Eine Dame mit leichtem deutschen Akzent unterrichtet Achtsamkeit in New York City: wie man bewusst atmet, den Körper erspürt und den Stress der Großstadt überlebt. Ihr Studio ist ein Geheimtipp für Sängerinnen, Tänzerinnen und verkrampfte Büromenschen. Ihre Schülerinnen meinen, sie sei ganz und gar entspannt. Aber ihre eigene, schmerzhafte Vergangenheit hält sie vor ihnen geheim.
Die Atemlehrerin erzählt die berührende Geschichte der Carola Joseph. Die Gymnastiklehrerin, 1901 geboren, lebt, arbeitet, forscht in Berlin, heiratet, heißt nun Carola Spitz, und verlässt die Stadt erst, als es fast schon zu spät ist. Sie wird zu einem jüdischen Flüchtling unter Zehntausenden, etabliert sich als »Carola Speads« in Manhattan und lehrt, als sie 98 Jahre alt ist, noch immer in ihrem Studio am Central Park.
Christoph Ribbat verknüpft eine Biografie aus nächster Nähe mit der Geschichte von Atemübungen und Gymnastikexperimenten im 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass einer nahezu unbekannten Emigrantin entsteht eine fesselnde Familien- und Kulturgeschichte. Wer sie liest, wird selbst beginnen, ganz bewusst Luft zu holen. Das - sagt Carola Spitz/Speads - macht glücklich.
Die Atemlehrerin erzählt die berührende Geschichte der Carola Joseph. Die Gymnastiklehrerin, 1901 geboren, lebt, arbeitet, forscht in Berlin, heiratet, heißt nun Carola Spitz, und verlässt die Stadt erst, als es fast schon zu spät ist. Sie wird zu einem jüdischen Flüchtling unter Zehntausenden, etabliert sich als »Carola Speads« in Manhattan und lehrt, als sie 98 Jahre alt ist, noch immer in ihrem Studio am Central Park.
Christoph Ribbat verknüpft eine Biografie aus nächster Nähe mit der Geschichte von Atemübungen und Gymnastikexperimenten im 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass einer nahezu unbekannten Emigrantin entsteht eine fesselnde Familien- und Kulturgeschichte. Wer sie liest, wird selbst beginnen, ganz bewusst Luft zu holen. Das - sagt Carola Spitz/Speads - macht glücklich.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.02.2020Gymnastik für die verspannte Seele
Beim Körper muss man die Psyche zu nehmen wissen: Christoph Ribbat folgt dem Leben der Atemlehrerin Carola Spitz
Die Vereinigten Staaten erfinden sich durch die Einwanderung von Menschen und Ideen. Vitalität und Ausstrahlungskraft der amerikanischen Kultur verdanken sich einer Bumerang-Bewegung, die der Kunsthistoriker und ehemalige Chefkurator des MoMA Kirk Varnedoe anhand der popmusikalischen Entlehnungsdialektik erläutert hat: "Man sende ein paar Rhythm-and-Blues-Singles von Muddy Waters, John Lee Hooker und Bo Didley in die Welt, und ein paar Jahre später bekommt man Mick Jagger und John Lennon zurück." Das gilt für Musik und Kunst, aber auch für entlegenere Kulturgebiete. So ist zum Beispiel die Kultur leiblich orientierter Psychotherapien, die, von Amerika ausgehend, in den achtziger Jahren in Europa und besonders in Deutschland bis weit in das Alltagsleben und das Selbstbild breiter Bevölkerungsschichten Einfluss gewannen, in Wahrheit ein transatlantisches Rückspiel gewesen. Gestalttherapie, Rolfing, Bioenergetik, Urschreitherapie, Transaktionsanalyse: All das kam zwar aus Amerika, aber nur deshalb, weil es zuvor verkannt und dorthin ausgewandert war.
Schon in der ersten Generation der Schüler Sigmund Freuds sind - bei Otto Rank zum Beispiel, bei Sándor Ferenczi und vor allem bei Wilhelm Reich - körperpsychoanalytische Motive aufgetaucht, die den langwierigen, intellektuell anspruchsvollen und teuren Heilungsprozess der klassischen Psychoanalyse - freies Assoziieren, Erinnern und Durcharbeiten auf der Couch - durch eine Wendung zum psychischen Ausdruckswert körperlicher Symptome abzukürzen versuchten. Die seelische Störung wurde in bestimmten Körperhaltungen oder -spannungen aufgespürt und durch Übungen therapiert, die aus der im Umfeld der Lebensreformbewegung entstandenen Gymnastik- und Leibesertüchtigungskultur entlehnt und weiterentwickelt wurden.
Das Berlin der zwanziger Jahre war ein Zentrum dieses auch modisch und kosmetisch relevanten Spin-offs der Psychoanalyse. Anna Müller-Herrmann und Elsa Gindler leiteten bekannte und florierende Gymnastikschulen, wo mit Hilfe von "Körperarbeit", Atemübungen und durch Vorformen dessen, was auf Amerikanisch später "awareness training" heißen sollte, auf psychische Verspannungen eingewirkt wurde. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurden diese Bestrebungen von der faschistischen "Kraft-durch-Freude"-Industrie aufgesogen. Waren die Anhänger der neuen Bewegung politisch links eingestellt oder jüdisch, wurden sie ins Ausland, vor allem in die Vereinigten Staaten vertrieben. Dort lieferten sie zentrale Beiträge zum Entstehen jener humanistischen und körperzentrierten Psychotherapie, die in den achtziger Jahren als kulturhistorischer Bumerang wieder nach Deutschland zurückkehrte.
Das Buch "Die Atemlehrerin" des in Paderborn lehrenden Amerikanisten Christoph Ribbat verfolgt diese transatlantische Ping-Pong-Partie am Schicksal einer in Deutschland vergessenen Protagonistin der körperzentrierten Arbeit, der jüdischen Tänzerin und Gymnastiklehrerin Carola Joseph, die nach ihrer Heirat Carola Spitz hieß. Im Berlin der zwanziger Jahre war sie eine der vielzitierten "neuen jungen Frauen" der Zeit. Sie ist in dem Film "Wege zu Kraft und Schönheit" heute noch auf Youtube zu bestaunen. Nach ihrer Emigration betrieb sie am New Yorker Central Park West unter dem Namen Carol Speads jahrzehntelang eine Schule für Atemtechnik und "bodily awareness". Schließlich veröffentlichte sie 1978 den einflussreichen Longseller "Ways to Better Breathing".
Zentrum ihres späteren Lebenslaufs war ein traumatischer Konflikt. Ihre Jugendfreundin Charlotte Selver, mit der sie ihr "Studio of Physical Re-Education" in den vierziger Jahren begründet und betrieben hatte, wandte sich zu Beginn der fünfziger Jahre von der Tradition der körperlichen "Arbeit" ab und schloss sich dem berühmten Esalen-Institut im kalifornischen Big Sur an. Selver wurde damit ein Teil der amerikanischen Kulturgeschichte, Carol Speads blieb eine relativ unbekannte Gymnastik-, Achtsamkeits- und Atemlehrerin in Manhattan. Sie starb 1999, ihre Rivalin (mit 102 Jahren) 2003.
Es gelingt Christoph Ribbat in seinem erzählerisch mitunter fahrigen Buch nicht recht, die Leistung Carol Speads' für die sich nun ausdifferenzierende Bewegung der körperzentrierten Psychotherapie und des allseitigen transatlantischen Seelentrainings herauszuarbeiten. Ihr Beitrag scheint in einer eher nüchternen und medizinisch orientierten Fortführung der ursprünglichen Berliner Intentionen gelegen zu haben, die sich fernhielt von den esoterischen Ambitionen und ganzheitlichen Weltveränderungsideen von Big Sur.
Einen plausiblen Gedanken, von dem aus dieses Leben für ein zeitgenössisches Publikum faszinierend zu machen wäre, bekommt Ribbat nicht zu fassen. Abgesehen davon, dass er auf eine vergessene Nebenfigur körperzentrierter Psychotherapie aufmerksam macht, liegt eine Stärke seines Buchs in der atmosphärisch dichten Beschreibung der Lebenswelt deutscher Emigranten im New York der fünfziger Jahre: der Härten ihrer Ankunft, ihrer Kulturschocks, ihres Familienlebens, ihres Heimwehs, ihrer Trauer über die in Auschwitz ermordeten Verwandten und ihrer späten Integration in eine Stadtgesellschaft, die trotz ihrer statusversessenen Grundhaltung doch immer zu schätzen wusste, welche kulturellen Potentiale Einwanderer aus aller Herren Länder an den Hudson und den East River bringen. Von wo sie dann - verändert, oft ein bisschen missverstanden, aber immer mit neuem Glanz versehen - wieder in die Welt ausstrahlen.
STEPHAN WACKWITZ
Christoph Ribbat:
"Die Atemlehrerin". Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 191 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beim Körper muss man die Psyche zu nehmen wissen: Christoph Ribbat folgt dem Leben der Atemlehrerin Carola Spitz
Die Vereinigten Staaten erfinden sich durch die Einwanderung von Menschen und Ideen. Vitalität und Ausstrahlungskraft der amerikanischen Kultur verdanken sich einer Bumerang-Bewegung, die der Kunsthistoriker und ehemalige Chefkurator des MoMA Kirk Varnedoe anhand der popmusikalischen Entlehnungsdialektik erläutert hat: "Man sende ein paar Rhythm-and-Blues-Singles von Muddy Waters, John Lee Hooker und Bo Didley in die Welt, und ein paar Jahre später bekommt man Mick Jagger und John Lennon zurück." Das gilt für Musik und Kunst, aber auch für entlegenere Kulturgebiete. So ist zum Beispiel die Kultur leiblich orientierter Psychotherapien, die, von Amerika ausgehend, in den achtziger Jahren in Europa und besonders in Deutschland bis weit in das Alltagsleben und das Selbstbild breiter Bevölkerungsschichten Einfluss gewannen, in Wahrheit ein transatlantisches Rückspiel gewesen. Gestalttherapie, Rolfing, Bioenergetik, Urschreitherapie, Transaktionsanalyse: All das kam zwar aus Amerika, aber nur deshalb, weil es zuvor verkannt und dorthin ausgewandert war.
Schon in der ersten Generation der Schüler Sigmund Freuds sind - bei Otto Rank zum Beispiel, bei Sándor Ferenczi und vor allem bei Wilhelm Reich - körperpsychoanalytische Motive aufgetaucht, die den langwierigen, intellektuell anspruchsvollen und teuren Heilungsprozess der klassischen Psychoanalyse - freies Assoziieren, Erinnern und Durcharbeiten auf der Couch - durch eine Wendung zum psychischen Ausdruckswert körperlicher Symptome abzukürzen versuchten. Die seelische Störung wurde in bestimmten Körperhaltungen oder -spannungen aufgespürt und durch Übungen therapiert, die aus der im Umfeld der Lebensreformbewegung entstandenen Gymnastik- und Leibesertüchtigungskultur entlehnt und weiterentwickelt wurden.
Das Berlin der zwanziger Jahre war ein Zentrum dieses auch modisch und kosmetisch relevanten Spin-offs der Psychoanalyse. Anna Müller-Herrmann und Elsa Gindler leiteten bekannte und florierende Gymnastikschulen, wo mit Hilfe von "Körperarbeit", Atemübungen und durch Vorformen dessen, was auf Amerikanisch später "awareness training" heißen sollte, auf psychische Verspannungen eingewirkt wurde. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurden diese Bestrebungen von der faschistischen "Kraft-durch-Freude"-Industrie aufgesogen. Waren die Anhänger der neuen Bewegung politisch links eingestellt oder jüdisch, wurden sie ins Ausland, vor allem in die Vereinigten Staaten vertrieben. Dort lieferten sie zentrale Beiträge zum Entstehen jener humanistischen und körperzentrierten Psychotherapie, die in den achtziger Jahren als kulturhistorischer Bumerang wieder nach Deutschland zurückkehrte.
Das Buch "Die Atemlehrerin" des in Paderborn lehrenden Amerikanisten Christoph Ribbat verfolgt diese transatlantische Ping-Pong-Partie am Schicksal einer in Deutschland vergessenen Protagonistin der körperzentrierten Arbeit, der jüdischen Tänzerin und Gymnastiklehrerin Carola Joseph, die nach ihrer Heirat Carola Spitz hieß. Im Berlin der zwanziger Jahre war sie eine der vielzitierten "neuen jungen Frauen" der Zeit. Sie ist in dem Film "Wege zu Kraft und Schönheit" heute noch auf Youtube zu bestaunen. Nach ihrer Emigration betrieb sie am New Yorker Central Park West unter dem Namen Carol Speads jahrzehntelang eine Schule für Atemtechnik und "bodily awareness". Schließlich veröffentlichte sie 1978 den einflussreichen Longseller "Ways to Better Breathing".
Zentrum ihres späteren Lebenslaufs war ein traumatischer Konflikt. Ihre Jugendfreundin Charlotte Selver, mit der sie ihr "Studio of Physical Re-Education" in den vierziger Jahren begründet und betrieben hatte, wandte sich zu Beginn der fünfziger Jahre von der Tradition der körperlichen "Arbeit" ab und schloss sich dem berühmten Esalen-Institut im kalifornischen Big Sur an. Selver wurde damit ein Teil der amerikanischen Kulturgeschichte, Carol Speads blieb eine relativ unbekannte Gymnastik-, Achtsamkeits- und Atemlehrerin in Manhattan. Sie starb 1999, ihre Rivalin (mit 102 Jahren) 2003.
Es gelingt Christoph Ribbat in seinem erzählerisch mitunter fahrigen Buch nicht recht, die Leistung Carol Speads' für die sich nun ausdifferenzierende Bewegung der körperzentrierten Psychotherapie und des allseitigen transatlantischen Seelentrainings herauszuarbeiten. Ihr Beitrag scheint in einer eher nüchternen und medizinisch orientierten Fortführung der ursprünglichen Berliner Intentionen gelegen zu haben, die sich fernhielt von den esoterischen Ambitionen und ganzheitlichen Weltveränderungsideen von Big Sur.
Einen plausiblen Gedanken, von dem aus dieses Leben für ein zeitgenössisches Publikum faszinierend zu machen wäre, bekommt Ribbat nicht zu fassen. Abgesehen davon, dass er auf eine vergessene Nebenfigur körperzentrierter Psychotherapie aufmerksam macht, liegt eine Stärke seines Buchs in der atmosphärisch dichten Beschreibung der Lebenswelt deutscher Emigranten im New York der fünfziger Jahre: der Härten ihrer Ankunft, ihrer Kulturschocks, ihres Familienlebens, ihres Heimwehs, ihrer Trauer über die in Auschwitz ermordeten Verwandten und ihrer späten Integration in eine Stadtgesellschaft, die trotz ihrer statusversessenen Grundhaltung doch immer zu schätzen wusste, welche kulturellen Potentiale Einwanderer aus aller Herren Länder an den Hudson und den East River bringen. Von wo sie dann - verändert, oft ein bisschen missverstanden, aber immer mit neuem Glanz versehen - wieder in die Welt ausstrahlen.
STEPHAN WACKWITZ
Christoph Ribbat:
"Die Atemlehrerin". Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 191 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Vor allem aber lernt man von diesem originellen und elegant erzählten Buch des Amerikanisten Christoph Ribbat, dass die Techniken der Achtsamkeit ... auch von zwei jüdischen Emigrantinnen aus Berlin nach Amerika gebracht [wurden].« Johan Schloemann Süddeutsche Zeitung 20200310