der Untertitel verrät, betrachtet Wolff Digitalisierung als "Superideologie". Zudem betrachtet sie das Smartphone als "Arbeitslager". Plattformen zeigten ein "brutales Zerstörungsmodell", sie zögen eine "blutige Spur" und hinterließen nichts als urban wastelands, während uns Algorithmen "durchseuchen". Wegen schlechter Arbeitsbedingungen werde "das Prime-Konto von Amazon zu einem Angriff auf die Menschenwürde".
Vehement stellt die Autorin der Digitalwirtschaft die Realwirtschaft als positives Beispiel gegenüber: echte Läden, echte Arbeit, echte Produkte. Ob nicht inzwischen die meisten Unternehmen längst beides sind, ob diese Unterscheidung mithin überhaupt noch funktioniert, wäre eine wichtige Frage gewesen. Beantwortet wird sie nicht.
Lieber geht Wolff hart mit der ökologischen Verantwortung der Silicon-Valley-Welt ins Gericht. Wenn sie sich auf konkrete Beispiele bezieht, ergibt das Sinn: Sie kritisiert zu Recht, dass ein vermeintlich grünes Unternehmen wie Tesla in seiner Unternehmensgeschichte erst 2019 einen Nachhaltigkeitsbericht angefertigt hat und sich darüber hinaus weigert, Recyclingquoten für seine Autos festzusetzen.
Problematisch wird die Kritik, sobald sie sich ins Allgemeine verläuft. Wolff schreibt, zehn Prozent des weltweit verbrauchten Stroms gingen auf das Konto internetfähiger Geräte. Gleichwohl verliert die Autorin kein Wort darüber, dass die Klimakrise vor allem Ergebnis unserer industrialisierten Wirtschaft ist. Auch sind die amerikanischen Technologieunternehmen keineswegs die einzigen, denen es in der Belegschaft an Diversität mangelt und deren Manager sich als Genies feiern lassen, wie die Lektüre nahelegt.
Die Defizite großer Plattformkonzerne, die ihr Tun gerne als selbstlosen Dienst an der Menschheit inszenieren, könnte man am besten mit kühler Analyse entzaubern. Wolff versucht es mit Empörung. Für ihre Verbesserungsvorschläge, von einer CO2-Einpreisung für digitale Produkte bis zu einer Grundrechtecharta für Künstliche Intelligenz, bleibt so am Ende des Buchs kaum Raum übrig. Verteufelung war noch nie ein gutes Mittel, um blinde Anbetung zu stoppen.
ANNA-LENA NIEMANN
Marie-Luise Wolff: Die Anbetung. Über eine Superideologie namens Digitalisierung. Westend Verlag, Frankfurt 2020. 271 S., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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