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Flucht und Integration gehören zu den beherrschenden Themen der Gegenwart. Sie sind ein maßgeblicher Grund für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und drohen, die EU zu spalten. Ein Blick in die Tiefen der Geschichte relativiert allerdings die »Flüchtlingskrise« des Jahres 2015. Seit 1492 die sephardischen Juden von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden, ist Europa immer ein Kontinent der Flüchtlinge gewesen.
Philipp Ther geht den Gründen der Flucht nach: religiöser Intoleranz, radikalem Nationalismus und politischer Verfolgung. Anhand von Lebensgeschichten veranschaulicht er
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Produktbeschreibung
Flucht und Integration gehören zu den beherrschenden Themen der Gegenwart. Sie sind ein maßgeblicher Grund für den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und drohen, die EU zu spalten. Ein Blick in die Tiefen der Geschichte relativiert allerdings die »Flüchtlingskrise« des Jahres 2015. Seit 1492 die sephardischen Juden von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden, ist Europa immer ein Kontinent der Flüchtlinge gewesen.

Philipp Ther geht den Gründen der Flucht nach: religiöser Intoleranz, radikalem Nationalismus und politischer Verfolgung. Anhand von Lebensgeschichten veranschaulicht er die Not auf der Flucht, identifiziert Faktoren für gelingende Integration und erörtert das wiederholte Versagen der internationalen Politik sowie die Lehren, die daraus etwa in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gezogen wurden. Der Humanitarismus ist, wie Ther zeigt, in der Flüchtlingspolitik stets brüchig gewesen. Doch auch wenn heute einmal mehr die Angst vor einem Scheitern der Integration dominiert, haben die Zielländer fast immer von der Aufnahme von Flüchtlingen profitiert. Das belegt insbesondere die deutsche Nachkriegsgeschichte, als gerade die junge Bundesrepublik zu einem Flüchtlingsland wurde.


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Autorenporträt
Philipp Ther, geboren 1967, ist ein deutscher Sozial- und Kulturhistoriker. Nach Stationen u. a. an der FU Berlin, der Viadrina in Frankfurt/Oder, an der Harvard University und am European University Institute in Florenz ist er seit 2010 Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Seine Bücher Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im modernen Europa (2011), Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa (2014) und Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa (2017) wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent u. a. mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2015. 2019 erhielt Philipp Ther den Wittgenstein-Preis, den höchstdotierten Wissenschaftspreis Österreichs.

Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.11.2017

Die Eroberung des eigenen Landes
Ein Buch zur rechten Zeit: Der Historiker Philipp Ther über die Flüchtlingsbewegungen im modernen Europa
Selten waren in der jüngeren Geschichte die Jahre, in denen in Europa keine Völkerschaften unterwegs waren, auf der Flucht vor Krieg und Vertreibung oder auch, weil das Leben an anderen Orten so viel besser zu sein schien als dort, wo man gerade noch zu Hause gewesen war. Im Jahr 1974 begann eine solche Periode der relativen Sesshaftigkeit, nachdem auf Zypern die Vereinten Nationen eine Grenze zwischen den griechischen und den türkischen Bewohnern gezogen hatten, in deren Folge mehr als 150 000 griechische Zyprer in den Süden und knapp 50 000 türkische Zyprer in den Norden geflohen waren.
Nun schien für eine Weile Ruhe zu herrschen – abgesehen von der halben Million Polen, die nach der Ausrufung des Kriegsrechts in den Westen gingen, abgesehen von den Hunderttausenden mit deutschen Vorfahren, die aus der Sowjetunion oder aus Rumänien ins Land ihrer meist weit zurückliegenden ethnischen Herkunft umsiedelten, und abgesehen erst recht von der Massen-Auswanderung aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Der geschichtsphilosophische Optimismus der Nachkriegszeit jedoch war nicht zu beeindrucken. So stabil schienen die Verhältnisse geworden zu sein, dass sich im Zuge der „europäischen Einigungsbewegung“ sogar der Glaube verbreitete, es nehme mit dem Nationalismus bald ein dauerhaftes Ende. Nicht einmal die jugoslawischen Bürgerkriege konnten offenbar, zunächst jedenfalls, diese Hoffnung widerlegen, der Flucht von Hunderttausenden Bosniern, Serben, Montenegrinern oder Kosovo-Albanern in die Staaten der Europäischen Union zum Trotz. Als der Glaube dann doch preisgegeben wurde, spätestens mit dem Beginn der Flüchtlingsbewegungen aus dem Nahen Osten und Nordafrika, war die Wirkung allerdings umso heftiger: Große Teile der europäischen Bevölkerungen scheinen nunmehr in heftiger Leidenschaft für ihre jeweilige Nation und deren einheimisches Volk entbrannt zu sein – und in mindestens ebenso heftiger Abneigung gegen alle mittellosen Menschen, die von irgendwoherkommen und sich in dem Land niederlassen wollen, das die Eingeborenen für ihr eigenes halten.
Der Wiener Historiker Philipp Ther legt in diesem Herbst ein Buch vor, das geeignet wäre, den vielen Menschen, die gegenwärtig ihr Vaterland (welches auch immer) vor den hereindrängenden Fremden schützen möchten, den Boden der Argumentation zu entziehen – wenn sie denn nur zuhören wollten, um vom Verstehen gar nicht erst anzufangen. Jedenfalls ist dieses Werk eine ebenso umfassende wie detaillierte Darstellung der großen Wanderungen, die vom frühen 16. Jahrhundert – der Vertreibung der Muslime aus Spanien – bis in die Gegenwart den gesamten Kontinent prägten. Was man, inspiriert nicht zuletzt von der Geschichtswissenschaft selbst, gern für einen halbwegs stabilen politischen und kulturellen Raum halten möchte, einen Raum zudem, dessen staatliche Gliederung sich über die Jahrhunderte in mehr oder weniger kontinuierlichen Linien vollzog, zerfällt in diesem Buch in eine endlose Zahl von Einzelbewegungen: Der ganze Kontinent stellt sich nun als ein permanentes Durcheinander dar, in dem jede einzelne Bewegung für das Leben von Millionen Menschen steht. Zudem vollziehen sich diese Bewegungen keineswegs nur kontinuierlich – also von der Flucht zur Integration -, sondern stellen sich oft fragmentarisch dar, sie scheitern oder werden zurückgenommen; sie enden ganz anders als ursprünglich gedacht, etwa dann, wenn die Flucht über Jahrzehnte und über mehrere Länder hinweg verläuft.
„Heute sind wir tolerant, morgen fremd im eigenen Land“, singt eine deutschnationale Rockgruppe namens Gigi & Die Braunen Stadtmusikanten, und die Politiker der dazugehörigen und nunmehr im Bundestag vertretenen Partei zitieren manchmal diesen Vers. Bei Philipp Ther lässt sich hingegen lesen, was es historisch mit der Formulierung „fremd im eigenen Land“ auf sich hat, von den Hugenotten (etwa 20 000 Menschen allein nach Preußen) über die Ruhrpolen (knapp eine halbe Million) bis zu den Arbeitsmigranten und deren Nachfahren (zehn Millionen und mehr), wobei selbst so große Zahlen noch übertroffen werden von den mindestens zwölf Millionen „Vertriebenen“ (Sprachgebrauch West) oder „Umsiedlern“ (Sprachgebrauch Ost), die nach dem Zweiten Weltkrieg in den beiden deutschen Staaten unterkamen – als Teil einer militärisch und politisch initiierten Völkerwanderung, die in ganz Europa insgesamt mehr als zwanzig Millionen Menschen ergriff. Das „eigene Land“, das die neuen Deutschnationalen verteidigen wollen, ist eine praktisch gewordene Abstraktion von eher geringer Beständigkeit. Aber bringt man mit einem solchen Argument einen militanten Deutschnationalen von dem Gedanken ab, für Volk und Vaterland den Notstand auszurufen, um die eingebildete Heimat in ihrer kulturellen und womöglich auch ethnischen Reinheit um jeden Preis zu verteidigen?
Ein Historiker kann sagen, was war und was ist. Politisch argumentieren kann er deswegen nicht. Diese Differenz wird hier zu einem Dilemma: Denn selbstverständlich ist Thers Buch ein wissenschaftlich fundierter Einspruch gegen die längst in die politische Praxis übergegangenen nationalen Fantasien, die derzeit nicht nur die sogenannten Rechtspopulisten, sondern auch die bürgerlichen Parteien umtreiben. Doch kommt die Überzeugung, das Vaterland und sein Volk seien etwas Einzigartiges und unbedingt Verehrungswürdiges, sehr gut ohne historische Kenntnisse aus. Mehr noch: Beflügelt von der Überzeugung, die gesamte bürgerliche Politik betrüge die echten deutschen Staatsbürger um die ihnen zustehende privilegierte Behandlung, verstehen die sogenannten Rechtspopulisten den gewählten Staatsapparat und dessen Institutionen als eine Verschwörung von Opportunisten, Karrieristen und Weichlingen.
Als Beleg für diesen Glauben vermag jeder Euro zu dienen, der etwa für die Unterstützung von Flüchtlingen ausgegeben wird: Dieses Geld hätte selbstverständlich einem echten Deutschen zugestanden. Ein solches Verhältnis zur Politik aber versteht sich von Grund auf als moralisch. Und es mündet, nunmehr auf allen Ebenen demokratisch legitimiert, in einen Versuch, die Nation neu zu definieren: „Deutschland zuerst“, wobei das Wort „zuerst“, wie in allen derartigen Fällen, keinen Vergleich mit einem „Zweiten“ oder „Dritten“ markiert, sondern absolut verstanden werden will, als „Deutschland allein“.
An Material zur Erhärtung seines Glaubens fehlt es dem neuen Deutschnationalen deswegen nie. Er muss sich nur umschauen: Wo immer etwas für „die Außenseiter“ getan wird, ist die Nation verraten – und als Verratene erhält sich die Nation, aller Empirie und aller Geschichtswissenschaft zum Trotz, weshalb die überall beschworene „nationale Identität“ denn auch hauptsächlich in Abgrenzungen nach außen besteht und ohne innere Bestimmung behauptet werden kann.
Den sachlichen Ertrag des Buches nimmt dieser Einwand nicht zurück. Aber er relativiert dessen politische Dringlichkeit. Diese Einschränkung gilt besonders für die Passagen, in denen Ther über die Vorteile spricht, die zu gewissen Zeiten mit der Einwanderung von Flüchtlingen verbunden waren, bei den Hugenotten etwa, die in den Ländern, in denen sie sich ansiedelten, zur Entfaltung von Verwaltung und Industrie beitrugen – oder auch bei den Flüchtlingen aus dem Osten, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Westen gekommen waren und dort am Wiederaufbau teilhatten: „Entgegen allen Integrationsängsten waren Flüchtlinge (und andere Migranten) historisch betrachtet fast immer eine Bereicherung für die Länder, die sie aufnahmen.“ Aber wer wollte mitrechnen, wenn fünf Vorteile gegen drei Nachteile abgewogen werden – denn ist, wer so kalkuliert, nicht längst Teil jenes Bewertungsverfahrens, in dem sich die bürgerlichen Parteien und die neuen Deutschnationalen einig sind, nur dass sie dafür unterschiedliche Kriterien kennen?
Die Einschränkung gilt mehr noch, wenn abgewogen wird, unter welchen Bedingungen eine Integration gelingt. Ein offener Arbeitsmarkt erweist sich als nützlich, ferner eine Solidarität zwischen den aufnehmenden und den ankommenden Völkerschaften, sei diese nun politischer, kultureller oder ethnischer Art, belastbare soziale Netze unter den Flüchtlingen – lauter Verhältnisse mithin, die gegenwärtig eher selten zu finden sind. All diese Befunde mögen historisch richtig sein. Sie behandeln aber das Gegebene als das Normative und provozieren eine politische Interpretation, die Flüchtlinge nach Opportunitäten sortiert, während die Flucht einer solchen Bewertung eben nicht unterliegt.
Und so ist es zwar richtig, wenn Philipp Ther erklärt, politische und ökonomische Gründe einer Flucht seien oft kaum auseinanderzuhalten. Genauso richtig aber ist auch, dass Armut sehr wohl ein Grund ist, die Sachen zu packen und in ein anderes Land zu gehen – und dass die Beurteilung einer Flucht nach Maßgabe der Arbeitsmöglichkeiten im neuen Land allenfalls eine sekundäre Überlegung darstellt.
Zu Recht schreibt Philipp Ther im Vorwort, Flüchtlinge seien „schon immer als Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Probleme ge- und missbraucht“ worden. Viele der Feinde, die Flüchtlinge in Deutschland haben, kommen ohne persönliche Erfahrungen aus, selbst Migranten betreffend. Für ihre Idee, man bräuchte eine von Grund auf erneuerte deutsche Nation, müssen sie nicht kennen, was sie für grundsätzlich fremd halten wollen. Wichtiger als von den Vorteilen der Einwanderung zu reden, erscheint es deswegen, diesem Nationalismus zu widersprechen und zu erklären, warum damit welche Interessen verfolgt werden. Philipp Thers Buch über die Geschichte der Flüchtlinge im modernen Europa liefert Stoff für eine solche Diskussion. Wirklich entstehen aber muss sie erst noch.
THOMAS STEINFELD
Große Teile der europäischen
Bevölkerungen sind derzeit für
ihre jeweilige Nation entbrannt
Wichtiger, als von den Vorteilen
der Einwanderung zu reden, ist
die Kritik des Nationalismus
Der Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur Joachim Meyerhoff.
Foto: Sepp Dreissinger/Abbildung aus dem besprochenen Band
Philipp Ther: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 438 Seiten, 26 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2018

Humanitarismus allein wird kaum reichen

In politischer Mission: Der Historiker Philipp Ther will aus seiner Geschichte von Flucht und Migration Lehren für die Gegenwart ziehen.

Der Osteuropa-Historiker Philipp Ther hat in seinem Buch über "Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa" eine Fülle historischer Erkenntnisse zusammengetragen, die das Elend von Flucht und Vertreibung der zurückliegenden fünf Jahrhunderte nochmals vor Augen führt. In den Text eingewoben sind Biographien prominenter und unbekannter Flüchtlinge, die den jeweiligen Kontext illustrieren sollen. Drei Viertel des Buches sind in erster Linie den Flüchtlingen vor religiöser Intoleranz, Flucht aufgrund "ethnischer Säuberungen" und politischen Flüchtlingen gewidmet. Regional reichen die Darstellungen über Europa hinaus bis ins Osmanische Reich, die Sowjetunion, nach Syrien und Israel. Unübersehbar ist dabei vor allem, dass die von Ther geschilderte Aufnahme von Flüchtlingen in fundamental anderen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen stattfand, als das heute der Fall ist. Unbesiedelte Weiten, absolutistische Monarchien, agrarisch geprägte Gesellschaften ließen unvergleichbar andere Handlungsoptionen zu - sowohl seitens der Migranten als auch seitens der jeweiligen Herrscher.

Philipp Ther ist ein linksliberaler Historiker mit politischer Mission. Geschichtsschreibung dient ihm als Arsenal pädagogisch dienlicher Lehrstücke. So hebt er immer wieder hervor, dass die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen - wie den Hugenotten aus Frankreich, den politischen Gegnern der Bolschewisten oder den Juden aus Deutschland und den von ihm besetzten Gebieten - einen erheblichen und lang anhaltenden Gewinn für die Aufnahmeländer bedeutete. Das gilt insbesondere für die klassischen Einwanderungsländer, die selbst Flüchtlinge häufig nach Kriterien der "Nützlichkeit" auswählten und dies auch heute noch tun.

Bezüge zur Gegenwart sind dann gerechtfertigt, wenn sie inhaltlich plausibel sind und die moralisierende Attitüde nicht überhandnimmt. Tatsächlich wirken bei Ther die häufigen Querverweise zu aktuellen Gegebenheiten in vielen Fällen assoziativ und inhaltlich nicht haltbar. So werden die Verteilungsquoten zwischen den deutschen Ländern ("Königsteiner Schlüssel") mit den freiwilligen Zusagen zur Aufnahme ungarischer Flüchtlinge 1956 und der mangelnden Bereitschaft vieler EU-Mitgliedstaaten in Zeiten der Flüchtlingskrise 2015 in Zusammenhang gebracht, was eher zur Verwirrung als zur Klärung von Zusammenhängen beiträgt. Je näher der Historiker der Gegenwart kommt, desto unsicherer wird das Terrain, auf dem er sich bewegt. Der "Asylkompromiss" der Jahre 1992/93 sei "nichts anderes (...) als ein Kompromiss zur Abwehr von Flüchtlingen" gewesen. Das ist zumindest eine sehr einseitige Sichtweise. Mit Art. 16a Abs. 5 des Grundgesetzes und der daraus folgenden gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen anderer Mitgliedstaaten als gleichwertig machte der deutsche Gesetzgeber immerhin den Weg frei für eine europäische Gesamtregelung und damit zum "Gemeinsamen Europäischen Asylsystem".

Der erhobene Zeigefinger scheint allgegenwärtig und geht selbst in das häufig beklagte Stammtischniveau über: "All jene (...), die spätestens seit der Kölner Silvesternacht 2015/16 auf der ,Willkommenskultur' herumhacken, müssen sich fragen lassen, welche Ziele sie eigentlich anstreben. Soll in Umkehrung des Jahres 2015 eine ,Unwillkommenskultur' geschaffen werden?" Auch die unvermeidliche Reduktion von Komplexität kann solche polemischen Trivialisierungen nicht rechtfertigen. Die kollektiven sexuellen Übergriffe in Köln durch überwiegend aus Nordafrika stammende, alkoholisierte Migranten haben die Schattenseiten und unbeabsichtigten Nebenwirkungen unkontrollierter Zuwanderung ins Bewusstsein gehoben und zu einer Ernüchterung nach der Euphorie des Jahres 2015 beigetragen - nicht mehr und nicht weniger.

Der kürzeste und - was schwerer wiegt - inhaltlich schwächste Teil des Buches gilt der Integration. Gleich zu Beginn des Buches befasst sich Ther auf sechs Seiten mit dem Thema. Er kommt allerdings über die Reproduktion kurrenter Phraseologie nicht hinaus. Die Breite und Tiefe der internationalen sozialwissenschaftlichen Forschung zu Integration und Assimilation von Migranten ist ihm offensichtlich nicht präsent. Der Titel des Buches verspricht daher zu diesem Thema wesentlich mehr, als er einlösen kann. Ther bedient sich zudem sprachlicher Manipulationstechniken, indem er die Skepsis hinsichtlich möglicher Integrationserfolge von Zuwanderern durchgängig als irrationale "Ängste" bezeichnet. Unterstellt wird damit, dass eine rationale Begründung dieser Vorbehalte von vornherein unmöglich sei.

Die These Philipp Thers, dass Migranten, "historisch betrachtet, fast immer eine Bereicherung für die Länder, die sie aufnahmen, und ein Motor wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Veränderungen" gewesen seien, ist zumindest mit Blick auf die Lage in den Nachbarländern Deutschlands (wie Frankreich, Belgien, Niederlande) in ihrer Pauschalität so nicht zutreffend. Hinzu kommt, dass sich Migration auf die sozialen Schichten und Regionen (Stadt/Land, strukturschwach/wirtschaftsstark) höchst unterschiedlich auswirkt und es in den Zielländern von Migration durchaus Verlierer und Gewinner gibt.

Doch welche Lehren sind aus den zahlreichen Flüchtlingsbewegungen, die Philipp Ther analysiert, zu ziehen? Bei der Analyse der politischen Konflikte auf der Ebene der Europäischen Union sowie der gesellschaftspolitischen Verschiebungen in den Mitgliedstaaten bleibt die Analyse blass. Legt man etwa Ivan Krastevs Essay "Europadämmerung" neben Thers Buch, wird unübersehbar, wie wenig westeuropäische Linksintellektuelle die tektonischen Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge vor allem der mittel- und osteuropäischen Staaten erfassen. Die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 spaltet die EU wie kein anderes Thema. Der Vorwurf mangelnder Solidarität, den auch Ther erhebt, greift nicht. Die tief verunsicherten postsozialistischen Transformationsgesellschaften sehen Solidaritätspflichten unter nationalen, ethnischen und religiösen Bezügen. Der kosmopolitische "Humanitarismus", auf den sich Ther beruft, erscheint ihnen als Bedrohung und als Überforderung. Wer weiterführende, neue Denkanstöße erwartet, wie diese Spaltung überwunden werden kann, wird von diesem Buch Philipp Thers enttäuscht sein.

STEFAN LUFT

Philipp Ther: "Die Außenseiter". Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 437 S., geb., 26,- [Euro].

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»Ein Buch, das zeigt, wie wichtig der geschichtliche Blick ist, um das Heute gelassener zu analysieren. Eines der besten Sachbücher des Jahres.« Eva Thöne SPIEGEL ONLINE 20171214