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Der Pfad führt sie zu sich selbst: Marica Bodrozic geht den letzten Weg von Walter Benjamin nach
Ein "Denk-, Essay- und Erzählprojekt" nennt die aus Dalmatien stammende Schriftstellerin Marica Bodrozic ihren neuesten Roman; es mögen auch "Seelenstenogramme" (so der Untertitel) sein; sicher ist, dass die Autorin ihre Leserschaft auf einen langen Weg durch die Abgründe und Höhen des zwanzigsten Jahrhunderts führt. Sie hat viele Weggefährten, die sie aufruft, an die sie erinnert und die ihr den eigenen Weg weisen.
Bodrozic, die gern mit den Vögeln in den Wolken schwebt, hat einen ganz konkreten Plan: Zusammen mit ihrem Mann und im vierten Monat schwanger, verfolgt sie den Pfad von Frankreich aus über die Pyrenäen, den Walter Benjamin im September 1940 wählte, um nach sieben Jahren Exil den Fängen der Nationalsozialisten zu entkommen. Achtzehn Kilometer lang ist dieser Maultierpfad, an dessen Ende, im katalanischen Port-Bou, Benjamin den Freitod suchte. Seine Reise war zu Ende. Für die nachgeborene Schriftstellerin ist dieser letzte Gang des verehrten Philosophen keine biographische Wanderung, keine mögliche Rekonstruktion von Benjamins Gefühlen und Gedanken; sie bleibt, was das Persönliche betrifft, empfindsam zurückhaltend, ja fast nüchtern. Ihren Unwillen erregt, dass heute touristische Schilder den "Walter-Benjamin-Wanderweg" ausweisen.
Ihr Zugang ist ein anderer. Ihr Respekt vor dem bewunderten Philosophen, dem sie emotional nicht zu nahe treten will, schimmert überall durch und leuchtet bis in ihre eigene Kindheit: "Das Sehen sieht in mir zurück und führt mich zu jenem Rest Vergangenheit, der sich als Essenz im Jetzt gerettet hat, der von der grünen Natur meines dalmatinisch-mediterranen Hinterlandes rührt. Die sozialistischen Pioniere meiner Kindheit sind eine lächelnde Bild-Einheit darin. Wie musikalische Ähren wogen sie in mir hin und her, heller Weizen im Wind, frei noch von den späteren Beschriftungen der politischen Zeit sind sie mit einem Mal hier und machen, ätherisch kundig, jene Pyrenäen-Reise mit. Dieses Wogen ist es, das sich mit der Bergluft und mit meinen Lungen verbündet und mich Schritt für Schritt herausfordert."
Ein Jahrhundert der Flucht, des Exils, der Verfolgung und der Menschenrechtsverletzungen wird durchschritten. Berühmte und unbekannte Personen stehen neben ihr und wandern mit. Gulag und Konzentrationslager liegen dicht nebeneinander. Wie Wegmarken tauchen Nadeshda und Ossip Mandelstam, Warlam Schalamow, Karlo Stajner, Ruth Klüger, Gershom Scholem, Paolo Pasolini, Danilo Kis auf, und sie alle vertragen sich gut mit dem Vater der Autorin, einer hundertjährigen alten Frau aus Berlin, die sie über die Pyrenäen begleitet, oder einem Bäcker, der in Berlin den besten Orangenkuchen backt. Bodrozic umreißt einen beklemmenden, aber auch strahlenden Horizont von Fixsternen in ihrem Leben. Dazu gehört auch der Philosoph Franz Rosenzweig und sein Hauptwerk "Der Stern der Erlösung", das die Schriftstellerin seit ihrer Jugend begleitet. Bücher sind der Resonanzboden für das Denken dieser Autorin, denn das Wort und die Sprache kristallisieren die Existenz der Menschen.
Walter Benjamin wird in eine große Republik des Geistes eingemeindet, die generationenübergreifend den kulturellen Humus der Aufklärung bildet. Manchmal klingen die Worte sehr erhaben, ein wenig zu hoch gestimmt, dann wiederum findet die Schriftstellerin ganz einfache Bilder der Erinnerung, die sich wie ein Schlaglicht auf das Leben richten. Eines dieser Beispiele ist der Bericht über ihre erste Lüge als Kind. Bodrozic war 1983 zehn Jahre alt, als die Familie beschloss, als ganze nach Hessen zu ziehen, wo die Eltern bereits arbeiteten. Marica hatte bis dahin glücklich beim Großvater gelebt, der nichts von der bevorstehenden Ausreise wissen sollte. Also musste das Mädchen ihm vorlügen, wenn sie nicht zu Hause sei, dann sei sie beim Zahnarzt, nicht aber bei den Behörden, um ihre Ausreise vorzubereiten. Diese Unaufrichtigkeit dem geliebten Großvater gegenüber hat sich tief in das Bewusstsein des Kindes und bis heute in die Erinnerung der erwachsenen Frau eingefressen - eine Scham, die sie ihr Lebtag nicht verlieren wird.
Auf den Spuren Benjamins durchschreitet die Autorin Welten des Schmerzes und der Erkenntnis, "Seelenstenogramme" einer Kultur des Erinnerns. Walter Benjamin wurde in Port-Bou erst im Jahre 1979, fast vierzig Jahre nach seinem Tod, eine Gedenktafel gewidmet. LERKE VON SAALFELD
Marica Bodrozic: "Die Arbeit der Vögel". Seelenstenogramme.
Luchterhand Literaturverlag, München 2022. 348 S.,geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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