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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Band über die Mitglieder der Familie Gurlitt
Diese Frau, deren "Namen und Leistung nur dem kleinen Kreis der Menschen bekannt wurden, die ihr im Leben begegneten, war vielleicht die genialste Begabung der jüngeren expressionistischen Generation". Das schrieb 1949 der Journalist und Kunstkritiker Paul Fechter. Über dreißig Jahre zuvor, während des Ersten Weltkriegs, war er wohl kurzzeitig liiert gewesen mit jener Künstlerin, von der er so rühmend sprach: Cornelia Gurlitt, geboren 1890 in Dresden.
Ihr und zehn weiteren Vertretern des Gurlitt-Clans, der "aus dem Halbdunkel der unsicheren Nachrichten erst im 18. Jahrhundert nachweislich" auftaucht, widmet sich ein Sammelband mit dem bezeichnenden Titel "Die anderen Gurlitts". Er basiert auf einer Tagung am Deutschen Literaturarchiv Marbach und erzählt bewusst nicht abermals von den zwei allseits bekannten Sprösslingen der Familie: nicht von Cornelias Bruder, dem janusköpfigen Kunsthändler Hildebrand (1895-1956), der, nachdem er sich durch seinen Einsatz für die Moderne in rechtskonservativen Kreisen reichlich unbeliebt gemacht hatte, zu einem führenden Kunsthändler der Nazis aufstieg.
Und auch nicht von dessen Sohn Cornelius (1932-2014), der die Sammlung des Vaters erbte, hütete und 2013 durch das Bekanntwerden des "Schwabinger Kunstfunds" in seiner Wohnung tragische Berühmtheit erlangte. Thema seien nicht "die grell-beleuchteten" Familienmitglieder, sondern diejenigen, die "im Schatten stehen", heißt es in der Einleitung der Herausgeberin. Viele von ihnen - sie bilden ein verwickeltes Netz aus Geschwistern, Eltern, Großeltern, Cousins und Cousinen - hatten sich in Pädagogik, Archäologie, Musik, Kunst oder Kunsthandel einen Namen gemacht.
Cornelia Gurlitt allerdings blieb der Ruhm verwehrt. Mit 29 Jahren starb sie im August 1919 in Berlin durch Suizid. Die Motive sind unklar, eine Rolle spielte womöglich die - gescheiterte - Beziehung zu Fechter. Prophetisch hatte Cornelias geliebter Bruder Hildebrand im Mai 1919 an den älteren Bruder Wilibald (1889-1963) geschrieben, die Schwester weine "einer glücklichen Zeit in Wilna" nach. Von 1915 bis 1918 hatte sie dort in einem Lazarett gearbeitet, Fechter kennengelernt und war künstlerisch höchst produktiv gewesen. In Berlin, wo sie 1919 ein Atelier bezog, könne ihr nun aber niemand helfen, schrieb Hildebrand, sie sei "- tot", so das "vielleicht . . . treffendste Wort".
Unter den rund 1500 Werken, die der "Schwabinger Kunstfund" zutage gefördert hat, sind auch 140 Arbeiten von Cornelia. Sie zeigen Szenen aus dem Lazarett, das jüdische Leben in Vilnius, bittere Armut. Cornelia erscheint als eine begabte, noch tastende Künstlerin. Dass mit ihr in der Sammlung des für die Nazis arbeitenden Bruders auch eine talentierte Expressionistin unter den Gurlitts wiederentdeckt wurde, deren Bilder wohl der entarteten Kunst zugerechnet worden wären, ist eine "besondere Pointe dieser Skandalgeschichte", wie die Herausgeberin schreibt.
Dreh- und Angelpunkt der Familie ist der Landschaftsmaler Louis Gurlitt (1812-1897), Cornelias Großvater. Seine Werke hingen in wichtigen Sammlungen, er wurde zeitweise gefördert vom dänischen König Christian VIII. und dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. 1847 heiratete er in dritter Ehe Elisabeth Lewald, Schwester der Schriftstellerin und Berliner Salonière Fanny Lewald. Sechs gemeinsame Kinder hatten Louis und Elisabeth. Darunter der Bildungsreformer und Lehrer Ludwig (1855-1931), aus dessen Klassen die Wandervogelbewegung hervorging; der Kunsthistoriker Cornelius (1850-1938), Vater von Cornelia, Hildebrand und Wilibald, der ein Standardwerk zur Geschichte des Barock vorlegte und als Begründer der sächsischen Denkmalpflege gilt, sowie der früh gestorbene Fritz (1853-1893), der in seiner Berliner Galerie erstmals in Deutschland den französischen Impressionismus zeigte. Und, als einzige Tochter, die wissenshungrige Else (1855-1936). Sie absolvierte ein Lehrerinnenexamen, unterrichtete in Privathaushalten, blieb ledig und wurde zur guten Seele der Familie. Else pflegte Kontakte, kümmerte sich, wie Elizabeth Baars, eine Urenkelin von Louis Gurlitt, in ihrem Beitrag schildert, um die Eltern und unterstützte ihre Brüder, etwa indem sie ihnen als Übersetzerin diente.
In der nächsten Generation, in der von Cornelia, bekamen die Gurlitt-Sprösslinge seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunehmend Probleme, weil sie nach der NS-Rassenideologie als Vierteljuden galten. Großmutter Elisabeth Lewald stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie. Wilibald, deutschtümelnder Professor für Musikwissenschaft in Freiburg und zeitweiser Sympathisant der völkischen Bewegung, der mit einer getauften Jüdin verheiratet war, verlor 1937 seinen Posten. "Einschränkungen beim Publizieren" hätten, so Musikwissenschaftler Rainer Bayreuther, bisher aber nicht nachgewiesen werden können.
Wilibalds Cousin Manfred (1890-1972), Dirigent und Komponist, emigrierte nach gescheiterten Versuchen, sich mit dem Regime zu arrangieren, 1939 nach Japan. Hildebrand lavierte sich bekanntlich durch, indem er sich den Nazis erfolgreich als Abwickler für den Verkauf der beschlagnahmten entarteten Kunst ins Ausland anbot und später prominenter Einkäufer für Hitlers "Führermuseum" wurde. Wolfgang (1888 bis 1965), ein Sohn von Galerist Fritz, stand unter Gestapo-Beobachtung, stieg aber ebenfalls in den NS-Kunsthandel ein. Davon allerdings erzählt der Band nicht, Kunsthistorikerin Sonja Feßel widmet sich Wolfgangs früher Zeit und zeichnet in ihrem reich bebilderten Beitrag die exzentrisch-überbordende Umgestaltung seiner Wohn- und Galerieräume zwischen 1917 und 1919 durch Max Pechstein, Rudolf Belling, César Klein und den Architekten Walter Würzbach nach. Die Presse schrieb entzückt von einem "Tempel der Kunst" und, nicht ohne Ironie, von einem "Neuschwanstein des Expressionismus".
Wer sich eine luzide Gurlitt'sche Familienbiographie erhofft, den wird dieses Buch nicht froh machen. Es bietet vielmehr Grundlagenforschung, erzählt eingehend, wer wann warum was tat und mit wem im Austausch war, aber zieht nur ab und an rote Fäden über die Generationen hinweg. So trifft der Untertitel "Unterwegs zu einer Familiengeschichte" den Inhalt des Buches denn auch gut. Indem man, so die Einleitung, an die "anderen" Gurlitts erinnere, wolle man einer "noch zu schreibenden Familienbiographie zuarbeiten". Dieses Vorhaben ist bestens geglückt. KATHARINA RUDOLPH
Ursula Renner (Hrsg.): "Die anderen Gurlitts". Unterwegs zu einer Familiengeschichte.
wbg Academic, Darmstadt 2021. 428 S., Abb., geb., 60,- Euro.
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