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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Europas Asylproblem lässt sich aus sehr verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Das zeigt sich exemplarisch an zwei neuen Büchern:
Franziska Grillmeier lässt Geflüchtete auf der Insel Lesbos sprechen, Ruud Koopmans plädiert für eine restriktive Flüchtlingspolitik
VON RENÉ WILDANGEL
Unterschiedlicher können zwei Bücher über ein Thema nicht sein. Franziska Grillmeier beschreibt atmosphärisch die dramatischen Zustände auf der Insel Lesbos seit 2018. In „Die Insel“ sprechen die Geflüchteten selbst, über ihre Traumata, es geht um ihre individuellen Schicksale. In der „Asyl-Lotterie“ sind die Flüchtlinge Teil der Mengenlehre jener Statistiken, die Ruud Koopmans unablässig zitiert, um das große Ganze zu erklären, und sie sind auch eigentlich immer Teil der sogenannten „Flüchtlingskrise“.
Diese zu analysieren, inklusive ihrer wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Risiken, wie es Koopmans ausführlich tut, ist sicher von Bedeutung. Allerdings will das Buch des Leiters der Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung am Berliner Wissenschaftszentrum mit dem ziemlich polemischen Titel „Die Asyl-Lotterie“ erklärtermaßen etwas anderes, nämlich nicht die „Flüchtlingskrise“, sondern die Krise des europäischen Asylsystems beleuchten, das – so stellt Koopmans zutreffend fest – den moralischen Anspruch, politisch Verfolgte zu schützen, längst nicht mehr leisten kann.
Er macht gleich zu Beginn deutlich, woran seiner Meinung nach dieses System krankt: Es lasse Schutzbedürftige im Stich und „zwinge sie, einen lebensgefährlichen Weg auf sich zu nehmen, um Europa zu erreichen“. Es seien nur wenige dieser Ankommenden „politisch Verfolgte im klassischen Sinne“, vielmehr seien sie geflohen vor Bürgerkriegen oder drohendem Kriegsdienst, oder sie seien Wirtschaftsmigranten. Zudem handele es sich überdurchschnittlich oft um junge Männer, die die beschwerliche Reise auf sich nehmen könnten. Diese würden zu „großzügig“ (das in diesem Zusammenhang ziemlich zynisch wirkende Wort benutzt Koopmans mehrfach) geduldet, stattdessen sollte Europa Schutzbedürftige aufnehmen, die derzeit gar keine Möglichkeit hätten, nach Europa zu kommen.
Die freie Journalistin Franziska Grillmeier setzt aus eigener Anschauung andere Schwerpunkte: Sie dokumentiert, wie Europa selbst die Lebensgefahren einer Flucht auf dem Wasser und an den Landgrenzen organisiert und inszeniert, um Geflüchtete gezielt abzuschrecken – mit oft grausamen und traumatisierenden Folgen. In verschiedenen Reportagen, die sie für das Buch stimmig zusammengeführt hat, wird das auf äußerst deprimierende Weise lebendig: Ob an der kroatisch-bosnischen, an der türkisch-griechischen oder der belarussisch-polnischen Grenze, die Mechanismen der Abschottung, die Grenzanlagen, die Polizeigewalt, die völkerrechtswidrigen Pushbacks, die Kriminalisierung von Helfern ähneln sich.
Ebenso die Tendenz, Menschen in abgeschlossene Lager wegzusperren. Eindringlich dokumentiert Grillmeier diesen Prozess auf den griechischen Inseln und am berüchtigten Lager Moria auf Lesbos. Dort herrschen unmenschliche Bedingungen, ohne Mindeststandards der Hygiene und Gesundheitsversorgung, ohne Privatsphäre, ohne Perspektive für die Weiterreise, ohne Würde. Die Zustände ermüden auch die lokale Bevölkerung, deren ursprüngliche Hilfsbereitschaft aufgrund des politischen Versagens oftmals in Feindseligkeit umschlägt – bis schließlich rechtsradikale Mobs anreisen und Moria brennt, wahrscheinlich angezündet von verzweifelten Bewohnern. Neue, von der Bevölkerung abgeschottete Lager sollten das Problem lösen, in denen die Geflüchteten wie in Gefängnissen weggesperrt werden.
Außer den so wichtigen investigativen Recherchen ist das größte Verdienst der Autorin, dass sie die Geflüchteten selbst sprechen lässt. Viele entscheiden sich, aufgrund der eigenen traumatischen Fluchterfahrungen anderen zu helfen oder das Geschehene zu dokumentieren: als Ärztinnen und Pfleger, als Erzieher, als Journalistinnen, als Filmemacher. Diesen Persönlichkeiten, die selten im Mittelpunkt stehen, setzt Grillmeier ein Denkmal. Es ist ein persönliches, poetisches Buch, das das moralische Versagen Europas eindrucksvoll dokumentiert.
Von all dem erfährt man bei Koopmans erstaunlicherweise recht wenig. Die Kriminalisierung der Helfer, die Verhinderung von Seenotrettung, die Zustände in den Lagern werden nicht oder nur am Rande erwähnt. Erstaunlich sind auch die Vorbilder, die der Autor heranzieht: die „proaktive, planmäßige Flüchtlingspolitik von Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien und zum Teil auch Großbritannien“. Koopmans hält die harte Kritik an Ländern wie Großbritannien, deren aktuelle Asylpläne gerade von den Vereinten Nationen als schwerwiegende Verletzung internationalen Rechts kritisiert wurden, für überzogen. Denn deren brachiale Abschreckung verhindere, dass noch mehr Menschen auf gefährlichen Fluchtrouten sterben würden. Koopmans hat natürlich recht, wenn er die hohen Todesraten auf dem Mittelmeer beklagt. Allerdings sind nicht nur die mafiösen Schlepper-Netzwerke, die Koopmans als Kern des Problems ausmacht, dafür verantwortlich, sondern auch eben jene Politik der „Abschreckung“.
Im letzten Kapitel seines Buches entwirft Ruud Koopmans eine „realistische Utopie“ und legt Lösungsansätze vor. Seine realistische Utopie bietet allerdings wenig Ideen, die nicht längst auf der Agenda der EU-Ratstreffen „Justiz und Inneres“ oder auch im jüngsten Koalitionsvertrag gestanden hätten: Größere Resettlement-Kontingente, Bekämpfung von Fluchtursachen, Unterstützung von regionalen Erstaufnahmeländern, Bekämpfung von Schleuserkriminalität, Umsetzen von Rücknahmeabkommen. Zwar ist dabei das Ansinnen, größere Resettlement-Kontingente für bedrohte Menschen zu schaffen sehr löblich – nur fehlt hier bekanntlich in der EU der politische Wille. Koopmans Realismus ist deutlich ausgeprägter als sein Hang zur Utopie: Er fordert mehr Abschiebungen in Länder Westafrikas und als „Anreiz“ im Gegenzug mehr legale Arbeitsvisa für dieselben Länder, um dann aber zugleich zu warnen, dass so neue „Brückenköpfe“ für weitere Einwanderung geschaffen würden. Das Buch bietet einen guten Überblick über die aktuelle Debatte – inklusive seiner blinden Flecke.
Franziska Grillmeier versucht dagegen erst gar nicht, politische Vorschläge zur Lösung zu machen. Vielleicht, weil sie angesichts ihrer eigenen Erfahrung vor Ort zu desillusioniert ist. Oder weil sie einer anderen, sehr grundlegenden Form von Utopie anhängt: Dass Europa jene Werte, die es gern für sich reklamiert, auch im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten achtet.
René Wildangel ist Historiker und schreibt unter anderem zum Schwerpunkt Naher/Mittlerer Osten.
Ruud Koopmans:
Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukrainekrieg. Verlag C.H. Beck, München 2023. 269 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
Franziska Grillmeier:
Die Insel. Ein Bericht vom Ausnahmezustand an den Rändern Europas. Verlag C.H. Beck, München 2023. 220 Seiten, 24 Euro.
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Zurzeit besteht ein fataler Anreiz, den Tod in Kauf zu nehmen, um nach Europa zu kommen. Ein Migrationsforscher setzt seine "Utopie" dagegen.
Von Jasper von Altenbockum
Manchmal lohnt es sich, ein Buch von hinten zu lesen. Das letzte Kapitel von Ruud Koopmans' Kritik der Asylpolitik, das Kapitel über eine "realistische Utopie", ist das spannendste. Denn er hat ja recht: Die derzeitige Praxis des Asylrechts in der Europäischen Union strotzt nur so vor Widersprüchen, Ungerechtigkeiten, Inkonsequenzen, Überforderungen. Das fatale Ergebnis ist der massenhafte Tod im Mittelmeer. Die Ursachen dafür breitet Koopmans in den sechs Kapiteln davor sehr griffig und anschaulich aus. Aber was folgt daraus? Gibt es einen besseren, einen ganz anderen Weg jenseits dieser inakzeptablen Schwächen, jenseits auch von links- und rechtspopulistischen Träumereien? Die "Utopie" des Migrationsforschers an der Humboldt-Universität besteht aus festen nationalen Kontinenten für Flüchtlinge und aus Asylverfahren, die nicht im Wunschland der Bewerber stattfinden, sondern exterritorial, in Drittstaaten. Koopmans tritt also für die "australische Lösung" ein. In Europa wird sie derzeit von Dänemark und Großbritannien nachgeahmt, wenn auch nicht im Sinne Koopmans. Denn er plädiert dafür, dass die Härten ausgelagerter Asylverfahren durch großzügig bemessene Kontingente kompensiert werden. Für Deutschland hieße das, dass jährlich weit mehr als hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen würden - weit weniger als jetzt, aber weit mehr als in "normalen" Jahren, vor allem aber: vorhersehbarer, integrationsfähiger, konfliktfreier. Nur so und durch Ausnahmen (etwa humanitäre Visa oder für Asylbewerber aus EU-Anrainerstaaten) sei die für "rechte" Politiker attraktive Vorstellung, man könne Asylverfahren etwa nach Ruanda auslagern, auch für das "linke" Lager konsensfähig, glaubt Koopmans. Das zweite Rezept Koopmans ist ein Tauschgeschäft für Wirtschaftsflüchtlinge. Rücknahmeabkommen mit Herkunftsländern gegen großzügige Angebote zur Einwanderung von Fachkräften. Es müssten legale Migrationswege geschaffen werden, allerdings an klare Bedingungen geknüpft: weniger legale Möglichkeiten, wenn die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber stockt. Wie für die "australische Lösung" gilt auch hier, dass illegale Wanderung zwar reduziert, aber nicht ausgeschlossen werden kann. Australien hat es nach Darstellung Koopmans allerdings geschafft, die Zahl der Toten auf hoher See drastisch zu reduzieren. Grund dafür ist vor allem, dass der Anreiz, Schlepper zu bezahlen, gesunken ist. Koopmans geht ausführlich auf das Für und Wider solcher Ansätze ein. Er orientiert sich dabei an Wissenschaftlern wie Gerald Knaus, Daniel Thym oder Kay Hailbronner, die man als realistische Schule der deutschen Asylrechts- und Migrationsforschung bezeichnen könnte. Auf deren Wirken geht unter anderem das Türkei-EU-Abkommen zurück, das parallel zu den Grenzschließungen auf der Balkanroute zum Ende der unkontrollierten Wanderungsbewegung vor knapp zehn Jahren geführt hat. Eine wichtige Rolle in Koopmans Buch spielen die Erpressungsversuche des belarussischen Diktators Lukaschenko gegenüber der EU und der Flüchtlingsstrom aus der Ukraine. In beiden Fällen wurden Glaubenssätze relativiert. Die EU konnte sehr wohl Grenzen schließen (im Falle von Belarus), und die osteuropäischen Staaten konnten sehr wohl Masseneinwanderung zulassen (nicht weil sie Rassisten sind, wie linke Migrationspolemik will, sondern weil die Ukraine für sie das ist, was die Türkei für Syrien: ein Erstaufnahmestaat). Dem Buch schadet es nicht, dass es auf die aktuelle deutsche Gesetzgebung, etwa das Einwanderungsgesetz für Fachkräfte, nicht mehr eingehen konnte. Man kann sich denken, was Koopmans dazu meint. Alles gut und schön, aber solange irreguläre Migration in einem Asylverfahren endet, dessen Ausgang eigentlich egal ist (weil Rückführungen die Ausnahme sind), ändert sich nichts am Grundübel. Das besteht im Anreiz, den Tod in Kauf zu nehmen, um nach Europa zu kommen. Deutschland nimmt dadurch eine überproportionale Einwanderung in die Sozialsysteme in Kauf, ohne den Bedarf an Fachkräften decken zu können. Einwanderungsländer machen das besser. Politiker, die daraus lernen wollen, sollten dieses Buch auf dem Nachttisch haben. Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg. C.H.Beck Verlag, München 2023. 269 S., 26,- Euro
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Die Presse, Anne-Catherine Simon
"Wer in Europa Schutz bekommt, das ist laut dem Migrationsforscher Ruud Koopmans 'ziemlich willkürlich'. Es seien die, die sich den Weg leisten können. Ähnlich wie bei den Ukrainern sollte Deutschland Flüchtlinge direkt aus Kriegsregionen aufnehmen."
Deutschlandfunk Kultur, Kirsten Klümper
"Das europäische Asylsystem muss dringend reformiert werden, fordert der Soziologe Ruud Koopmans. Nur so verhindere man, dass Menschen ertrinken und Integration scheitere."
Tagesspiegel, Hans Monath
"Wie eine Neuregelung der Zuwanderung in die EU aussehen kann, das zeigt Koopmans in seinem neuen Buch in wiederum idealer Balance von ideologiefreier Datensichtung, Philanthropie und Sinn für das politisch Notwendige und Machbare."
Falter, Sebastian Kiefer
"Mit großem Differenzierungsvermögen und hoher Sachkenntnis ... Kurzum: das Buch lohnt die Lektüre."
hpd.de, Armin Pfahl-Traughber
"Das Buch kommt zur richtigen Zeit, und es liest sich mit großem Gewinn."
NZZ am Sonntag, Beat Stauffer
"Der Autor fasst das Problem und die Lösungen freilich kompakt, faktenbasiert und ohne jede Polemik so zusammen, dass hier ein Referenzwerk zum unerquicklichen Thema entstanden ist. Jetzt muss die Politik nur noch handeln."
Wiener Zeitung, Christian Ortner
"Politiker, die daraus lernen wollen, sollten dieses Buch auf dem Nachttisch haben."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Jasper von Altenbockum